Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon El Schwalmo » Do 27. Mai 2010, 05:37

Myron hat geschrieben:Bei uns scheint sich die Auseinandersetzung zwar noch überwiegend auf der philosophisch-theoretischen Ebene abzuspielen, aber die politische Brisanz ist auch hier schon zu spüren. Gerade in der CDU/CSU gibt es eine Reihe von Politikern, die die schulpolitischen Ambitionen der IDler mehr oder weniger offen teilen; und auch die Evangelikalen versuchen bereits, politischen Druck auszuüben. Wehret den Anfängen! :kettensaege2:

finde ich auch. Wenn man im Kindergarten was von der Schöpfung erzählt bekommt, wird es schwer, eine Evolution, die diesen Namen verdient, nachzuvollziehen. Schon interessant, wenn man als Biologie-Lehrer in der 13 Evolution unterrichtet und von den Schülern erzählt bekommt, was denen nebenan im Religionsunterricht erzählt wird.

Es ist für mich schwer nachvollziehbar, wie man eine Gefahr in Intelligent Design sehen kann, wenn man Theisten, die ja auch Soft-Core Kreationisten sind, alle Möglichkeiten der Welt einräumt, junge Gehirne zu infiltrieren.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » Do 27. Mai 2010, 07:26

Myron hat geschrieben:"4.1122: Die Darwinsche Theorie hat mit der Philosophie nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der Naturwissenschaft."

(Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus)


Der Naturalismus hat nach und nach alle Bereiche der Philosophie erfasst, wobei der Naturalismus selbst evolutionären Charakter hat. So ist es z. B. kaum noch möglich, die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen ohne Rekurs auf die Evolutionäre Erkenntnistheorie zu beantworten. Insofern halte ich Wittgensteins Satz für nicht überzeugend. Keine glaubwürdige Erkenntnistheorie kann mehr das Darwinistische Prinzip der Anpassung des Erkenntnisapparats an die Umwelt außer Acht lassen, andere Hypothesen der Naturwissenschaft dagegen schon.


Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Richtig, aber Philosophie ist nicht gleich Philosophie. Nicht alle Philosophien sind gleichrangig bzw. gleichwertig.


Das behauptet Armstrong auch nicht. Natürlich gibt es gute und schlechte Philosophen sowie gute und schlechte Philosophie.


ACK.

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Das ist mit ein Grund, weshalb ich von "akademischer Philosophie" gesprochen habe - eine Philosophie, die sich eng an die Ergebnisse der Naturwissenschaft anlehnt und auf die umgekehrt auch die Naturwissenschaften rekurrieren, von deren Setzungen sie überhaupt leben und florieren.


Mit "akademische Philosophie" scheinst du die analytisch-naturalistische Philosophie anglo-amerikanischer Prägung zu meinen.


Ja. Man kann es auch so umschreiben:

"... die akademische im Unterschied zur alltäglichen Erscheinungsform der Philosophie [ist] von denselben methodischen
Gepflogenheiten und denselben institutionellen Bedingungen geprägt wie jede andere moderne Wissenschaft: Spekulationen und unbegründete Behauptungen müssen vermieden, alle Quellen und Referenzen müssen offen gelegten werden, der jeweilige Forschungsstand ist zu referieren, Klarheit in der Darstellung und Schlüssigkeit der Argumentation werden angestrebt; es gibt geregelte Studiengänge, Qualifikations- und Akkreditierungsverfahren, es gibt begutachtete Fachzeitschriften und Buchreihen ebenso wie eine Konkurrenz um Stellen und Forschungsgelder.
"

http://www.philosophie.hu-berlin.de/ins ... u_phil.pdf


Myron hat geschrieben:Die Philosophie, die einst die Magd der Theologie sein musste, soll nun zur Magd der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft gemacht werden. Bei dem Projekt mit dem Titel "Naturalisierung der Philosophie" geht es um nichts anderes als den Versuch, die Philosophie zu einem abhängigen theoretischen Teilgebiet der Erfahrungswissenschaft zu machen. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass das konstruktiv-spekulative Denken der Metaphysiker einer positivistischen Metaphysikfeindlichkeit zum Opfer fällt.


Positivismus und Naturalismus sind zwei paar Stiefel, die Gefahr der Metaphysikfeindlichkeit sehe ich im postpositivistischen Zeitalter nicht. Ich halte die Naturalisierung der Philosophie auch nicht für szientistisch, sondern für einen Garant, dass die Philosophie die Bodenhaftung nicht verliert:

"Eine glaubwürdige Philosophie muss sich heute im Verein mit den Einzelwissenschaften bemühen, den Menschen, die Welt und deren kognitive Wechselwirkung zu begreifen. Nicht nur die Philosophie, die Geisteswissenschaften schlechthin können sich ohne Substanzverlust nicht von den Neuro-, den Informations- und den Kognitionswissenschaften isolieren."

http://ag-evolutionsbiologie.de/app/dow ... lismus.pdf

Myron hat geschrieben:Außerdem verstehe ich nicht, wie ich mir die Praxis einer "naturalisierten" Philosophie vorzustellen habe. Sollen etwa nun auch die Philosophen Naturbeobachtungen und Laborexperimente durchführen?!
Mir ist überhaupt nicht klar, wie eine Anpassung der philosophischen Praxis an die naturwissenschaftlichen Methoden bewerkstelligt werden könnte.


Im dem Sinne, wie Kanitscheider es dargelegt hat. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie ist ein Paradebeispiel.


Myron hat geschrieben:Damit wir nicht vom Hundertsten ins Tausendste kommen, kann ich das epistemologische Thema Fallibilismus vs. Infallibilismus hier nur ganz oberflächlich anschneiden (siehe dazu z.B. http://www.iep.utm.edu/fallibil):
Ich war lange Zeit auf der Seite der Fallibilisten, bis mich eine saloppe Äußerung von David Lewis ins Schwanken brachte:

"If you are a contented fallibilist, I implore you to be honest, be naive, hear it afresh. 'He knows, yet he has not eliminated all possibilities of error.' Even if you've numbed your ears, doesn't this overt, explicit fallibilism still sound wrong?"

(Lewis, David. "Elusive Knowledge." 1996. In: David Lewis, Papers in Metaphysics and Epistemology, 418-445. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. pp. 419-20)

Ist nicht der eigentliche Witz am Wissen, dass es sicher ist, und zwar 100%ig sicher?!


Das ist eine Haltung, die zu Kants Zeiten vielleicht noch vertretbar war, wo man glaubte, es gäbe sicheres A-priori-Wissen, das sich aus sich selbst heraus begründet oder nicht weiter hinterfragt werden muss. Inzwischen weiß man, dass Wissen fehlbar ist, wobei natürlich selbst dieser Satz nicht bewiesen werden kann. Beweise sind nicht einmal in den Formalwissenschaften hundertprozentig sicher (Gödel lässt grüßen).


Myron hat geschrieben:Wie kann ich guten Gewissens behaupten zu wissen, dass p, wenn ich mir nicht sicher sein kann, dass nicht doch ~p der Fall ist?!


Indem man den Begriff "Beweis" und das, was er naiverweise impliziert, aus seiner Vorstellungswelt verbannt, und stattdessen lieber von "Belegen", "Indizien", "Evidenzen" o.ä. spricht.

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Wie gesagt, Wissen kann nicht irrtumsfrei sein, …


Die Infallibilisten halten dem bekanntlich entgegen:
Wenn ein Fürwahrhalten nicht frei von möglichem Irrtum ist, dann ist es kein Wissen!


Wird hier etwa der "wahre Schotte" bemüht?

A: "Wissen ist unfehlbar!"
B: "Nein. Die Wissenschaftsgeschichte beweist, dass Wissen fehlbar ist."
A: "Dann handelt es sich auch nicht um echtes Wissen, denn Wissen ist unfehlbar!"


Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Was genau bedeutet denn "kausal strukturiert"?

Dass es in dieser Welt überall "mit rechten Dingen" zugeht. Dass keine Dinge spurlos "ins Nichts" verschwinden und "aus dem Nichts" auftauchen, dass kein Wasser in Wein verwandelt werden und kein Mensch auf dem Wasser laufen kann, dass keine Steine nach oben fallen, sich Computer nicht plötzlich in Kaugummi verwandeln, Dämonen ein- und ausgehen u.v.a.m.


Also salopp gesagt: In Mutter Naturs Haus spukt es nicht!


Stimmt.

Myron hat geschrieben:Natürlich nicht, aber die erkenntnistheoretische Gretchenfrage ist, unter welchen Bedingungen man Fürwahrhalten zu Wissen erklären darf.


Z. B., wenn eine Theorie nach der hypothetisch-deduktiven Methode Evidenz erlangt oder eine Erklärungsfunktion besitzt, die andere Theorien nicht besitzen. Oder wenn sich die Theorie konsistent in das Gesamtbild einfügt oder eine große integrative Kraft besitzt...
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon Myron » Do 27. Mai 2010, 18:07

El Schwalmo hat geschrieben:Wenn man im Kindergarten was von der Schöpfung erzählt bekommt, wird es schwer, eine Evolution, die diesen Namen verdient, nachzuvollziehen. Schon interessant, wenn man als Biologie-Lehrer in der 13 Evolution unterrichtet und von den Schülern erzählt bekommt, was denen nebenan im Religionsunterricht erzählt wird.


Solange weiterhin Millionen von Kindern bereits im Kindergarten und der Grundschule supernaturalistische Geschichten eingetrichtert werden, werden wir es in der Gesellschaft immer schwer haben.

El Schwalmo hat geschrieben:Es ist für mich schwer nachvollziehbar, wie man eine Gefahr in Intelligent Design sehen kann, wenn man Theisten, die ja auch Soft-Core Kreationisten sind, alle Möglichkeiten der Welt einräumt, junge Gehirne zu infiltrieren.


Natürlich sind alle Theisten insofern Kreationisten, als sie an einen Schöpfergott glauben, der die raumzeitliche Welt erschaffen und "designt" hat.
(Was den konfessionell-missionarischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen anbelangt, so bin ich für dessen Abschaffung. Aber die dafür erforderliche Grundgesetzänderung werde ich wohl nicht erleben.)
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Do 27. Mai 2010, 18:54

darwin upheaval hat geschrieben:Der Naturalismus hat nach und nach alle Bereiche der Philosophie erfasst, wobei der Naturalismus selbst evolutionären Charakter hat. So ist es z. B. kaum noch möglich, die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen ohne Rekurs auf die Evolutionäre Erkenntnistheorie zu beantworten.


Ich habe mich mit der EE noch nicht weiter befasst, aber ich werde mich in das Thema demnächst einlesen:

http://plato.stanford.edu/entries/epist ... olutionary

http://www.iep.utm.edu/evo-epis

darwin upheaval hat geschrieben:Ich halte die Naturalisierung der Philosophie auch nicht für szientistisch, sondern für einen Garant, dass die Philosophie die Bodenhaftung nicht verliert:…


Auch ich befürworte eine wissenschaftsnahe Philosophie, verteidige aber zugleich deren relative Selbstständigkeit als akademisches Gebiet.

darwin upheaval hat geschrieben:Beweise sind nicht einmal in den Formalwissenschaften hundertprozentig sicher (Gödel lässt grüßen).


Vor allem lassen die Skeptiker grüßen!

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Wie kann ich guten Gewissens behaupten zu wissen, dass p, wenn ich mir nicht sicher sein kann, dass nicht doch ~p der Fall ist?!

Indem man den Begriff "Beweis" und das, was er naiverweise impliziert, aus seiner Vorstellungswelt verbannt, und stattdessen lieber von "Belegen", "Indizien", "Evidenzen" o.ä. spricht.


Das scheint mir eher eine Wortspielerei zu sein, die an dem Knackpunkt nichts ändert.
Denn wenn die Belege, Indizien, Evidenzen für eine Aussage deren Wahrheit nicht 100%ig garantieren, dann kann man nicht objektiv sicher sein, ob man das, was man glaubt, auch wirklich weiß.

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Die Infallibilisten halten dem bekanntlich entgegen:
Wenn ein Fürwahrhalten nicht frei von möglichem Irrtum ist, dann ist es kein Wissen!

Wird hier etwa der "wahre Schotte" bemüht?
A: "Wissen ist unfehlbar!"
B: "Nein. Die Wissenschaftsgeschichte beweist, dass Wissen fehlbar ist."
A: "Dann handelt es sich auch nicht um echtes Wissen, denn Wissen ist unfehlbar!"


Eines steht fest:
Wenn es nicht der Fall ist, dass p, dann kann man nicht wissen, dass p.

Kxp –> p
"Wenn x weiß, dass p, dann p"
<–>
~p –> ~Kxp
"Wenn es nicht der Fall ist, dass p, dann weiß x nicht, dass p."


Das ist ein Axiom der epistemischen Logik.
Wenn also die Wissenschaftler im 18. Jahrhundert behaupteten zu wissen, dass p, und es stellte sich im 20. Jahrhundert heraus, dass ~p, dann haben jene Wissenschaftler damals eben nicht gewusst, dass p, sondern nur irrtümlicherweise geglaubt zu wissen, dass p. Folglich besaßen sie kein fehlbares Wissen, sondern überhaupt kein Wissen.
Ich fürchte, die Argumente der Infallibilisten lassen sich nicht so einfach entkräften.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Do 27. Mai 2010, 19:21

@Darwin Upheaval:
Nochmal zum Hauptpunkt:

Du definierst den minimalen metaphysischen/ontologischen Naturalismus folgendermaßen:

Alle raumzeitlichen Ereignisse, die nicht ursachenlos sind, haben ausschließlich natürliche Ursachen.

Richtig?
Sind für dich alle natürlichen Ursachen physischer Natur, sodass im engeren Sinne gilt:

Alle raumzeitlichen Ereignisse, die nicht ursachenlos sind, haben ausschließlich physische Ursachen.

Falls nicht, glaubst du dann an eine hyperphysische, spirituelle Kausalität sui generis?

Mir ist die obige Definition jedenfalls zu schwach, da sie, wie gesagt, mit dem antiinterventionistischen/antiinteraktionistischen Supernaturalismus vereinbar ist, dem zufolge ein vom raumzeitlichen Reich der Natur kausal isoliertes transzendentes, übernatürliches Reich von Konkreta oder Abstrakta existiert. (Abstrakta bewirken ja per definitionem nichts.)
Es ist aber widersinnig, wenn der ontologische Naturalismus so definiert wird, dass er den Supernaturalismus nicht gänzlich ausschließt. Jemand, der glaubt, dass nicht alles natürlich ist, sollte sich nicht ontologischer Naturalist nennen dürfen!

Mir fehlen mindestens die zusätzlichen Annahmen, dass das Raumzeitsystem die gesamte Realität bildet, und dass es frei von übernatürlichen/hyperphysischen Substanzen oder Agenzien ist, d.h. frei von Geistern und Geisterkräften. (Daraus folgt unmittelbar die Annahme der kausalen Geschlossenheit der Natur, des physischen Universums.)

Aber vielleicht haben wir auch einfach unterschiedliche Interessenschwerpunkte:
Du fragst aus der Sicht des Wissenschaftlers, von welchem Mindestnaturalismus in der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft auszugehen ist, während ich aus der Sicht des Philosophen frage, von welchem Mindestnaturalismus in der Philosophie auszugehen ist.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Fr 28. Mai 2010, 01:08

Der Physiker und Theologe John Polkinghorne weist die Geschlossenheitsthese als wissenschaftlich unbewiesen zurück:

"What one can say, both in relation to human agency and in relation to divine providential action, is that the proper acknowledgment of our fragmented knowledge of the causal structure of physical reality is at least sufficient to 'defeat the defeaters', to challenge and put in question those who are trying to assert the necessity of a merely physical reductionist view. It is clear that science has not demonstrated the causal closure of the natural world. Nothing it can tell us requires us to deny our directly experienced human capacity for intentional action, nor can science forbid religious believers to hold to their belief in God's providential interaction with the history of the world."

(Polkinghorne, John. Exploring Reality: The Intertwining of Science and Religion. New Haven: Yale University Press, 2005. p. 37)

Unter "human capacity for intentional action" scheint er theologentypisch "libertarian free will" zu verstehen, also die Ansicht, dass unsere Willensentscheidungen weder zufällig noch fremdbestimmt sind, d.h. dass menschliche Personen absolut autonome Akteure sind, die für ihr Handeln dementsprechend die absolute Verantwortung tragen.
Roderick Chisholm beschreibt diese illusionäre Auffassung von Willensfreiheit ganz treffend:

"[E]ach of us, when we act, is a prime mover unmoved. In doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing—or no one—causes us to cause those events to happen."
———
"Wenn wir handeln, ist jeder von uns ein unbewegter Erstbeweger. Indem wir tun, was wir tun, bewirken wir den Eintritt bestimmter Ereignisse, und nichts – oder niemand – bewirkt, dass wir den Eintritt jener Ereignisse bewirken."

[© meine Übers.]

(Chisholm, Roderick M. On Metaphysics. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 1989. p. 12)
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Fr 28. Mai 2010, 05:21

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Der Naturalismus hat nach und nach alle Bereiche der Philosophie erfasst, wobei der Naturalismus selbst evolutionären Charakter hat. So ist es z. B. kaum noch möglich, die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen ohne Rekurs auf die Evolutionäre Erkenntnistheorie zu beantworten.


Ich habe mich mit der EE noch nicht weiter befasst, aber ich werde mich in das Thema demnächst einlesen:

kann ich nur empfehlen. Gerade die Fragen, die die EE lösen sollte, sind meiner Meinung nach immer noch vollkommen offen, obwohl die Theorie durchaus sehr viel erklären kann. Interessanterweise haben sich gerade Theologen recht intensiv mit ihr befasst. Fast ein 'Klassiker' ist

Lüke, U. (1990) 'Evolutionäre Erkenntnistheorie und Theologie' Stuttgart, S. Hirzel


der vor allem darauf eingeht, dass es innerhalb der EE verschiedene Ansätze gibt. Lüke zeigt, dass Riedl zwar ein Hans Dampf in allen Gassen ist, aber in puncto Philosophie durchaus noch Nachholbedarf hat. Vollmer ist eher ernst zu nehmen, Lorenz und Popper (die als Kinder zusammen im in Wien spielten) sind wichtige Vorläufer.

Irrgang, B. (1993) 'Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie. Evolution, Selbstorganisation, Kognition' München; Basel, Reinhardt

ist wesentlich anspruchsvoller zu lesen. Wenn ich richtig informiert bin, hat sich im Bereich EE inzwischen durchaus die Spreu vom Weizen getrennt. Man sieht nun klarer, warum man nichts sieht.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Fr 28. Mai 2010, 06:12

Myron hat geschrieben:Wenn also die Wissenschaftler im 18. Jahrhundert behaupteten zu wissen, dass p, und es stellte sich im 20. Jahrhundert heraus, dass ~p, dann haben jene Wissenschaftler damals eben nicht gewusst, dass p, sondern nur irrtümlicherweise geglaubt zu wissen, dass p. Folglich besaßen sie kein fehlbares Wissen, sondern überhaupt kein Wissen.
Ich fürchte, die Argumente der Infallibilisten lassen sich nicht so einfach entkräften.

wenn ich mich richtig erinnere hatten wir das hier schon einmal längelang durchdiskutiert. Hier gehen meiner Meinung nach zwei Ebenen durcheinander. Darwin Upheaval argumentiert (wie ich), dass nicht erkennbar ist, ob sichereres Wissen vorliegt. Von dieser Warte aus betrachtet ist es ein Glasperlenspiel, sich über 'sicheres Wissen' Gedanken zu machen.

Ich versuchte das mit 'zeitkerniger Gültigkeit' zu umschreiben. Wenn der Stand der Naturwissenschaften irgendwann war, dass p und irgendwann erkennt man ~p, dann war eben p gültig bis man ~p erkannte. Niemand weiß, ob ~p irgendwann genauso falsch sein wird wie p.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Fr 28. Mai 2010, 14:30

Lesetipp:

Alvin Plantinga: Religion and Science (insbesondere: Naturalism and Science)

Darin findet sich u.a. auch der methodologische Als-ob-Naturalismus:

"…So here there is conflict between science and religion. What accounts for this conflict? Several things, no doubt; but part of the explanation is to be found in methodological naturalism, a widely accepted constraint on science. According to methodological naturalism (MN), in doing science one must proceed 'as if God is not given', to use the words of Hugo Grotius. [my emph.] Exactly what does that mean? There are various suggestions; here is one. According to MN, (1) the data set (data model) for a proper scientific theory can't refer to God or other supernatural agents (angels, demons), or employ what one knows or thinks one knows by way of (divine) revelation. Thus the data for a theory wouldn't include, for example, the proposition that there has recently been an outbreak of demon possession in Washington, D. C. (2) A proper scientific theory can't refer to God or any other supernatural agents, or employ what one knows or thinks one knows by way of revelation. So if the data model contained the proposition that there has been an outbreak of weird and irrational behavior in Washington, one couldn't properly propose a theory involving demon possession to explain it. (3) Note first that the probability or plausibility of theory candidates and their capacity to explain the data, as well as their empirical implications, is always relative to an array of background information or an epistemic base. The third constraint, then, is that the epistemic base of a proper scientific theory can't include propositions obviously entailing the existence of God or other supernatural agents, or propositions one knows or thinks one knows by way of revelation. So consider someone who in fact accepts the main lines of one of the theistic religions, and works in the area of evolutionary psychology. No doubt she will honor MN as a constraint on her scientific activity. If so, for scientific purposes she will eliminate from her evidence base propositions obviously entailing the existence of God or other supernatural beings, as well as what she knows or thinks she knows by way of faith or revelation. But then she might very well come up with theories of the kind we've been pointing to, theories incompatible with theistic religion."
(http://plato.stanford.edu/entries/relig ... #WheTheCon)
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon darwin upheaval » So 30. Mai 2010, 22:21

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Es ist für mich schwer nachvollziehbar, wie man eine Gefahr in Intelligent Design sehen kann, wenn man Theisten, die ja auch Soft-Core Kreationisten sind, alle Möglichkeiten der Welt einräumt, junge Gehirne zu infiltrieren.


Natürlich sind alle Theisten insofern Kreationisten, als sie an einen Schöpfergott glauben, der die raumzeitliche Welt erschaffen und "designt" hat.
(Was den konfessionell-missionarischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen anbelangt, so bin ich für dessen Abschaffung. Aber die dafür erforderliche Grundgesetzänderung werde ich wohl nicht erleben.)


Ich halte es für sehr problematisch, Theisten in die Schublade der Wie-auch-immer-Kreationisten zu stecken. Erstens haben die mit den Naturalisten mehr gemeinsam als mit den (ID-) Kreationisten. Außerdem besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Kreationismus sensu lato und Theismus: Letztere erkennen natürliche Mechanismen durchgehend an. Deshalb müssen die sich ja auch immer den Vorwurf anhören, dass die eigentlich kein Christentum (TM) verträten.

Wie soll von so einer weichen Position eine Infiltrations-Gefahr ausgehen?
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon El Schwalmo » So 30. Mai 2010, 22:28

darwin upheaval hat geschrieben:Außerdem besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Kreationismus sensu lato und Theismus: Letztere erkennen natürliche Mechanismen und die Erkenntnisse der Wissenschaft an. Deshalb müssen die sich ja auch immer den Vorwurf anhören, dass die eigentlich kein Christentum (TM) verträten.

ein Christentum, wie es die von Dir verteidigten Theisten vertreten, scheint mir einer Auffassung von Demokratie zu entsprechen, die freie und geheime Wahlen als definierendes Kriterium in den Vordergrund stellt. Selbstverständlich ist dann auch ein Staatswesen, das freie und geheime Wahlen durchführt, die Urnen aber gar nicht öffnet und sich nicht weiter um den Inhalt schert, eine Demokratie. Es sei denn, jemand packt hinsichtlich 'Wahl' den wahren Schotten aus.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » So 30. Mai 2010, 22:32

Myron hat geschrieben:
Darwin upheaval hat geschrieben:Wird hier etwa der "wahre Schotte" bemüht?
A: "Wissen ist unfehlbar!"
B: "Nein. Die Wissenschaftsgeschichte beweist, dass Wissen fehlbar ist."
A: "Dann handelt es sich auch nicht um echtes Wissen, denn Wissen ist unfehlbar!"


Eines steht fest:
Wenn es nicht der Fall ist, dass p, dann kann man nicht wissen, dass p.


Wie gesagt, das gilt nur unter der Prämisse, dass "Wissen" unfehlbar ist. Ich vertrete diese Prämisse nicht. Ist gibt "nur" hypothetisches Wissen, aber das ist in meinem Weltbild auch weiter kein Problem. Nirgendwo habe ich behauptet, dass ich Gewissheit für mein Wissen beanspruche. Das ist gerade der Clou am ontologischen Naturalismus, dass er eben kein letztbegründetes Wissen repräsentiert, sondern Ergebnisoffenheit impliziert: Der Naturalist wartet, bis der Supranaturalist gute Gründe für seine umfassendere Ontologie anführt. Sobald er das kann, ist der Naturalismus obsolet (und damit vermutlich auch das, was wir als Wissenschaft bezeichnen.) Der ontologische Naturalismus ist die Nullhypothese und daher Ergebnis eines Vernunftschlusses. Und übrigens keine schlechte: Keine Ontologie ist erfolgreicher. Das ist übrigens auch ein Wahrheitskriterium, wenn auch natürlich kein Beweis.
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon darwin upheaval » So 30. Mai 2010, 22:36

El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Außerdem besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Kreationismus sensu lato und Theismus: Letztere erkennen natürliche Mechanismen und die Erkenntnisse der Wissenschaft an. Deshalb müssen die sich ja auch immer den Vorwurf anhören, dass die eigentlich kein Christentum (TM) verträten.

ein Christentum, wie es die von Dir verteidigten Theisten vertreten, scheint mir einer Auffassung von Demokratie zu entsprechen, die freie und geheime Wahlen als definierendes Kriterium in den Vordergrund stellt. Selbstverständlich ist dann auch ein Staatswesen, das freie und geheime Wahlen durchführt, die Urnen aber gar nicht öffnet und sich nicht weiter um den Inhalt schert, eine Demokratie. Es sei denn, jemand packt hinsichtlich 'Wahl' den wahren Schotten aus.


Tut mir Leid, ich kann Dir nicht folgen.
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon Myron » So 30. Mai 2010, 22:45

darwin upheaval hat geschrieben:Ich halte es für sehr problematisch, Theisten in die Schublade der Wie-auch-immer-Kreationisten zu stecken. Erstens haben die mit den Naturalisten mehr gemeinsam als mit den (ID-) Kreationisten. Außerdem besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Kreationismus sensu lato und Theismus: Letztere erkennen natürliche Mechanismen durchgehend an.


Als Theist muss man natürlich nicht glauben, dass nichts natürliche Ursachen hat.
Die Bezeichnung "Kreationismus" wird aber bekanntlich sowohl in einem weiteren als auch in einem engeren Sinne gebraucht.
Und der Theismus ist per se zumindest im weiteren Sinne kreationistisch:

"At a broad level, a Creationist is someone who believes in a god who is absolute creator of heaven and earth, out of nothing, by an act of free will. Such a deity is generally thought to be constantly involved (‘immanent’) in the creation, ready to intervene as necessary, and without whose constant concern the creation would cease or disappear. Christians, Jews, and Muslims are all Creationists in this sense. Generally they are known as ‘theists,’ distinguishing them from ‘deists,’ that is people who believe that there is a designer who might or might not have created the material on which he (or she or it) is working and who does not interfere once the designing act is finishing. The focus of this discussion is on a narrower sense of Creationism, the sense that one usually finds in popular writings (especially in America today). Here, Creationism means the taking of the Bible, particularly the early chapters of Genesis, as literally true guides to the history of the universe and to the history of life, including us humans, down here on earth (Numbers 1992)."

(http://plato.stanford.edu/entries/creationism)

"…without whose constant concern the creation would cease or disappear.…"
Gemeint ist die Lehre von der creatio continua, von Gott als Welterhalter:

"God does not just launch things into existence and allow them subsequently to persist on their own. He does not just support an object's existence in some of the circumstances in which it does exist. The dependence is thorough and continuous. To convey this idea many philosophers and theologians have spoken of God's activities of creation and conservation with respect to the world. God does not just bring things into existence and then take a hands-off approach to them. This is the error known as deism. God continually supports things in existence, moment to moment, throughout the entirety of their careers on the stage of reality. Divine conservation is thought to be so absolute a requirement for existence that, if God were to withdraw his support for our contingent universe for even an instant, it would all cease to be. To stress the importance of the divine activity to the continuous existence of any created object, some theologians have spoken of continuous creation. The idea is, roughly, that just as God creates an object at its first moment of existence, he re-creates it at all subsequent moments at which it exists. Yet, as the term 'continuous' indicates, this is not to be thought of as involving a staccato repetition of numerous, discrete creative acts. There is a continuity to the activity of divine creation that can be conceptualized either as conservation or as continuous creation. The important point is that at each instant of the existence of any created thing, it stands in a relation to God of absolute dependence."

(Morris, Thomas V. Our Idea of God: An Introduction to Philosophical Theology. Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press, 1991. pp. 154-5)
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » So 30. Mai 2010, 22:50

Myron hat geschrieben:@Darwin Upheaval:
Nochmal zum Hauptpunkt:

Du definierst den minimalen metaphysischen/ontologischen Naturalismus folgendermaßen:

Alle raumzeitlichen Ereignisse, die nicht ursachenlos sind, haben ausschließlich natürliche Ursachen.

Richtig?


Richtig.


Myron hat geschrieben:Sind für dich alle natürlichen Ursachen physischer Natur, sodass im engeren Sinne gilt:

Alle raumzeitlichen Ereignisse, die nicht ursachenlos sind, haben ausschließlich physische Ursachen.

Falls nicht, glaubst du dann an eine hyperphysische, spirituelle Kausalität sui generis?


Ich weiß jetzt nicht genau, was Du mit "hyperphysischer, spiritueller Kausalität sui generis" meinst. Geist ist eine Systemeigenschaft und damit an einem materiellen Träger gebunden. Insofern kann "Geist" an sich nichts verursachen, sondern nur das materielle Substrat. Niemand hat je ein Stück "reinen Geist" gesehen.


Myron hat geschrieben:Mir ist die obige Definition jedenfalls zu schwach, da sie, wie gesagt, mit dem antiinterventionistischen/antiinteraktionistischen Supernaturalismus vereinbar ist, dem zufolge ein vom raumzeitlichen Reich der Natur kausal isoliertes transzendentes, übernatürliches Reich von Konkreta oder Abstrakta existiert.


Das kommt darauf an, was Du unter "Existenz" verstehst. Der emergentische Materialismus, den ich vertrete, verwehrt Abstrakta einen autonomen ontologischen Status, gesteht ihnen aber eine fiktive Existenz zu. Immer wenn die Zahl 5 gedacht wird, existiert sie ja "irgendwie". Sobald niemand an sie denkt, existiert sie auch nicht.

Aber Du hast insofern recht, als dass der Naturalismus eine zu schwache Position ist. Beachte bitte, dass ich vom Materialismus sprach. Ontologisch betrachtet ist dieser eine echte Teilmenge des Naturalismus.


Myron hat geschrieben:(Abstrakta bewirken ja per definitionem nichts.)
Es ist aber widersinnig, wenn der ontologische Naturalismus so definiert wird, dass er den Supernaturalismus nicht gänzlich ausschließt.


Der Naturalismus schließt nur das Immaterielle nicht aus, das Transnaturale schon.

Immaterialismus ist nicht gleich Supranaturalismus. Ich kann an die reale Existenz von immateriellen Objekten glauben, ohne damit dem Transnaturalen zu huldigen. Alles Transnaturale ist immateriell, aber nicht alles Immaterielle transnatural!
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Re: Warum sind Christen gegen die Evolutionslehre

Beitragvon darwin upheaval » So 30. Mai 2010, 23:02

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Ich halte es für sehr problematisch, Theisten in die Schublade der Wie-auch-immer-Kreationisten zu stecken. Erstens haben die mit den Naturalisten mehr gemeinsam als mit den (ID-) Kreationisten. Außerdem besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Kreationismus sensu lato und Theismus: Letztere erkennen natürliche Mechanismen durchgehend an.


Als Theist muss man natürlich nicht glauben, dass nichts natürliche Ursachen hat.
Die Bezeichnung "Kreationismus" wird aber bekanntlich sowohl in einem weiteren als auch in einem engeren Sinne gebraucht.
Und der Theismus ist per se zumindest im weiteren Sinne kreationistisch:

"At a broad level, a Creationist is someone who believes in a god who is absolute creator of heaven and earth, out of nothing, by an act of free will. Such a deity is generally thought to be constantly involved (‘immanent’) in the creation, ready to intervene as necessary, and without whose constant concern the creation would cease or disappear. Christians, Jews, and Muslims are all Creationists in this sense. Generally they are known as ‘theists,’ distinguishing them from ‘deists,’ that is people who believe that there is a designer who might or might not have created the material on which he (or she or it) is working and who does not interfere once the designing act is finishing. The focus of this discussion is on a narrower sense of Creationism, the sense that one usually finds in popular writings (especially in America today). Here, Creationism means the taking of the Bible, particularly the early chapters of Genesis, as literally true guides to the history of the universe and to the history of life, including us humans, down here on earth (Numbers 1992)."

(http://plato.stanford.edu/entries/creationism)

"…without whose constant concern the creation would cease or disappear.…"
Gemeint ist die Lehre von der creatio continua, von Gott als Welterhalter:

"God does not just launch things into existence and allow them subsequently to persist on their own. He does not just support an object's existence in some of the circumstances in which it does exist. The dependence is thorough and continuous. To convey this idea many philosophers and theologians have spoken of God's activities of creation and conservation with respect to the world. God does not just bring things into existence and then take a hands-off approach to them. This is the error known as deism. God continually supports things in existence, moment to moment, throughout the entirety of their careers on the stage of reality. Divine conservation is thought to be so absolute a requirement for existence that, if God were to withdraw his support for our contingent universe for even an instant, it would all cease to be. To stress the importance of the divine activity to the continuous existence of any created object, some theologians have spoken of continuous creation. The idea is, roughly, that just as God creates an object at its first moment of existence, he re-creates it at all subsequent moments at which it exists. Yet, as the term 'continuous' indicates, this is not to be thought of as involving a staccato repetition of numerous, discrete creative acts. There is a continuity to the activity of divine creation that can be conceptualized either as conservation or as continuous creation. The important point is that at each instant of the existence of any created thing, it stands in a relation to God of absolute dependence."

(Morris, Thomas V. Our Idea of God: An Introduction to Philosophical Theology. Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press, 1991. pp. 154-5)


Man kann den "Kreationismus" natürlich etymologisch herleiten (creare = erschaffen), aber ich halte von einer solchen Definition nichts. Sie ist einfach zu undifferenziert, weil sie alle über denselben Leisten schlägt. Im übrigen kann man "creare" auch mit "verursachen" oder "hervorbringen" etc. übersetzen. Auch Naturalisten sprechen oft von einem "schöpferischen Universum" und gebrauchen quasi-teleologische Begrifflichkeiten. Sind das dann auch Kreationisten?
Zuletzt geändert von darwin upheaval am So 30. Mai 2010, 23:09, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » So 30. Mai 2010, 23:07

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Eines steht fest:
Wenn es nicht der Fall ist, dass p, dann kann man nicht wissen, dass p.

Wie gesagt, das gilt nur unter der Prämisse, dass "Wissen" unfehlbar ist. Ich vertrete diese Prämisse nicht.


Wie gesagt, die obige Aussage ist äquivalent zu einem allgemein anerkannten Axiom der epistemischen Logik:

Axiom T: Wenn x weiß, dass p, dann ist es der Fall, dass p.

Aber es sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass ein Satz wie "Peter weiß, dass 1 + 1 = 3, obwohl es nicht der Fall ist, dass 1 + 1 = 3" unlogisch ist.

darwin upheaval hat geschrieben:Das ist gerade der Clou am ontologischen Naturalismus, dass er eben kein letztbegründetes Wissen repräsentiert, sondern Ergebnisoffenheit impliziert: Der Naturalist wartet, bis der Supranaturalist gute Gründe für seine umfassendere Ontologie anführt. Sobald er das kann, ist der Naturalismus obsolet (und damit vermutlich auch das, was wir als Wissenschaft bezeichnen.)


Der Naturalismus ist für mich ein vernünftiger, wahrscheinlicher Glaube (im nichtreligiösen Sinne!), einer, der mir vernünftiger und wahrscheinlicher erscheint als sein Gegenteil. Aber selbstverständlich könnte es sein, dass ich mich irre.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » So 30. Mai 2010, 23:13

Nachtrag zum Begriff Kreationismus: M. E. macht es nur Sinn, den Kreationismus im weiteren Sinne als evolutionskritische Position zu verstehen, und zwar insofern, als natürliche Mechanismen nicht durchgehend anerkannt werden. Kreationismus ist immer eine wissenschaftsrevisionistische Position. Das Spektrum des Kreationismus s.l. reicht vom "6-dayism" über den Langzeit-Schöpfungslehren bis hin zu Intelligent Design. Alles, was darüber hinaus reicht, ist eine dezidiert evolutionistische Position. Es macht keinen Sinn, die als kreationistisch zu bezeichnen, weil sonst die Evolutionstheorie mit bestimmten Formen des Kreationsmus vereinbar wäre, was schlechterdings niemand ernsthaft behaupten würde, der sich mit diesem Themenkomplex ("Evolution vs. Kreationismus") auseinandersetzt.
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » So 30. Mai 2010, 23:21

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Eines steht fest:
Wenn es nicht der Fall ist, dass p, dann kann man nicht wissen, dass p.

Wie gesagt, das gilt nur unter der Prämisse, dass "Wissen" unfehlbar ist. Ich vertrete diese Prämisse nicht.


Wie gesagt, die obige Aussage ist äquivalent zu einem allgemein anerkannten Axiom der epistemischen Logik:

Axiom T: Wenn x weiß, dass p, dann ist es der Fall, dass p.

Aber es sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass ein Satz wie "Peter weiß, dass 1 + 1 = 3, obwohl es nicht der Fall ist, dass 1 + 1 = 3" unlogisch ist.


Das sind, wie El Schwalmo sich ausdrückte, Glasperlenspiele. Wir bilden immer Hypothesen und Theorien, die, wenn sie sich bewähren, zu Wissen verdichten. Nicht umsonst betreiben wir Wissenschaft, und die impliziert nun einmal, dass Wissen hypothetisch ist. Wenn Du das anders sieht, dann gibt es weder Wissen noch Wissenschaft, sondern höchsten Glaubenschaft. Es gibt aber höchstens Glaubensgemeinschaften, und die sind in ihrer "methodischen" Ausrichtung das genaue Gegenteil von Wissenschaft.

Du vermischst in Deinem Axiom übrigens Erkenntnistheorie mit Ontologie: p ist auch dann immer p, wenn X nichts über p weiß oder zu falschen Schlüssen über die Existenz von p gelangt. Richtig müsste es heißen: "Nach allem, was wir wissen, ist p, aber es besteht im Prinzip auch die logische Möglichkeit, dass nicht p."

1 + 1 kann übrigens auch 3 ergeben, wenn Du Rundungsfehler mit berücksichtigst: 1,4 + 1,4 = 2,8, gerundet auf eine geltende Ziffer. Oder wenn Du einen männlichen Hamster mit einem weiblichen Exemplar vergesellschaftest... :santagrin:
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Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mo 31. Mai 2010, 00:18

darwin upheaval hat geschrieben:Ich weiß jetzt nicht genau, was Du mit "hyperphysischer, spiritueller Kausalität sui generis" meinst.


Eben reine Geistes- oder Seelenkräfte.

darwin upheaval hat geschrieben:Geist ist eine Systemeigenschaft und damit an einem materiellen Träger gebunden. Insofern kann "Geist" an sich nichts verursachen, sondern nur das materielle Substrat. Niemand hat je ein Stück "reinen Geist" gesehen.


Dann sind für dich diese beiden Aussagen also bedeutungsgleich:

"Alle raumzeitlichen Ereignisse, die nicht ursachenlos sind, haben ausschließlich natürliche Ursachen."

"Alle raumzeitlichen Ereignisse, die nicht ursachenlos sind, haben ausschließlich physische Ursachen."

(?)

darwin upheaval hat geschrieben:Das kommt darauf an, was Du unter "Existenz" verstehst.


Ich fürchte, dass ich dir keine gehaltvolle Definition dieses Grundbegriffs anbieten kann.

"The concept of existence is probably basic and primitive in the sense that it is not possible to produce an informative definition of it in terms that are more clearly understood and that would tell us something important and revealing about what it is for something to exist."

(Kim, Jaegwon, and Ernest Sosa, eds. Metaphysics: An Anthology. Oxford: Blackwell, 1999. p. 3)

Tja, was könnte ich also sagen?
Höchstens so etwas wie dies hier:

Etwas existiert genau dann, wenn es nicht nur etwas Gemeintes ist, wenn es kein in sich nichtiger Scheingegenstand unseres Denkens und Vorstellens ist, wenn es in sich Eigenschaften trägt, deren Besitz davon unabhängig ist, ob er von uns gedacht oder vorgestellt wird.

darwin upheaval hat geschrieben:Der emergentische Materialismus, den ich vertrete, verwehrt Abstrakta einen autonomen ontologischen Status, gesteht ihnen aber eine fiktive Existenz zu. Immer wenn die Zahl 5 gedacht wird, existiert sie ja "irgendwie". Sobald niemand an sie denkt, existiert sie auch nicht.


Für mich sind "fiktiv" und "inexistent" synonym, sodass fiktive Existenz (im streng ontologischen Sinne) gleich Nichtexistenz ist. Bloße Fiktionen verdienen es doch nicht, zu den Entitäten gezählt werden. Es ist unbestritten, dass Zahlen und andere Arten von Abstrakta Denkgegenstände sind; doch das allein bedeutet für mich nicht, dass sie auch Seinsgegenstände sind.

darwin upheaval hat geschrieben:Aber Du hast insofern recht, als dass der Naturalismus eine zu schwache Position ist. Beachte bitte, dass ich vom Materialismus sprach. Ontologisch betrachtet ist dieser eine echte Teilmenge des Naturalismus.


Ja, wobei, wie gesagt, auch der Naturalismus zumindest substanzmaterialistisch ist: Alle Substanzen sind materielle Substanzen. (Substanzen sind per definitionem konkrete Objekte.)
Der Naturalismus verhält sich lediglich gegenüber dem Attributs-/Eigenschaftsdualismus neutral.

darwin upheaval hat geschrieben:Der Naturalismus schließt nur das Immaterielle nicht aus, das Transnaturale schon.


Doch in den Augen vieler Naturalisten sind abstrakte Entitäten eben nicht zu den natürlichen Entitäten zu zählen.

"[O]ne only needs to remember that ontological naturalism rules out at least three venerable positions—theism, Platonism and mind-body dualism. Neither a transcendent creator God, nor abstract entities beyond space and time, nor Cartesian souls, egos or selves are denizens of the spatio-temporal realm."

(Glock, Hans-Johann. What is Analytic Philosophy? Cambridge: Cambridge University Press, 2008. p. 144)

Dabei kommt es allerdings darauf an, von welcher Art von Abstrakta die Rede ist. So können beispielsweise platonische Universalien gewiss nicht als natürlich gelten, da sie die Raumzeitwelt transzendieren.
Ich denke jedoch mittlerweile, dass der ontologische Naturalismus bestimmte Arten von Abstrakta tolerieren kann (wenn man unter einem abstrakten Objekt ein Objekt versteht, das weder physischer noch psychischer Natur ist.) Die Gretchenfrage ist freilich: welche?
Es müssen sicher solche Abstrakta sein, die von Konkreta hinsichtlich ihres Seins und Werdens abhängig sind.

Was der Naturalismus auf jeden Fall ausschließt bzw. ausschließen sollte, sind—siehe oben!—immaterielle Substanzen, d.i. konkrete individuelle Objekte, die immateriell sind.

(Auch wenn man Naturalismus und Materialismus/Physikalismus nicht gleichsetzen will, so wird man doch ständig daran erinnert (ich zumindest), dass "übernatürlich" und "überphysisch" aus etymologischer Sicht praktisch synonym sind.)

darwin upheaval hat geschrieben:Immaterialismus ist nicht gleich Supranaturalismus. Ich kann an die reale Existenz von immateriellen Objekten glauben, ohne damit dem Transnaturalen zu huldigen. Alles Transnaturale ist immateriell, aber nicht alles Immaterielle transnatural!


Wie gesagt, konkrete immaterielle Objekte wie unkörperliche Bewusstseine/Geister/Seelen kommen im Rahmen einer naturalistischen Ontologie zweifellos nicht infrage, sondern nur bestimmte Arten von abstrakten immateriellen Objekten.
Und was nicht die natürlichen Dinge, sondern die natürlichen Eigenschaften betrifft, so können zu Letzteren meines Erachtens im Rahmen einer naturalistischen Ontologie auch nichtphysische Eigenschaften gezählt werden, insbesondere (ontologisch irreduzible) psychische Eigenschaften.
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