Was ist Naturalismus?

Re: und was ist ein "naturalist"?

Beitragvon Myron » So 12. Aug 2007, 17:09

Besserwisser hat geschrieben:Leicht off topic: Bei einem englischsprachigen Gedankenaustausch muss man mit einer Selbstcharakterisierung wie "I'm a naturalist." aufpassen. Es bedeutet zwar auch - wie im deutschsprachigen - "Naturalist" (Befürworter des Naturalismus), aber auch (und bevorzugt) "Naturgeschichtler" oder "Naturwissenschaftler". Siehe hierzu auch das Standbild http://radek.com/brights/funnies/Naturalist_Haroldo_Palo_Jr.jpg ;-) (entnommen aus "Making of ..." der BBC-Serie "Planet Erde")


Falls es ein Missverständnis gibt, kann man ja sagen: "I'm a philosophical naturalist."

Im Deutschen ist der Ausdruck "Naturalist" für einen Naturwissenschaftler oder Naturgeschichtler ungebräuchlich.
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Re: und was ist ein "naturalist"?

Beitragvon Ingo-Wolf Kittel » Fr 31. Aug 2007, 18:20

Besserwisser hat geschrieben:Im Deutschen ist der Ausdruck "Naturalist" für einen Naturwissenschaftler oder Naturgeschichtler ungebräuchlich.

In der Tat führt der Duden zu Naturalist lediglich an: "Vertreter des Naturalismus". Nur: was wird bis zur Kunst nicht alles unter Naturalismus verstanden?! Die Bezeichnung wird gelegentlich sogar in ganz anderem Zusammenhang gebraucht: begrifflich inkorrekt - weil man lt. Duden dann Naturist sagen müsste -, werden auch und das nicht einmal selten Nudisten als Naturalisten bezeichnet...

Der philosophische Naturalismus (als ein -ismus und damit als Ideologie) ist eine heiß diskutierte Position. Der Suhrkamp-Verlag hat dazu vor einigen Jahren einen eigenen Reader (stw 1450) herausgebracht, nämlich Naturalismus. Philosophische Beiträge; einer der Herausgeber dieses Büchls hat sich mit einer Kritik des Naturalismus sogar zum Thema habilitiert!

Eine der Schwierigkeiten "Naturalismus" zu definieren, und zwar die wohl gravierendste ergibt sich aus der Unklarheit des vorausgesetzten Wissenschaftsverständnisses; denn im englischen Sprachraum wird unter 'science' ja nicht einfach dem lateinischen scientia entsprechend "Wissenschaft" verstanden, sondern eingeschränkter "Naturwissenschaft". Ein ausschließlich auf Naturwissenschaften - prototypisch auf die Physik - gestützter Naturalismus ist jedoch nichts anderes als ein sprachlich lediglich anders bezeichneter Szientismus, eine Verkürzung, die im Extremfall auf einen Physikalismus hinausläuft, dessen historische Vorläufter der simple Mechanismus (oder Mechanizismus) und ideologische Materialismus waren.

Im Wissen um diese ideologiehistorischen Zusammenhänge finde ich übrigens die Definition "Ein Bright ist eine Person mit einem naturalistischen Weltbild" ausgesprochen unglücklich; mir persönlich würde 'natürlich' durchaus reichen - zur Kenntlichmachung der Abgrenzung zu religiösen Weltbildern jeder Art, gegen das ja die Bright-Bewegung eigentlich gerichtet ist, wenn ich richtig informiert bin...
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon LinuxBug » Fr 31. Aug 2007, 21:09

Willkommen im Forum :winken:

Also mir persönlich würde materialistisches Weltbild gefallen, allerdings werden sich die meisten Menschen auch was anderes darunter vorstellen.... (geldgierige Brights :kg: )

natürliches Weltbild ist mE nicht aussagekräftig genug: was soll das sein? Klingt auch irgendwie technologie- und damit fortschrittsfeindlich :/

Den Szientismusvorwurf kann ich jedenfalls nicht nachvollziehen, da wir (also ich zumindest) keine Positivisten, sondern Fallibilisten sind, was zwei völlig verschieden Sachen sind =)

In dem Zusammenhang möchte ich noch auf diesen Artikel von Gerhard Vollmer hinweisen, der vielleicht einige Missverständnisse aus der Welt schafft :up:
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Re: und was ist ein "naturalist"?

Beitragvon Kival » Fr 31. Aug 2007, 22:37

Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben:Der philosophische Naturalismus (als ein -ismus und damit als Ideologie) ist eine heiß diskutierte Position.


Das ist ein Verständnis von Ideologie, das jede Weltanschauung zur Ideologie - Im Sinne von Ideenlehre - macht. Kann man so sehen, ist aber m. E. nicht sonderlich sinnvoll.

Eine der Schwierigkeiten "Naturalismus" zu definieren, und zwar die wohl gravierendste ergibt sich aus der Unklarheit des vorausgesetzten Wissenschaftsverständnisses; denn im englischen Sprachraum wird unter 'science' ja nicht einfach dem lateinischen scientia entsprechend "Wissenschaft" verstanden, sondern eingeschränkter bloß "Naturwissenschaft". Ein ausschließlich auf Naturwissenschaften - prototypisch auf die Physik - gestützter Naturalismus ist jedoch nichts anderes als ein sprachlich lediglich anders bezeichneter Szientismus, eine Verkürzung, die im Extremfall auf einen Physikalismus hinausläuft, dessen historische Vorläufter der simple Mechanismus (oder Mechanizismus) und ideologische Materialismus waren.


Nur weil Mechanizismus und Materialismus Vorläufer des Physikalismus waren, sind diese nicht das gleiche und schon gar nicht ist ein Physikalismus automatisch ein Szientismus. So bin ich vermutlich Physikalist aber keineswegs Szientist. Und viele Naturalisten sind Physikalisten oder Materialisten also ist diese Implikation nicht unglücklich.
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Re: und was ist ein "naturalist"?

Beitragvon Myron » Sa 1. Sep 2007, 02:02

Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben:Der philosophische Naturalismus (als ein -ismus und damit als Ideologie) ist eine heiß diskutierte Position.


Es herrscht unter den Philosophen leider nach wie vor Uneinigkeit darüber, was genau jemand glauben muss, um zu Recht als Naturalist zu gelten.
Ich denke, dass der Naturalismus minimalerweise den Glauben an die Nichtexistenz körperloser Geister oder Seelen zu beinhalten hat. (Ein Naturalist muss demnach ein Nichttheist sein, da Götter, insbesondere der jüdisch-christlich-islamische Gott, körperlos-stofflose Geister sind.)

Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben:Im Wissen um diese ideologiehistorischen Zusammenhänge finde ich übrigens die Definition "Ein Bright ist eine Person mit einem naturalistischen Weltbild" ausgesprochen unglücklich; mir persönlich würde 'natürlich' durchaus reichen - zur Kenntlichmachung der Abgrenzung zu religiösen Weltbildern jeder Art, gegen das ja die Bright-Bewegung eigentlich gerichtet ist, wenn ich richtig informiert bin...


Mit "naturalistisch" wird der Inhalt eines Weltbildes beschrieben.
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Re: und was ist ein "naturalist"?

Beitragvon Myron » Sa 1. Sep 2007, 02:25

Kival hat geschrieben:Und viele Naturalisten sind Physikalisten oder Materialisten also ist diese Implikation nicht unglücklich.


Das lateinische "natura" entspricht übrigens dem griechischen "physis".
Eine mögliche (und, wie ich finde, gute) Definition des Naturalismus ist die folgende:

Naturalismus =def der Standpunkt, dass alles physisch ist oder vom Physischen abhängt.

(Diese Definition schließt den Glauben an körperlose Geister, an entkörperte Seelen, an leiblose Lebewesen aus.)

Nun bedarf es freilich noch einer genauen Bestimmung des Adjektivs "physisch".
Siehe dazu: http://plato.stanford.edu/entries/physicalism/#9
Der Begriff der (ontologischen) Abhängigkeit ist dagegen hinreichend klar definiert:
x ist von y genau dann (ontologisch) abhängig, wenn x nicht existieren kann, ohne dass y existiert.
(Zum Beispiel ist jede Psyche von demjenigen physischen Organismus abhängig, worin sie existiert.)
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Re: und was ist ein "naturalist"?

Beitragvon Kival » Sa 1. Sep 2007, 02:31

Myron hat geschrieben:
Kival hat geschrieben:Und viele Naturalisten sind Physikalisten oder Materialisten also ist diese Implikation nicht unglücklich.


Das lateinische "natura" entspricht übrigens dem griechischen "physis".(...)


Und da ich das nicht behauptet habe, ist dein Einwand irrelevant. ich habe behauptet, dass viele Naturalisten Physikalisten oder Materialisten sind. (einige) Physikalisten und Materialisten bilden also eine Untermenge des Naturalismus.
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Re: und was ist ein "naturalist"?

Beitragvon Kival » Sa 1. Sep 2007, 02:39

Kival hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:
Kival hat geschrieben:Und viele Naturalisten sind Physikalisten oder Materialisten also ist diese Implikation nicht unglücklich.


Das lateinische "natura" entspricht übrigens dem griechischen "physis".(...)


Und da ich das nicht behauptet habe, ist dein Einwand irrelevant. ich habe behauptet, dass viele Naturalisten Physikalisten oder Materialisten sind. (einige) Physikalisten und Materialisten bilden also eine Untermenge des Naturalismus.



Args. Bitte ignorieren. Ich habe da ein "nicht" gelesen, wo keins stand. :explodieren: Ich muss irgendwie einen Leseaussetzer gehabt haben. ich habe da irgendwie auf ein Posting reagiert, was da überhaupt nicht stand. Pawlowcher Reflex, oder so...
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Re: und was ist ein "naturalist"?

Beitragvon Myron » Sa 1. Sep 2007, 02:41

Kival hat geschrieben:Und da ich das nicht behauptet habe, ist dein Einwand irrelevant. ich habe behauptet, dass viele Naturalisten Physikalisten oder Materialisten sind. (einige) Physikalisten und Materialisten bilden also eine Untermenge des Naturalismus.


Mein Kommentar sollte kein Einwand gegen Deine Äußerung sein.
Ich frage mich allerdings, ob man Naturalist sein kann, ohne zugleich eine Art von Physikalist zu sein, das heißt, ohne zu glauben, dass alles physisch ist oder zum Physischen in der Beziehung der Dependenz, der Supervenienz oder der Emergenz steht.
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Re: und was ist ein "naturalist"?

Beitragvon Kival » So 2. Sep 2007, 15:01

Myron hat geschrieben:Mein Kommentar sollte kein Einwand gegen Deine Äußerung sein.



Ist mir im Nachhinein auch klar geworden. Verzeih bitte.
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon Ingo-Wolf Kittel » So 2. Sep 2007, 21:53

LinuxBug hat geschrieben:Willkommen im Forum :winken:


danke für den willkommmensgruss! hab mittlerweile zur MBSR schon einiges gepostet, ein thema, das mich wesentlich mehr interessiert - aus naheliegenden gründen: bin nämlich selbst einschlägig aktiv...
ganz kurz: wollte nicht vorschlagen, naturalistisch durch natürlich zu ersetzen; ich hatte ja geschrieben, dass mir dies (nur) rein persönlich lieb wäre - und mehr will ich damit auch nicht sagen. ich kenne selbst auch keinen ausdruck, der die assoziation zu 'szientistisch' ausschließt. streng wissenschaftstheoretisch ist naturalismus allerdings selten mehr als purer szientismus...
die alternativposition ist übrigens keine allgemein schon sehr bekannte philosophische posititon; sie ist erst in den letzten jahrzehnten entwickelt worden und zwar sogar hier in deutschlang: der (methodische) kulturalismus. wer hier im forum davon schon gehört oder gelesen hat: bitte melden!
Zuletzt geändert von Ingo-Wolf Kittel am Mo 3. Sep 2007, 18:58, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon Myron » So 2. Sep 2007, 23:12

Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben:die alternativposition ist übrigens keine allgemein schon sehr bekannte philosophische posititon; sie ist erst in den letzten jahrzehnten entwickelt worden und zwar sogar hier in deutschlang: der (methodische) kulturalismus. wer hier im forum davon schon gehört oder gelesen hat: bitte melden!


Ich hab gerade auf die Schnelle Folgendes dazu gelesen:

http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturalismus

"Peter Janich definiert Kulturalismus folgendermaßen: 'Kulturalismus bezeichnet in allgemeinster Form eine philosophisch-kritische Bezugnahme auf die Kultürlichkeit des Verhältnisses von Mensch und Welt und mit besonderem Gewicht eine gegen jede Form des Naturalismus gerichtete Betonung, daß alle menschlichen Hervorbringungen im Alltag, in den Wissenschaften und nicht zuletzt in der Philosophie selbst Kulturleistungen sind.'"

http://de.wikipedia.org/wiki/Methodischer_Kulturalismus

"Für den Methodischen Kulturalismus ist das Verhältnis des Menschen zur Natur hingegen durch sein Handeln bestimmt. Die Ergebnisse der menschlichen Praxis sind „kultürlich“. Dieser von Paul Lorenzen stammender Begriff wird bewusst zur Abgrenzung gegen „natürlich“ (siehe Abschnitt Kultur) verwendet. Erkannte Natur wird so zum kulturabhängigen Gegenstand. Naturalistische Erkenntnis- und Wahrheitstheorien haben insofern einen blinden Fleck in ihrer Sichtweise, als die zu findenden Kriterien nicht ein Ergebnis der Natur, sondern der Reflexion sind."

Selbstverständlich sind auch die Naturwissenschaften und deren Theorien Kulturprodukte, was aber mitnichten bedeutet, dass die naturwissenschaftlichen Gegenstände und ihre Eigenschaften selbst Kulturprodukte sind. Die Rede von einer Kulturabhängigkeit der Natur erscheint mir jedenfalls unsinnig. Aber anscheinend sind die Kulturalisten Antirealisten.
Dass die wissenschaftlichen Methoden, die wir bei der Erforschung der Natur einsetzen, kulturabhängig sind, ist eine Binsenweisheit, denn ohne das produktive kulturelle Handeln des Menschen gäbe es selbstverständlich keine Wissenschaften und kein methodisch-systematisch gewonnenes Wissen über die Natur.
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon Ingo-Wolf Kittel » Mo 3. Sep 2007, 10:41

Myron hat geschrieben: Selbstverständlich sind auch die Naturwissenschaften und deren Theorien Kulturprodukte... Dass die wissenschaftlichen Methoden, die wir bei der Erforschung der Natur einsetzen, kulturabhängig sind, ist eine Binsenweisheit, denn ohne das produktive kulturelle Handeln des Menschen gäbe es selbstverständlich keine Wissenschaften und kein methodisch-systematisch gewonnenes Wissen über die Natur.

eben - genau: 'selbstverständlich'! das hebst du ganz richtig hervor! sollte m.E. für jeden eine 'binsenweisheit' sein. und die ist ausgangsbasis für den methodischen kulturalismus, wenn ich richtig verstanden habe - mehr nicht.

Myron hat geschrieben: was aber mitnichten bedeutet, dass die naturwissenschaftlichen Gegenstände und ihre Eigenschaften selbst Kulturprodukte sind.

wenn du die in den natur- und wie überhaupt in den wissenschaften untersuchten 'gegenstände' meinst, stimme ich dir in gewissem umfang zu, bedenke jedoch immer folgende methodischen zusammenhänge mit:

wie alle 'wissen schaffenden' forscher 'definieren' (umgrenzen, begrenzen) auch die in den naturwissenschaften ihren untersuchungsbereich selbst. sie 'bestimmen' weiterhin auch die methoden, mit denen sie den ausgewählten phänomenbereich erforschen wollen, methoden, die dafür - wie etwa registrierinstrumente - z.T. sogar eigens erfunden und entwickelt, also überhaupt erst 'geschaffen' wurden, eine technische kulturleistung ersten ranges. damit legen wissenschaftler aber nicht nur art und umfang ihre forschung fest, sondern auch, wie die phänomene, die dabei registriert und 'untersucht' werden sollen, ihnen 'erscheinen'; genau deswegen werden sie 'phänomene' genannt... kulturabhängig sind dann zwar nicht diese phänomene, aber eben art und weise, wie sie von uns erfasst werden. das ist m.W. seit kopenhagen 1927 in der (quanten)physik standarderkenntnis und -wissen (geworden).

wieso hebst du deinerseits diese methodenkritische 'binsenweisheit' heraus? hast du bei deiner wikipedia-lektüre oder anderswo etwas anderes oder gar dazu gegensätzliches gefunden?

Myron hat geschrieben: Die Rede von einer Kulturabhängigkeit der Natur erscheint mir jedenfalls unsinnig.


so formuliert 'ist' sie auch unsinnig - weil sie methodisch unreflektiert ist. das ist doch beispielsweise der 'witz' der sog. 'evolutionären erkenntnistheorie': zu berücksichtigen, dass schon unsere sinnliche 'erkenntnis' - wie dort leider meist statt 'wahrnehmung' oft formuliert wird - vom bau unserer sinnesorgane abhängig ist. nur ist das historisch ein alter hut, ein ganz alter sogar; das hat zb. nicht nur schon goethe gewusst - das ist auch standardwissen im buddhismus, in dem sogar die begriffsabhängigkeit unseres denkens über zwei jahrtausende vor wittgenstein erkannt und reflektiert wurde - und seitdem sogar praktisch umgesetzt wird.

Myron hat geschrieben: Aber anscheinend sind die Kulturalisten Antirealisten.


wie ist dieser 'anschein' bei dir entstanden? auf anhieb kann ich nur vermuten, dass du vielleicht meinst, kulturalisten würden auf die methodisch unreflektierte grundlage des sog. 'naiven realismus' hinweisen. leider ist der allerdings weit verbreitet, aktuell zb. besonders schlimm bei manchen hirnforschern, wie ich als psychiater, psychologe und psychotherapeut immer wieder feststellen muss.

wissenschaftskritische, also methoden'bewusste' wissenschaftler reflektieren nicht nur ihre untersuchungsmethoden, sondern verlieren auch nicht die relation der damit gewonnenen daten aus den augen, wenn sie diese im weiteren dann theoriebezogen deuten oder interpretieren, die eigentliche und erkenntnistheoretisch relevante wissenschaftliche leistung, an der wir 'eigentlich' ja und am meisten interessiert sind.

im methodischen kulturalismus wird m.W. nichts weiter gemacht als diese methodische ordnung genau rekonstruiert und methodenkritisch reflektiert. 'mehr' habe ich schon im methodischen(!) oder philosophischen 'kontruktivismus' nie gesehen - im unterschied zu dem sich so 'radikal' gebenden, in dem dies meinem eindruck nach zumindest nicht genug geschieht.
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Re:

Beitragvon Max » Mo 3. Sep 2007, 13:07

Antidogmatismus ("Metaphysik ist gut, handfeste Physik ist besser")

Was hat Antidogmatismus mit dieser Aussage zu tun?

Nontheismus (Göttliche oder gottähnliche Wesen werden als mögliche Explanantia außer Acht gelassen)

Ja, aber ich würde das allgemeiner formulieren: Immanenzprinzip. Man kann natürliche Phänomene nur natürlich erklären. Scheitert dieses Prinzip, scheitert der Naturalismus mit ihm.
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon ostfriese » Mo 3. Sep 2007, 14:29

Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben:kulturalisten würden auf die methodisch unreflektierte grundlage des sog. 'naiven realismus' hinweisen. leider ist der allerdings weit verbreitet, aktuell zb. besonders schlimm bei manchen hirnforschern, wie ich als psychiater, psychologe und psychotherapeut immer wieder feststellen muss.

Ich muss leider immer wieder feststellen, dass manche Psychologen selbst den herausragendsten Hirnforschern "naiven Realismus" (womöglich noch mit klein geschriebenem "n"?) unterstellen, weil sie (die Psychologen) sich weigern einzusehen, dass einige ihrer lieb gewonnenen Konstrukte zur Beschreibung der Wirklichkeit ausgedient haben, seit sich ihr postulierter Realitätsbezug als illusionär erwiesen hat.

Die Kultur ist ein natürliches Phänomen, nicht umgekehrt.
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon Myron » Mo 3. Sep 2007, 16:57

Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben:wie alle 'wissen schaffenden' forscher 'definieren' (umgrenzen, begrenzen) auch die in den naturwissenschaften ihren untersuchungsbereich selbst. sie 'bestimmen' weiterhin auch die methoden, mit denen sie den ausgewählten phänomenbereich erforschen wollen, methoden, die dafür - wie etwa registrierinstrumente - z.T. sogar eigens erfunden und entwickelt, also überhaupt erst 'geschaffen' wurden, eine technische kulturleistung ersten ranges. damit legen wissenschaftler aber nicht nur art und umfang ihre forschung fest, sondern auch, wie die phänomene, die dabei registriert und 'untersucht' werden sollen, ihnen 'erscheinen'; genau deswegen werden sie 'phänomene' genannt... kulturabhängig sind dann zwar nicht diese phänomene, aber eben art und weise, wie sie von uns erfasst werden. das ist m.W. seit kopenhagen 1927 in der (quanten)physik standarderkenntnis und -wissen (geworden).


Die Wissenschaftler definieren die Terminologie, die 'Begriffsschemata', mittels deren sie ihren Untersuchungsbereich repräsentieren, mehr oder minder willkürlich. Diese sind konventioneller Natur, was die Realität aber nicht zu etwas Repräsentationsabhängigem macht.

"Die Tatsache, dass alternative begriffliche Schemata verschiedene Beschreibungen derselben Wirklichkeit zulassen und dass es keine Beschreibungen der Wirklichkeit außerhalb aller begrifflichen Schemata gibt, hat nicht die geringste Auswirkung auf die Wahrheit des Realismus."

(Searle, John R. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Übers. M. Suhr. Reinbek: Rowohlt, 1997. S. 174)

Wir bestimmen zwar zum Teil die Art und Weise, wie die uns erscheinenden Naturdinge zum Vorschein kommen, aber wir bestimmen nicht das Wesen der Natur. Die Kultur produziert diverse Naturrepräsentationen, aber nicht die Natur. (Natürlich produziert sie unzählige materielle Dinge wie Autos und Computer, die es "in der freien Wildbahn" nicht gibt.)

Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben:
Myron hat geschrieben: Aber anscheinend sind die Kulturalisten Antirealisten.

wie ist dieser 'anschein' bei dir entstanden?


Dadurch:

"Die Annahme einer realen, vom Subjekt unabhängigen Welt kann nach Auffassung des Methodischen Kulturalismus den empirischen Gehalt einer Theorie und die Qualität von Prognosen nicht verbessern. Die Schlussfolgerungen eines wie kritisch auch immer gearteten Realismus sind danach notwendig zirkulär, weil diese stets die Kenntnis des zu Erkennenden voraussetzen. Die Überlegung, dass es eine Wirklichkeit außerhalb des menschlichen Bewusstseins gibt, wird als Metaphysik abgelehnt."

(http://de.wikipedia.org/wiki/Methodisch ... ssenschaft)

Das klingt verdammt antirealistisch. (Dass Wikipedia nicht immer die zuverlässigste Quelle ist, ist mir bewusst.)
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon Myron » Mo 3. Sep 2007, 17:24

ostfriese hat geschrieben:Die Kultur ist ein natürliches Phänomen, nicht umgekehrt.


Sic! Sie ist nichts Widernatürliches.
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon Myron » Mo 3. Sep 2007, 18:24

Außer dem Wikipedia-Artikel konnte ich im Internet kaum etwas zum Methodischen Kulturalismus finden.

"Geht der Naturalismus davon aus, dass alles Naturgeschehen (unter das letztlich dann auch das menschliche Handeln und Kultur gehören) vollständig mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden beschreibbar und kausal erklärbar sei, so betrachtet der Methodische Kulturalismus die (prinzipiell) erkannte Natur als kulturabhängigen Gegenstand und fasst Theorien nicht als Abbildungen von Natur und immer schon gegebenen Naturgesetzen auf, sondern als 'empirisch bewährtes technisches Bewirkungs- und Prognosewissen'."

(Janich, Nina. Die bewusste Entscheidung: Eine handlungstheoretische Theorie der Sprachkultur. Tübingen: Narr, 2004. S. 18)

Der MK scheint also durchaus antirealistisch zu sein.
Ich bestreite übrigens, dass man als Naturalist ein methodologischer Reduktionist sein muss, der die spezielle sozialwissenschaftliche Methodologie ignoriert.
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon ostfriese » Mo 3. Sep 2007, 18:30

"Die Annahme einer realen, vom Subjekt unabhängigen Welt kann nach Auffassung des Methodischen Kulturalismus den empirischen Gehalt einer Theorie und die Qualität von Prognosen nicht verbessern. Die Schlussfolgerungen eines wie kritisch auch immer gearteten Realismus sind danach notwendig zirkulär, weil diese stets die Kenntnis des zu Erkennenden voraussetzen. Die Überlegung, dass es eine Wirklichkeit außerhalb des menschlichen Bewusstseins gibt, wird als Metaphysik abgelehnt."

Klar, der hypothetische Realismus ist eine metaphysische Annahme. Aber der Konstruktivismus schneidet in der Hinsicht ja keineswegs besser ab als der Naturalismus. Die einzige Auffassung, die ohne Metaphysik auskommt, ist der Solipsismus. Und der ist bekanntlich keine WELTanschauung.

Dawkins hat auf die Evolution von Memen hingewiesen. Wie erklärt der Konstruktivist, warum sich bestimmte Meme durchsetzen? Gene stezen sich durch, wenn ihre Träger sich erfolgreich anpassen und fortpflanzen. Gibt es eine vergleichbare kulturelle Auslese? Ja, aber nur auf der Basis von intersubjektiver Kommunikation. Nach welchen Kriterien stellen wir fest, welche Konstrukte intersubjektiv nützlich sind? Woran messen wir die Qualität einer Informationsübertragung?

Ich habe noch niemanden getroffen, der dabei ohne die Annahme einer bewusstseinsunabhängigen Außenwelt auskommt, ob er das nun zugibt oder nicht. Wir sind alle hypothetische Realisten, und das liegt mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit schlicht daran, dass diese Außenwelt tatsächlich existiert.
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Re: Was ist Naturalismus?

Beitragvon Max » Mo 3. Sep 2007, 18:45

"Geht der Naturalismus davon aus, dass alles Naturgeschehen (unter das letztlich dann auch das menschliche Handeln und Kultur gehören) vollständig mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden beschreibbar und kausal erklärbar sei, so betrachtet der Methodische Kulturalismus die (prinzipiell) erkannte Natur als kulturabhängigen Gegenstand und fasst Theorien nicht als Abbildungen von Natur und immer schon gegebenen Naturgesetzen auf, sondern als 'empirisch bewährtes technisches Bewirkungs- und Prognosewissen'."

Das wirkt wie eine Mischung aus Kulturrelativismus und Pragmatismus.

fasst Theorien nicht als Abbildungen von Natur und immer schon gegebenen Naturgesetzen auf

Wer macht denn das? Das Wort "Theorie" impliziert einen hypothetischen Charakter. Der Mensch erfindet Theorien und diese können anschließend wahr sein (der Realität entsprechen) und sich damit bewähren oder eben falsch und scheitern, wenn man sie einer kritischen Prüfung aussetzt. Naturgesetze sind dabei nicht immer schon gegeben, sondern Theorien; der Mensch beschreibt sie nicht, sondern schreibt sie der Natur vor (Kant).
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