Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Mi 26. Mai 2010, 16:43

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:das ist das Drehen eines Mantras durch die Gebetsmühle. Wahlweise ein Glaubensbekenntnis.

In der Philosophie geht es um Glauben und nicht um Wissen.

gerechtfertigten Glauben?

Myron hat geschrieben:(Das heißt nicht, dass alle philosophischen Ansichten grundsätzlich gleichwertig sind.)

Wird das Problem, das ich angesprochen habe, dadurch kleiner?
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » Mi 26. Mai 2010, 18:23

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:das ist das Drehen eines Mantras durch die Gebetsmühle. Wahlweise ein Glaubensbekenntnis.


In der Philosophie geht es um Glauben und nicht um Wissen.
(Das heißt nicht, dass alle philosophischen Ansichten grundsätzlich gleichwertig sind.)


In der Philosophie wird nicht notwendigerweise weniger gewusst, als in anderen kognitiven (z. B. naturwissenschaftlichen) Feldern.

Man sollte mit Hubert Schleichert den Begriff "Glauben" auch nicht für Beliebiges reservieren, sondern nur für den Glauben gegen die Vernunft. In der akademischen Philosophie wird weniger geglaubt als vielmehr auf Wissen rekurriert. Der ontologische Naturalismus ist eine philosphische, gleichwohl aber eine wohl begründete Position: Wir wissen, dass wir in einer kausal strukturierten Welt leben. Wer eine andere Welt postuliert, die diesem Erfahrungssatz widerspricht, muss das begründen. Das heißt es liegt eine Begründungsasymmetrie vor. Wer den Naturalismus als "Glaubensbekenntnis" charakterisiert, verschleiert diese Asymmetrie und outet sich zugleich als philosophischer Banause, weil er auf der Basis der versteckten ontologischen Annahme, die Existenz des Transnaturalen sei auch nur halbwegs plausibel, ein Scheinproblem skizziert. Ja, klar: Falls das Transnaturale tatsächlich evident wäre, wäre der ontologische Naturalismus ein Glaubensbekenntnis sensu Schleichert. Dann, und nur dann, wäre diese Charakterisierung gerechtfertigt. Dass es existiert, wäre allerdings erst zu beweisen.
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 18:49

darwin upheaval hat geschrieben:Das kommt darauf an, von welcher Art die supranaturalische Beeinflussung sein soll. "Zweitursache" ist noch okay, weil sie nicht als Antithese zu kausalen Erklärungen aufgeboten wird.


"A somewhat different approach to the issue of God's action in the world can be based on the writings of the leading medieval theologian Thomas Aquinas. Aquinas's conception of divine action focuses on the distinction between primary and secondary causes. Accoding to Aquinas, God does not work directly in the world, but through secondary causes.
The idea is best explained in terms of an analogy. Suppose we imagine a pianist, who is remarkably gifted. She possesses the ability to play the piano beautifully. Yet the quality of her playing is dependent upon the quality of the piano with which she is provided. An out-of-tune piano will prove disastrous, no matter how expert the player. In our analogy the pianist is the primary cause, and the piano the secondary cause, for a performance of, for example, a Chopin nocturne. Both are required: each has a significantly different role to play. The ability of the primary cause to achieve the desired effect is dependent upon the secondary cause which has to be used.
Aquinas uses this appeal to secondary causes to deal with some of the issues relating to the presence of evil in the world. Suffering and pain are not to be ascribed to the direct action of God, but to the fragility and frailty of the secondary causes through which God works. God, in other words, is to be seen as the primary cause, and various agencies within the world as the associated secondary causes.
For Aristotle (from whom Aquinas draws many of his ideas), secondary causes are able to act in their own right. Natural objects are able to act as secondary causes by virtue of their own nature. This view was unacceptable to theistic philosophers of the Middle Ages, whether Christian or Islamic. For example, the noted Islamic writer al-Ghazali (1058-1111) held that nature is completely subject to God, and it is therefore improper to speak of secondary causes having any independence. God is to be seen as the primary cause who alone is able to move other causes. A similar idea is found in Aquinas, who argues that God is the 'unmoved mover,' the prime cause of every action, without whom nothing could happen at all. (…)
The theistic interpretation of secondary causes thus offers the following account of God's action in the world. God acts indirectly in the world through secondary causes. A great chain of causality can be discerned, leading back to God as the originator and prime mover of all that happens in the world. Yet God does not act directly in the world, but through the chain of events which God initiates and guides.
It will thus be clear that Aquinas's approach leads to the idea of God initiating a process which develops under divine guidance. God, so to speak, delegates divine action to secondary causes within the natural order. For example, God might move a human will from within so that someone who is ill receives assistance. Here an action which is God's will is carried out indirectly by God—yet, according to Aquinas, we can still speak of this action being 'caused' by God in some meaningful way."


(McGrath, Alister E. Christian Theology: An Introduction. 4th ed. Malden, MA: Blackwell, 2007. pp. 220-21)

Aha, es gibt also zwei Formen des interventionistischem Theismus: direkter Interventionismus vs. indirekter Interventionismus. (Letzterer ist nicht mit den antiinterventionistischen Deismus gleichzusetzen, dem zufolge Gott nach der Urschöpfung weder direkt noch indirekt in das Weltgeschehen eingreift.)
Wenn ich es richtig verstehe, dann benutzt Gott seine Geschöpfe also bisweilen als Marionetten seines Willens, die diesen durch ihr Handeln indirekt verwirklichen.
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 18:57

darwin upheaval hat geschrieben:Wenn sich jemand wie Hemminger nicht mehr über Evolution und Kreationismus äußern darf, dann sollten Reinhard Junker und W.-E. Lönnig erst Recht die Klappe halten, wenn sie sich über wissenschaftliche, vor allem evolutionsbiologische Dinge äußern, weil die noch weit mehr "Partei" sind. Du solltest dazu stehen, dass die eine Pseudowissenschaft vertreten, weil sie den wissenschaftlichen Naturalismus verdrehen. Und vor allem sollest Du Dawkins' "Gotteswahn" in den Himmel loben. Zu all dem solltest Du Dich genauso unverblümt und öffentlich bekennen, wie dazu, dass Du Hemminger, Beyer etc. für Lügner hältst.


Wenn es um den philosophisch-politischen Kampf gegen die IDler geht, dann ist eine diesbezügliche Koalition mit den Anti-IDlern unter den Theisten ganz im Sinne der Brights-Bewegung. Brights und Supers dürfen ungeachtet aller das Große und Ganze betreffenden weltanschaulichen Differenzen sehr wohl zusammenarbeiten, wenn es um die Erreichung gemeinsamer Einzelziele geht.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 19:12

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Eigentlich ist "Es gibt nichts Übernatürliches" aus naturalistischer Sicht als zeitlos gültige Aussage aufzufassen:
"Es hat in der Vergangenheit nichts Übernatürliches gegeben, es gibt in der Gegenwart nichts Übernatürliches und es wird auch in der Zukunft nichts Übernatürliches geben."

Du hättest dazu schreiben sollen, dass es sich hier um ein ontologisches Sparprogramm handelt, das selbstverständlich unter Fallibilitätsvorbehalt steht (methodologisch erzwungene, ontologische "Nullhypothese"). Sonst kann E.S. seinen Strohmann mit der Fehletikettierung "ontologischer Naturalismus" wieder aus der Mottenkíste holen, wie er es ja wieder getan hat.


Was meinst du mit "Sparprogramm"?
Ich denke nicht, dass die (natur-)wissenschaftliche Methodologie einen zur Anerkennung des ontologischen Naturalismus zwingt. Denn, wie gesagt, ein (wie ich es nenne) "kausalistischer Als-ob-Naturalismus" (nach dem Motto: "Wir tun so, als ob die Natur in sich kausal geschlossen wäre!") ist mit dem Supernaturalismus vereinbar, und selbst ein "kausalistischer Nicht-nur-als-ob-Naturalismus" ist zumindest mit dem antiinterventionistischen Supernaturalismus vereinbar, d.h. mit der Ansicht, dass es eine Übernatur gibt, die die Natur aber nicht beeinflusst.

Außerdem ist es, wie gesagt, so, dass fast alle ontologischen Naturalisten ihre Ansicht für unnotwendigerweise wahr erachten. Das heißt, sie räumen ein, dass es mögliche Welten gibt, worin der Naturalismus falsch ist. Sie verneinen natürlich, dass unsere wirkliche Welt eine Welt ist, worin er falsch ist.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Mi 26. Mai 2010, 19:21

Myron hat geschrieben:Außerdem ist es, wie gesagt, so, dass fast alle ontologischen Naturalisten ihre Ansicht für unnotwendigerweise wahr erachten. Das heißt, sie räumen ein, dass es mögliche Welten gibt, worin der Naturalismus falsch ist. Sie verneinen natürlich, dass unsere wirkliche Welt eine Welt ist, worin er falsch ist.

vergiss nicht, dass Darwin Upheaval von der akademischen Philosophie spricht. Die Autoren, die Du kennst, spielen vermutlich in einer anderen Liga.
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 19:39

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Noch einmal, das naturalistische Minimalgebot lautet also:
"Verhalte dich in deiner Rolle als Naturwissenschaftler bei deiner naturwissenschaftlichen Forschung so, wie wenn es nichts Übernatürliches gäbe!"
Das möchte ich definitiv nicht "ontologischer Naturalismus" nennen—nicht einmal "schwacher ontologischer Naturalismus"

Nun, das aber ist genau der Fall. Denn hinter dem "Verhalten" steckt nichts anderes als die ontologische Annahme, dass die Welt durchgehend kausal strukturiert ist.


Gut, die These der kausalen Geschlossenheit der Natur ist gewiss eine metaphysische These.
Von einer ontologischen These spreche ich, wenn eine Aussage darüber getroffen wird, was es gibt bzw. was es nicht gibt.
Und der ontologische Naturalismus trifft eine Allaussage: Es gibt nichts Nichtnatürliches <–> Alles ist natürlich.
Das, was ich kausalistischer oder, kürzer, kausaler Naturalismus nenne (d.i. die These der kausalen Geschlossenheit der Natur), impliziert nach meiner Auffassung nicht per se den ontologischen Naturalismus, was umgekehrt schon der Fall ist.

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:—, da es sowohl mit dem Supernaturalismus als auch dem agnostischen Naturalismus (Nonsupernaturalismus) [* vereinbar ist.

Nein, die Position ist mit dem Supranaturalismus nicht vereinbar. Überall dort, wo jemand supranaturalistische Akte postuliert, wird die wissenschaftliche Methodologie gesprengt.


Als Philosoph denke ich nicht als Erstes an die wissenschaftliche Methodologie und deren Probleme. Der philosophische Naturalismus reduziert sich in meinen Augen nicht auf einen bloßen "Naturwissenschaftsismus" ("Naturaloszientismus").

Und, wie gesagt, ich könnte als naturwissenschaftlich tätiger Supernaturalist durchaus sowohl an eine Übernatur als auch an die kausale Geschlossenheit der Natur glauben, solange ich davon ausginge, dass die natürlichen Wesen und die übernatürlichen Wesen sozusagen jeweils unter sich bleiben.
(Auch wenn ein übernatürliches Wesen wie Gott nur indirekt und sporadisch ins Naturgeschehen eingreifen würde, wäre damit die Geschlossenheitsthese streng genommen falsch. Wie gesagt, der indirekt-interventionistische Theismus ist vom antiinterventionistischen Deismus verschieden.)
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 20:44

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Dass der Naturalismus mit dem Glauben an konkrete immaterielle Objekte unvereinbar ist, ist völlig klar; doch es stellt sich die Frage, ob er auch mit dem Glauben an abstrakte immaterielle Objekte unvereinbar ist.

Nur der Materialismus (der den Naturalismus einschließt) schließt immaterielle Dinge aus, nicht per se der Naturalismus.


Auch der Naturalismus schließt alle immateriellen Substanzen aus. (Substanzen sind per definitionem konkrete Objekte.)
Das heißt, der Naturalismus enthält zumindest den Substanzmaterialismus, welcher in der Verneinung des Daseins von Seelen und Geistern als selbstständigen unkörperlichen Wesen besteht.

darwin upheaval hat geschrieben:Im übrigen sind Abstrakta immer immateriell und umgekehrt.


Nein, umgekehrt gilt das nicht, denn eine immaterielle Seele ist ein Konkretum.

darwin upheaval hat geschrieben:"Die Fünf" beispielsweise ist kein konkretes Ding, sondern ein abstraktes Objekt.


Ja, wenn sie existiert, dann ist sie ein abstraktes Objekt.

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Muss ein Naturalist in Bezug auf Abstrakta ein genereller Nominalist sein, oder kann er zumindest einige abstrakte Objekte für existent erachten?

Ja sicher.


Dass der Naturalismus nicht unbedingt konkretistisch ausgerichtet sein muss, ist alles andere als sicher.
Denn mit Dingen, die weder körperliche noch geistige Dinge oder/und weder räumlich noch zeitlich verortete Dinge sind, tut sich der Naturalismus sehr schwer. Denn es stellt sich die Frage, in welchem Sinne man abstrakte Entitäten als Teile des Raumzeitsystems betrachten kann, wobei man hier kein Pauschalurteil fällen sollte, da ja mehrere Kandidaten infrage kommen:

1. Mathematische Objekte: Zahlen, Mengen/Klassen, Funktionen, usw.

2. Tranzendente, "platonische" Universalien (Eigenschaften, Beziehungen, Arten)

3. Begriffe

4. Aussagen (Propositionen), Sachverhalte

5. Bedeutungen (Intensionen)

6. Linguistische/semiotische Typen

7. Kunstwerke/Spiele/Sportarten

8. Mögliche Welten (im nicht-Lewis'schen Sinne)

9. Gesetze

Eines ist klar: Transzendente, d.h. außerraumzeitliche, raumzeitunabhängige Abstrakta wie 2 kommen grundsätzlich nicht infrage. Und auch der mathematische Platonismus, dem zufolge mathematische Abstrakta außerraumzeitliche und geistunabhängige Entitäten sind, ist aus dem Rennen.
Ein großes Problem bei der Sache ist, dass es keine von allen Philosophen anerkannten Definitionen von "konkret" und "abstrakt" gibt. (Siehe: http://plato.stanford.edu/entries/abstract-objects)
In einem sind sich allerdings alle einig: Abstrakte Objekte sind weder physische noch psychische Objekte.
Der Knackpunkt betrifft ihr Verhältnis zu Raum und Zeit sowie zu den konkreten raumzeitlichen Dingen.
Folgende logische Optionen stehen zur Auswahl:

1. Abstrakta sind weder im Raum noch in der Zeit verortet.
2. Abstrakta sind sowohl im Raum als auch in der Zeit verortet.
3. Abstrakta sind im Raum, aber nicht in der Zeit verortet.
4. Abstrakta sind in der Zeit, aber nicht im Raum verortet.
5. Abstrakta sind von raumzeitlich verorteten Konkreta ontisch abhängig (seinsabhängig).
6. Abstrakta sind von raumzeitlich verorteten Konkreta ontisch unabhängig (seinsunabhängig).
7. Abstrakta sind von raumzeitlich verorteten Konkreta genetisch abhängig (werdensabhängig). [*
8. Abstrakta sind von raumzeitlich verorteten Konkreta genetisch unabhängig (werdenunsabhängig).

[* "Xe sind von Ys genetisch abhängig" bedeutet: "In keiner möglichen Welt existieren Xe, die nicht von Ys erschaffen/erzeugt/hervorgebracht worden sind"]

Tja, welchen dieser Bedingungen müssten naturalistisch akzeptable Abstrakta genügen?
Ich tendiere zu 4+5+7.
Jetzt kann man sich die obige Kandidatenliste anschauen und überlegen, welche Arten von Abstrakta diesen drei Bedingungen genügen!

darwin upheaval hat geschrieben:
Die Fünf ist ja existent, aber eben nur in unseren Gehirnen. Der Fünf haftet auch nichts Übernatürliches an.


Tja, das ist die Frage!
Erstens, viele Naturalisten verneinen als Nominalisten die Existenz der Fünf. Zweitens, wenn die Fünf existiert, wie kann sie dann gleichzeitig in den vielen verschiedenen Gehirnen gegenwärtig sein? Ich bezweifle, dass sie die Fähigkeit zur Multilokation besitzt. Und macht es überhaupt Sinn, einer Zahl einen Ort im Raum zuzuschreiben. Drittens, es ist zu unterscheiden zwischen der Zahl 5 und der Ziffer, dem Zahlzeichen "5" (wobei wiederum auch bei Zahlzeichen zwischen konkreten tokens und abstrakten types zu unterscheiden ist). Wenn ich an die Zahl 5 denke oder mit ihr gedanklich rechne, dann kann man sagen, dass ich ein konkretes Exemplar der Ziffer "5" in meinem Kopf/Geist habe, das die Zahl 5 repräsentiert. Aber selbst aus realistischer Sicht kann man nicht sinnvoll behaupten, dass sich auch die Zahl 5 selbst darin befindet. Denn wenn die Zahl 5 existiert, dann befindet sie sich wohl nirgendwo.

Wie du siehst, ist das mit den Abstrakta für uns Naturalisten eine verdammt knifflige und komplizierte Angelegenheit.
Die simpelste und konsequenteste Entscheidung ist diejenige zugunsten des Nominalismus in Bezug auf Abstrakta (= Konkretismus/Konkretionismus) oder des Fiktionalismus (der auch nominalistisch ist):
http://plato.stanford.edu/entries/nomin ... etaphysics
http://plato.stanford.edu/entries/fictionalism
http://plato.stanford.edu/entries/ficti ... athematics
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon smalonius » Mi 26. Mai 2010, 20:52

(X-Post. War als Antwort auf Myrons vorletzen Beitrag gedacht.)

Was für die Gläubigen die jeweiligen Schöpfungsberichte sind, ist für den Naturwissenschaftler die Kosmologie.

Physikalisch gesehen geht der Weg vom Einfachen zum Komplexen. Es gibt mehrere naturwissenschaftliche Ansätze, die Existenz der Welt zu erklären. Aber es gibt keinen einzigen Ansatz, der die Existenz eines oder mehrerer Götter erklärt, denn das wäre ein Weg vom Komplexen zum Einfachen.

Edward Tyron hat mal gesagt, das Universum ist eines der Dinge, die von Zeit zu Zeit einfach geschehen. Über Götter läßt sich sowas nicht sagen, da führt kein Weg hin. Deshalb ist Naturwissenschaft und Schöpfungsglaube unvereinbar.
Zuletzt geändert von smalonius am Mi 26. Mai 2010, 20:54, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 20:53

El Schwalmo hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:In der Philosophie geht es um Glauben und nicht um Wissen.

gerechtfertigten Glauben?


Natürlich soll man seinen philosophischen Glauben möglichst vernünftig gestalten und möglichst gut begründen.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 20:56

El Schwalmo hat geschrieben:vergiss nicht, dass Darwin Upheaval von der akademischen Philosophie spricht. Die Autoren, die Du kennst, spielen vermutlich in einer anderen Liga.


Was meinst du damit?
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Mi 26. Mai 2010, 20:59

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:vergiss nicht, dass Darwin Upheaval von der akademischen Philosophie spricht. Die Autoren, die Du kennst, spielen vermutlich in einer anderen Liga.


Was meinst du damit?

ich konstatiere, dass Darwin Upheaval immer wieder von 'akademischer Philosophie' redet, vor allem dann, wenn er meint, anderen Menschen zeigen zu sollen, dass sie keine Ahnung von Philosophie haben. Ich frage mich daher immer, was 'akademische Philosophie' ist, und ob Darwin Upheaval ein 'akademischer Philosoph' ist.

Ich vermute, er sollte sich selber dazu äußern.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 21:08

El Schwalmo hat geschrieben:ich konstatiere, dass Darwin Upheaval immer wieder von 'akademischer Philosophie' redet, vor allem dann, wenn er meint, anderen Menschen zeigen zu sollen, dass sie keine Ahnung von Philosophie haben. Ich frage mich daher immer, was 'akademische Philosophie' ist, und ob Darwin Upheaval ein 'akademischer Philosoph' ist.


Falls es mich interessanter macht, kann ich ja verraten, dass auch ich weiß, wie ein philosophisches Uni-Institut von innen aussieht. :/


P.S.: Ich bitte als Moderator der Sachlichkeit halber um Zurückhaltung, was Ad-hominem-Urteile anbelangt!
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 22:44

darwin upheaval hat geschrieben:In der Philosophie wird nicht notwendigerweise weniger gewusst, als in anderen kognitiven (z. B. naturwissenschaftlichen) Feldern.


Ich fürchte dagegen, dass es um (synthetisches) A-priori-Wissen in der Philosophie sehr schlecht bestellt ist.
David Armstrong, selbst einer der größten Metaphysiker der Gegenwart, hat wohl leider recht:

"One moral that I draw is that in the fields of philosophy and religion there is no knowledge. We can only know what our beliefs are. For consider: In these fields there is no consensus of opinion about what is true. People who are intellectually competent to discuss these matters, who have genuinely studied the considerations for and against some view—the existence of God or the existence of universals—who know the arguments, who have read and understood the books and the articles—find themselves in complete disagreement. Surely we should not claim knowledge in these matters. We all have our hopes. Perhaps some of us do have knowledge about these difficult matters. But how can we have any rational assurance that we do have knowledge? It is prudent, and suitable to our nature, to claim no more than belief."

(Armstrong, D. M. "A Naturalist Program: Epistemology and Ontology." Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 73.2 (November 1999): 77-89. p. 82) [PDF-Download]

"We all hold beliefs, [Peter van Inwagen] points out, on matters that go beyond what we might call the rational consensus that is to be found in Moorean knowledge [i.e. bedrock common sense knowledge—my add.], in matters proved in logic and mathematics, and in the securer parts of the natural sciences. ...
I suggest, further, that we should be very chary of making claims to knowledge outside the rational consensus. I deliberately speak of claims. Many claim to know that God, the Christian God let us say, exists. Many would also claim to know that such a God does not exist. (Though I myself, fairly strongly inclining to the atheist position as I do, nevertheless do not claim knowledge that there is no God. To that extent I am an agnostic.) ... I do not think that it is rational for any of the contending persons, in religion or philosophy, publicly to claim knowledge. For though they may know (I am prepared to concede), it is hard to see how they can know that they know. A quiet hope that they really do have knowledge will be best."


(Armstrong, D. M. Truth and Truthmakers. Cambridge: Cambridge University Press, 2004. p. 34-5)

darwin upheaval hat geschrieben:Man sollte mit Hubert Schleichert den Begriff "Glauben" auch nicht für Beliebiges reservieren, sondern nur für den Glauben gegen die Vernunft.


Ich benutze diesen Begriff ganz naiv im unschuldigen Sinne von "Fürwahrhalten", auch wenn im Deutschen "belief" und "faith" in ein einziges Wort gepackt sind. Wissen ist eine Art Glaube, und zwar diejenige, bei der die Möglichkeit eines Irrtums (so gut wie) ausgeschlossen ist.

darwin upheaval hat geschrieben:In der akademischen Philosophie wird weniger geglaubt als vielmehr auf Wissen rekurriert. Der ontologische Naturalismus ist eine philosphische, gleichwohl aber eine wohl begründete Position:…


Natürlich ist ein philosophischer Glaube nicht per se unvernünftig, unbegründet und ungerechtfertigt.
Und wenn sich ein philosophischer Glaube mit wissenschaftlichem Wissen untermauern lässt, umso besser.
(Ein naturalistischer Philosoph wird eh stets darauf achten, dass seine philosophischen Thesen mit den wohlbestätigten Theorien der Erfahrungswissenschaften vereinbar sind.)

darwin upheaval hat geschrieben:Wir wissen, dass wir in einer kausal strukturierten Welt leben.


Was genau bedeutet denn "kausal strukturiert"? Dass jedes raumzeitliche Ereignis eine Ursache hat? Dass jedes raumzeitliche Ereignis eine natürliche Ursache hat? Dass jedes raumzeitliche Ereignis eine physische Ursache hat? Dass kein raumzeitliches Ereignis eine übernatürliche Ursache hat? Dass kein raumzeitliches Ereignis eine hyperphysische Ursache hat?

Wissen wir denn tatsächlich im eigentlichen Sinne des Wortes, dass alle raumzeitlichen Ereignisse ausschließlich natürliche/physische Ursachen haben? Können wir mit Fug und Recht behaupten, dass die vorliegenden naturwissenschaftlichen Beweise alle diesbezüglichen Irrtumsmöglichkeiten beseitigen?
Versteh mich nicht falsch, ich halte den Glauben an die kausale Geschlossenheit der Natur für sehr vernünftig und im Licht der naturwissenschaftlichen Erfahrungen auch für sehr gut begründet, weswegen ich ja daran festhalte; aber ich frage mich dennoch, ob das ausreicht, um einen Wissensanspruch zu erheben. :/
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon darwin upheaval » Mi 26. Mai 2010, 22:45

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Wenn sich jemand wie Hemminger nicht mehr über Evolution und Kreationismus äußern darf, dann sollten Reinhard Junker und W.-E. Lönnig erst Recht die Klappe halten, wenn sie sich über wissenschaftliche, vor allem evolutionsbiologische Dinge äußern, weil die noch weit mehr "Partei" sind. Du solltest dazu stehen, dass die eine Pseudowissenschaft vertreten, weil sie den wissenschaftlichen Naturalismus verdrehen. Und vor allem sollest Du Dawkins' "Gotteswahn" in den Himmel loben. Zu all dem solltest Du Dich genauso unverblümt und öffentlich bekennen, wie dazu, dass Du Hemminger, Beyer etc. für Lügner hältst.


Wenn es um den philosophisch-politischen Kampf gegen die IDler geht, dann ist eine diesbezügliche Koalition mit den Anti-IDlern unter den Theisten ganz im Sinne der Brights-Bewegung. Brights und Supers dürfen ungeachtet aller das Große und Ganze betreffenden weltanschaulichen Differenzen sehr wohl zusammenarbeiten, wenn es um die Erreichung gemeinsamer Einzelziele geht.


Schön, dass wir uns hier einig sind. :2thumbs:

Allerdings möchte ich hinzufügen, dass der "Kampf" (wäre "Auseinandersetzung" nicht treffender?) hierzulande nicht unbedingt "politisch" geführt werden muss, sondern in erster Linie argumentativ. Gottlob sind wir in Europa noch nicht soweit wie in den USA, so dass (zunächst noch) intellektuelle Fingerübungen ausreichend sind.
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon Myron » Mi 26. Mai 2010, 23:15

darwin upheaval hat geschrieben:Schön, dass wir uns hier einig sind. :2thumbs:


Man muss halt im praktischen Leben ein gewisses Maß an Pragmatismus an den Tag legen.
Es wäre wahrlich nicht klug, eine zweckgebundene Zusammenarbeit mit den theistischen Anti-IDlern allein aus dem Grund zu verweigern, weil auch sie Theisten und damit Supernaturalisten sind.

darwin upheaval hat geschrieben:Allerdings möchte ich hinzufügen, dass der "Kampf" (wäre "Auseinandersetzung" nicht treffender?) hierzulande nicht unbedingt "politisch" geführt werden muss, sondern in erster Linie argumentativ. Gottlob sind wir in Europa noch nicht soweit wie in den USA, so dass (zunächst noch) intellektuelle Fingerübungen ausreichend sind.


Bei uns scheint sich die Auseinandersetzung zwar noch überwiegend auf der philosophisch-theoretischen Ebene abzuspielen, aber die politische Brisanz ist auch hier schon zu spüren. Gerade in der CDU/CSU gibt es eine Reihe von Politikern, die die schulpolitischen Ambitionen der IDler mehr oder weniger offen teilen; und auch die Evangelikalen versuchen bereits, politischen Druck auszuüben. Wehret den Anfängen! :kettensaege2:
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » Mi 26. Mai 2010, 23:30

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:In der Philosophie wird nicht notwendigerweise weniger gewusst, als in anderen kognitiven (z. B. naturwissenschaftlichen) Feldern.


Ich fürchte dagegen, dass es um (synthetisches) A-priori-Wissen in der Philosophie sehr schlecht bestellt ist.


Sicher. Was mir vorschwebt ist nicht "A-priori-Wissen", sondern so etwas wie ein "virtuoser Zirkel", eine wechselseitige Befruchtung von Philosophie und Wissenschaft. So hat z. B. das Evolutionskonzept nicht nur die Biologie, sondern auch die Philosophie revolutioniert. Der Naturalismus hat heute evolutionären Charakter:

http://ag-evolutionsbiologie.de/app/dow ... lismus.pdf

Myron hat geschrieben:David Armstrong, selbst einer der größten Metaphysiker der Gegenwart, hat wohl leider recht:

"One moral that I draw is that in the fields of philosophy and religion there is no knowledge. We can only know what our beliefs are. For consider: In these fields there is no consensus of opinion about what is true. People who are intellectually competent to discuss these matters, who have genuinely studied the considerations for and against some view—the existence of God or the existence of universals—who know the arguments, who have read and understood the books and the articles—find themselves in complete disagreement.


Richtig, aber Philosophie ist nicht gleich Philosophie. Nicht alle Philosophien sind gleichrangig bzw. gleichwertig. Das ist mit ein Grund, weshalb ich von "akademischer Philosophie" gesprochen habe - eine Philosophie, die sich eng an die Ergebnisse der Naturwissenschaft anlehnt und auf die umgekehrt auch die Naturwissenschaften rekurrieren, von deren Setzungen sie überhaupt leben und florieren. (Der Ausdruck "akademische Philosophie" stammt übrigens nicht von mir, sondern ist eine Wortschöpfung von Menschen, die sich professionell mit Wissenschaftsphilosophie beschäftigen.)

Religiöse Ontologien, Feyerabends "anything goes", der Agnostizismus und der radikale Konstruktivismus beispielsweise werden in der Wissenschaft kaum jemanden überzeugen, und es sind auch keine heuristisch fruchtbaren Positionen, wie sich zeigen lässt. Die Tatsache, dass Vertreter dieser Schulen gegen den Naturalismus opponieren und diesen für irrig halten, besagt also nichts.


Myron hat geschrieben:Surely we should not claim knowledge in these matters. We all have our hopes. Perhaps some of us do have knowledge about these difficult matters. But how can we have any rational assurance that we do have knowledge? It is prudent, and suitable to our nature, to claim no more than belief."[/i]


Ich vermute, Armstrong hängt sich hier an einem falschen Wissensbegriff auf. Dass es kein sicheres Wissen gibt, ist ein alter Hut, Wissen ist immer vorläufig. Gleichwohl gibt es eine ganze Reihe von "Wahrheitsindikatoren". Z. B. die Tatsache, dass überhaupt eine Wissenskumulation möglich ist. Thomas Kuhn hat schlicht unrecht, wenn er sagt, es gäbe nur "inkommensurable Weltbilder". In der Wissenschaftsgeschichte gibt es einen "Vektor" des Fortschritts, die Naturwissenschaften sind höchst erfolgreich, und ihre Theorien greifen wie Zahnrädchen konsistent ineinander. Das alles wäre hochgradig unplausibel, wenn wir nur unsere idiosynkratischen Hirngespinste hätscheln würden. Und die EE erklärt darüber hinaus, warum es "echtes Wissen" über die Welt geben muss.


Myron hat geschrieben:"I suggest, further, that we should be very chary of making claims to knowledge outside the rational consensus. I deliberately speak of claims. Many claim to know that God, the Christian God let us say, exists. Many would also claim to know that such a God does not exist. (Though I myself, fairly strongly inclining to the atheist position as I do, nevertheless do not claim knowledge that there is no God. To that extent I am an agnostic.) ... I do not think that it is rational for any of the contending persons, in religion or philosophy, publicly to claim knowledge. For though they may know (I am prepared to concede), it is hard to see how they can know that they know. A quiet hope that they really do have knowledge will be best."


Das liest sich für mich wie ein Plädoyer für ein "anything goes": Jeder bestimmt seine eigenen Regeln, stellt irgendwelche darauf basierenden Behauptungen in den Raum, und jeder hat damit innerhalb seines eigenen Paradigmas Recht. Die Behauptung, dass Gott existiere, ist genauso plausibel und wahrscheinlich wie die Behauptung, dass er nicht existiere. Über die Existenz Gottes kann und darf man daher nichts aussagen. Wenn das alles so wäre, wäre in der Tat jede Philosophie und jede Behauptung gleichwertig. Mithin wäre dann auch das Betreiben von Naturwissenschaft überflüssig. Warum sollten denn nicht auch reine Gedankenexperimente ausreichen?

Tut mir Leid, mit dieser Art des modernen Relativismus kann ich nichts anfangen.


Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Man sollte mit Hubert Schleichert den Begriff "Glauben" auch nicht für Beliebiges reservieren, sondern nur für den Glauben gegen die Vernunft.


Ich benutze diesen Begriff ganz naiv im unschuldigen Sinne von "Fürwahrhalten", auch wenn im Deutschen "belief" und "faith" in ein einziges Wort gepackt sind. Wissen ist eine Art Glaube, und zwar diejenige, bei der die Möglichkeit eines Irrtums (so gut wie) ausgeschlossen ist.


Sorry, diese Auffassung halte ich für antiquiert. Wie gesagt, Wissen kann nicht irrtumsfrei sein, und die (fast wäre ich versucht zu sagen: akademische :santagrin:) moderne (Wissenschafts-) Philosophie behauptet selbiges auch nicht. Selbstverständlich steht alles unter Fallibilitätsvorbehalt. Aber muss man das heutzutage, nach Popper und nach der großen QM-Revolution, immer noch und immer wieder dazu sagen?


Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Wir wissen, dass wir in einer kausal strukturierten Welt leben.


Was genau bedeutet denn "kausal strukturiert"? Dass jedes raumzeitliche Ereignis eine Ursache hat? Dass jedes raumzeitliche Ereignis eine natürliche Ursache hat? Dass jedes raumzeitliche Ereignis eine physische Ursache hat? Dass kein raumzeitliches Ereignis eine übernatürliche Ursache hat? Dass kein raumzeitliches Ereignis eine hyperphysische Ursache hat?


Dass es in dieser Welt überall "mit rechten Dingen" zugeht. Dass keine Dinge spurlos "ins Nichts" verschwinden und "aus dem Nichts" auftauchen, dass kein Wasser in Wein verwandelt werden und kein Mensch auf dem Wasser laufen kann, dass keine Steine nach oben fallen, sich Computer nicht plötzlich in Kaugummi verwandeln, Dämonen ein- und ausgehen u.v.a.m.


Myron hat geschrieben:Wissen wir denn tatsächlich im eigentlichen Sinne des Wortes, dass alle raumzeitlichen Ereignisse ausschließlich natürliche/physische Ursachen haben? Können wir mit Fug und Recht behaupten, dass die vorliegenden naturwissenschaftlichen Beweise alle diesbezüglichen Irrtumsmöglichkeiten beseitigen?


Natürlich nicht. Das sagt doch auch keiner. Aber die Beweislast ruht auf den Schultern derer, die eine umfassendere Ontologie vertreten. Solange niemand plausibel hat darlegen können, wie ein Geistwesen mit Materie interagieren und die Welt beeinflussen soll, gilt die Nullhypothese, die ja auch falsifizierbar und darüberhinaus stringenter und heuristisch fruchtbarer ist. Wären auch nur in einem Bereich der Welt "Wunder" nachweisbar, würde das gesamte Theoriengebäude der Naturwissenschaften wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Eben weil alles Wissen konsistent miteinander verwoben ist.


Myron hat geschrieben:Versteh mich nicht falsch, ich halte den Glauben an die kausale Geschlossenheit der Natur für sehr vernünftig und im Licht der naturwissenschaftlichen Erfahrungen auch für sehr gut begründet, weswegen ich ja daran festhalte; aber ich frage mich dennoch, ob das ausreicht, um einen Wissensanspruch zu erheben. :/


Selbstverständlich kann man das. Es ist doch eine schlüssige Erfahrungstatsache (auf der die innere und äußere Konsistenz naturwissenschaftlicher Theorien beruht), dass es keine intersubjektiv nachvollziehbaren Wunder in dieser Welt gibt. Das ist doch schon mal ein Stück Wissen. Selbstverständlich können wir uns alle auch irren - Wissen ist fehlbar! Aber der Umstand, dass prinzipiell alles auch ganz anders sein könnte, ist kein Grund, das ernst zu nehmen und zu behaupten, es gäbe kein Wissen. Der Begriff Wissenschaft ist keineswegs obsolet.
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon darwin upheaval » Do 27. Mai 2010, 00:03

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Schön, dass wir uns hier einig sind. :2thumbs:


Man muss halt im praktischen Leben ein gewisses Maß an Pragmatismus an den Tag legen.
Es wäre wahrlich nicht klug, eine zweckgebundene Zusammenarbeit mit den theistischen Anti-IDlern allein aus dem Grund zu verweigern, weil auch sie Theisten und damit Supernaturalisten sind.


ACK.


Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Allerdings möchte ich hinzufügen, dass der "Kampf" (wäre "Auseinandersetzung" nicht treffender?) hierzulande nicht unbedingt "politisch" geführt werden muss, sondern in erster Linie argumentativ. Gottlob sind wir in Europa noch nicht soweit wie in den USA, so dass (zunächst noch) intellektuelle Fingerübungen ausreichend sind.


Bei uns scheint sich die Auseinandersetzung zwar noch überwiegend auf der philosophisch-theoretischen Ebene abzuspielen, aber die politische Brisanz ist auch hier schon zu spüren. Gerade in der CDU/CSU gibt es eine Reihe von Politikern, die die schulpolitischen Ambitionen der IDler mehr oder weniger offen teilen; und auch die Evangelikalen versuchen bereits, politischen Druck auszuüben. Wehret den Anfängen! :kettensaege2:


Das ist ein Grund, warum ich so engagiert zwei Webseiten betreibe und mit dazu ein Buch zu der Thematik geschrieben habe:

Bild

Sorry, bisschen Werbung muss auch sein...
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Do 27. Mai 2010, 01:46

darwin upheaval hat geschrieben:Was mir vorschwebt ist nicht "A-priori-Wissen", sondern so etwas wie ein "virtuoser Zirkel", eine wechselseitige Befruchtung von Philosophie und Wissenschaft.


Das ist gewiss wünschenswert.

darwin upheaval hat geschrieben:So hat z. B. das Evolutionskonzept nicht nur die Biologie, sondern auch die Philosophie revolutioniert. Der Naturalismus hat heute evolutionären Charakter:
http://ag-evolutionsbiologie.de/app/dow ... lismus.pdf


Danke, diesen Text kenne ich bereits.

"4.1122: Die Darwinsche Theorie hat mit der Philosophie nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der Naturwissenschaft."

(Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus)

(Ich sage nicht, dass das auch meine Meinung ist.)

darwin upheaval hat geschrieben:Richtig, aber Philosophie ist nicht gleich Philosophie. Nicht alle Philosophien sind gleichrangig bzw. gleichwertig.


Das behauptet Armstrong auch nicht. Natürlich gibt es gute und schlechte Philosophen sowie gute und schlechte Philosophie.

darwin upheaval hat geschrieben:Das ist mit ein Grund, weshalb ich von "akademischer Philosophie" gesprochen habe - eine Philosophie, die sich eng an die Ergebnisse der Naturwissenschaft anlehnt und auf die umgekehrt auch die Naturwissenschaften rekurrieren, von deren Setzungen sie überhaupt leben und florieren.


Mit "akademische Philosophie" scheinst du die analytisch-naturalistische Philosophie anglo-amerikanischer Prägung zu meinen. Damit wären wir wieder beim methodologischen Naturalismus, der ja einerseits ein das Verhältnis von Natur- oder allgemein Erfahrungswissenschaft und Supernaturalismus (Religion) betreffender metawissenschaftlicher Standpunkt und andererseits ein das Verhältnis von Natur- oder allgemein Erfahrungswissenschaft und Philosophie betreffender metaphilosophischer Standpunkt ist. Letzteren bezeichne ich als metaphilosophischen Szientismus:

Die Philosophie ist zu verwissenschaftlichen, d.h. der Erfahrungswissenschaft und vor allem der Naturwissenschaft anzugliedern und deren Verfahren und Ergebnissen (so weit wie möglich) anzupassen.
Motto: Weg von apriorischer Geisteswissenschaft, hin zu aposteriorischer Erfahrungswissenschaft!


[Ich finde Nicholas Rescher hat Recht damit, dass "[i]n one sense [naturalism] is simply a euphemism for scientism, the idea being that science—and natural science above all—has all the answers, so that if there is going to be any answer to a question about reality, it will be forthcoming from science. The stance of this mode of naturalism is effectively that of a science-geared reductionism that sees the key to understanding reality as being provided by the instrumentalities that account for the fundamental processes of observable phenomena."
(Rescher, Nicholas. "The Future of Naturalism: Nature and Culture in Perspectival Duality." In The Future of Naturalism, edited by John R. Shook and Paul Kurtz, 15-23. Amherst, NY: Humanity Books/Prometheus, 2009. p. 15)]

Die Philosophie, die einst die Magd der Theologie sein musste, soll nun zur Magd der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft gemacht werden. Bei dem Projekt mit dem Titel "Naturalisierung der Philosophie" geht es um nichts anderes als den Versuch, die Philosophie zu einem abhängigen theoretischen Teilgebiet der Erfahrungswissenschaft zu machen. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass das konstruktiv-spekulative Denken der Metaphysiker einer positivistischen Metaphysikfeindlichkeit zum Opfer fällt.

Außerdem verstehe ich nicht, wie ich mir die Praxis einer "naturalisierten" Philosophie vorzustellen habe. Sollen etwa nun auch die Philosophen Naturbeobachtungen und Laborexperimente durchführen?!
Mir ist überhaupt nicht klar, wie eine Anpassung der philosophischen Praxis an die naturwissenschaftlichen Methoden bewerkstelligt werden könnte.

Was die Anpassung des philosophischen Denkens an die Resultate der Natur- oder allgemein Erfahrungswissenschaften anbelangt, so bin ich allerdings der Meinung, dass ein Philosoph, der sich Naturalist nennt, zumindest dazu verpflichtet ist, dafür Sorge zu tragen, dass seine Theorien den wohlbestätigten erfahrungswissenschaftlichen Theorien nicht widersprechen.

darwin upheaval hat geschrieben:Ich vermute, Armstrong hängt sich hier an einem falschen Wissensbegriff auf. Dass es kein sicheres Wissen gibt, ist ein alter Hut, Wissen ist immer vorläufig.


Damit wir nicht vom Hundertsten ins Tausendste kommen, kann ich das epistemologische Thema Fallibilismus vs. Infallibilismus hier nur ganz oberflächlich anschneiden (siehe dazu z.B. http://www.iep.utm.edu/fallibil):
Ich war lange Zeit auf der Seite der Fallibilisten, bis mich eine saloppe Äußerung von David Lewis ins Schwanken brachte:

"If you are a contented fallibilist, I implore you to be honest, be naive, hear it afresh. 'He knows, yet he has not eliminated all possibilities of error.' Even if you've numbed your ears, doesn't this overt, explicit fallibilism still sound wrong?"

(Lewis, David. "Elusive Knowledge." 1996. In: David Lewis, Papers in Metaphysics and Epistemology, 418-445. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. pp. 419-20)

Ist nicht der eigentliche Witz am Wissen, dass es sicher ist, und zwar 100%ig sicher?!
Wie kann ich guten Gewissens behaupten zu wissen, dass p, wenn ich mir nicht sicher sein kann, dass nicht doch ~p der Fall ist?!

Lewis eigene Theorie des Wissens, die gewissermaßen eine Quadratur des Kreises darstellt, indem er versucht, sowohl dem Fallibilismus als auch dem Infallibilismus gerecht zu werden, kann ich hier nicht weiter erörten:

"The final paper, 'Elusive Knowledge', proposes an analysis of knowledge. Pace the many complicated analyses now on offer, it seems as if the concept of knowledge is simple enough for small children to master. I suggest that the complicated phenomena we have observed arise from the interaction between a very simple analysis and the complex pragmatics of context-dependent ignoring. 'S knows that P' means simply that there is no possibility that S is wrong that P—Psst! except for those possibilities that we are now (properly) ignoring."

(Lewis, David. Papers in Metaphysics and Epistemology. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. Introd., pp. 6-7)

darwin upheaval hat geschrieben:Das liest sich für mich wie ein Plädoyer für ein "anything goes": Jeder bestimmt seine eigenen Regeln, stellt irgendwelche darauf basierenden Behauptungen in den Raum, und jeder hat damit innerhalb seines eigenen Paradigmas Recht. …
Tut mir Leid, mit dieser Art des modernen Relativismus kann ich nichts anfangen.


Du missverstehst Armstrong!
Er ist mitnichten ein postmoderner "Anything goes"-Typ!
Bitte lies den schon erwähnten Text ganz, dann wird die Sache klarer (diesen Text sollte sowieso jeder Naturalist gelesen haben!):

* Armstrong, D. M. "A Naturalist Program: Epistemology and Ontology." Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 73.2 (November 1999): 77-89. p. 82) [PDF-Download]

darwin upheaval hat geschrieben:Wie gesagt, Wissen kann nicht irrtumsfrei sein, …


Die Infallibilisten halten dem bekanntlich entgegen:
Wenn ein Fürwahrhalten nicht frei von möglichem Irrtum ist, dann ist es kein Wissen!

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Was genau bedeutet denn "kausal strukturiert"?

Dass es in dieser Welt überall "mit rechten Dingen" zugeht. Dass keine Dinge spurlos "ins Nichts" verschwinden und "aus dem Nichts" auftauchen, dass kein Wasser in Wein verwandelt werden und kein Mensch auf dem Wasser laufen kann, dass keine Steine nach oben fallen, sich Computer nicht plötzlich in Kaugummi verwandeln, Dämonen ein- und ausgehen u.v.a.m.


Also salopp gesagt: In Mutter Naturs Haus spukt es nicht!

darwin upheaval hat geschrieben:Der Begriff Wissenschaft ist keineswegs obsolet.


Natürlich nicht, aber die erkenntnistheoretische Gretchenfrage ist, unter welchen Bedingungen man Fürwahrhalten zu Wissen erklären darf.
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon Myron » Do 27. Mai 2010, 03:01

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Muss ein Naturalist in Bezug auf Abstrakta ein genereller Nominalist sein, oder kann er zumindest einige abstrakte Objekte für existent erachten?

Ja sicher. Die Fünf ist ja existent, aber eben nur in unseren Gehirnen. Der Fünf haftet auch nichts Übernatürliches an.


Hier ist ein bekanntes erkenntnistheoretisches Argument gegen den mathematischen Platonismus, das ein erfahrungswissenschaftlich eingestellter Naturalist überzeugend finden sollte: http://plato.stanford.edu/entries/platonism/#5
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