Thema Altruismus mal wieder

Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon AgentProvocateur » Mi 25. Aug 2010, 20:38

ganimed hat geschrieben:Ich sollte doch meine These falsifizieren. Die wäre aber sogar mit einem Beispiel ohne Dritte falsifiziert. Meine These lautet ja nicht nur, dass es keinen Altruismus gibt, sondern sie geht sogar noch weiter: es gibt nicht einmal absichtliche Handlungen die nicht zum eigenen Vorteil sind. Diese noch weitergehende Behauptung ist entsprechend noch einfacher zu falsifizieren.

Moment mal, hier ist etwas schief gelaufen. Wir reden über Altruismus. Deine von mir akzeptierte Definition war:

"Egoistisch ist eine Handlung dann, wenn ihre (Haupt-)Absicht war, die Bedürfnisse des Handelnden zu befriedigen. Altruistisch ist eine Handlung dann, wenn ihre (Haupt-)Absicht war, die Bedürfnisse anderer zu befriedigen."

Eine altruistische Handlung zugunsten eines Dritten kann also demnach sehr wohl auch einen eigenen Vorteil beinhalten, (sagen wir eine Zufriedenheit mit sich selber), solange die Nachteile für einen selber größer sind als die Vorteile.

ganimed hat geschrieben:Aber bitte, die Beispiele liegen schließlich nur so rum: Ein Mann sitzt alleine in der Wüste und gibt sein Wasser einem fremden Passanten. Er ist kurz vorm Verdursten, möchte gerne weiterleben, hat noch einen Liter Wasser, erwartet in 12 Stunden eine Karawane die Rettung bringt, zu Hause warten viele Freunde, eine intakte Familie, Ruhm und Reichtum, er ist ansonsten kerngesund, alles ist gut. Aber er gibt sein Wasser dem Passanten, von dem er nur weiß, dass dieser ein todkranker Triebmörder ist, der ebenfalls in spätestens 3 Tagen sterben wird.

Okay, das wäre absolut altruistisch.

Aber ich hätte gerne auch noch ein Beispiel für einen Fall, der nicht so absolut altruistisch und der halbwegs nachvollziehbar ist. Denn über absoluten Altruismus haben wir bisher nicht gesprochen. Ich habe nicht behauptet, dass es sowas gibt. Keine Ahnung, ich kann ja dieses Handeln im Beispiel noch nicht mal im Ansatz nachvollziehen. Mir fällt kein Grund ein, wieso jemand so etwas tun könnte.

Wieso war jetzt nochmal der Judenverstecker im Nationalsozialismus kein gutes Beispiel?
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Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon ganimed » Mi 25. Aug 2010, 21:15

Ich behaupte, dass das Gehirn bei jeder Entscheidung seine Vorteile maximieren möchte. Wenn ich genauer drüber nachdenke, heißt das nicht, dass bei jeder Handlung der Vorteil größer ist als die Nachteile. Es kann ja in einer Zwangslage nötig sein, das geringste Übel zu wählen. Jede Handlungsalternative hätte eine negative Bilanz, die Nachteile wären größer als die Vorteile.

Dann nähme man die Alternative, wo die Differenz am geringsten ist, auch wenn dabei die Nachteile die Vorteile noch überwiegen. Nach der Definition "altruistisch = Nachteile > Vorteile" wäre das dann altruistisch. Dennoch würde wohl niemand dieses Verhalten als altruistisch bezeichnen, da ja nach wie vor nur das eigene Kalkül im Vordergrund steht.

Ich würde also doch die folgende Definition bevorzugen:
    "Egoistisch ist eine Handlung dann, wenn ihre (Haupt-)Absicht war, die Bedürfnisse des Handelnden zu befriedigen. Altruistisch ist eine Handlung dann, wenn ihre (Haupt-)Absicht war, die Bedürfnisse anderer zu befriedigen."

Zum Wasserabgebbeispiel:
AgentProvocateur hat geschrieben:Okay, das wäre absolut altruistisch. ... Mir fällt kein Grund ein, wieso jemand so etwas tun könnte.

Mir fällt auch kein Grund ein. Aber das ist genau mein Problem bei jeder angeblich altruistischen Handlung. Mir ist bis zum heutigen Tag noch kein Grund eingefallen, wieso man seinen eigenen Nachteil mehren und seinen eigenen Vorteil mindern sollte. Und ich glaube, so einen Grund gibt es auch nicht. Und daher ist das "normale" altruistische Verhalten genau so undenkbar wie das "absolut" altruistische.

AgentProvocateur hat geschrieben:Wieso war jetzt nochmal der Judenverstecker im Nationalsozialismus kein gutes Beispiel?

Weil der Judenverstecker ja egoistisch handelte. Der Grund für seine Handlung war die Befriedigung seiner Bedürfnisse und die Mehrung seiner Vorteile. Zumindest hat die Beschreibung des Beispiels das bisher nicht ausgeschlossen.

Und wenn du nun das Beispiel mit dem Judenverstecker um einige Details bereichern würdest, die explizit alle möglichen Gründe ausschließen würden, dann wäre es echter Altruismus, weil der Judenverstecker ja dann keine Vorteile mehr davon hätte. Aber genau dann würden wir beide uns wieder sagen: mir fällt kein Grund ein, wieso jemand so etwas tun könnte.
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Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon AgentProvocateur » Mi 25. Aug 2010, 22:10

ganimed hat geschrieben:Zum Wasserabgebbeispiel:
AgentProvocateur hat geschrieben:Okay, das wäre absolut altruistisch. ... Mir fällt kein Grund ein, wieso jemand so etwas tun könnte.

Mir fällt auch kein Grund ein. Aber das ist genau mein Problem bei jeder angeblich altruistischen Handlung. Mir ist bis zum heutigen Tag noch kein Grund eingefallen, wieso man seinen eigenen Nachteil mehren und seinen eigenen Vorteil mindern sollte. Und ich glaube, so einen Grund gibt es auch nicht. Und daher ist das "normale" altruistische Verhalten genau so undenkbar wie das "absolut" altruistische.

Dass jemand ohne Gründe handelt ist einfach nicht vorstellbar (und mE auch nicht möglich, denn der Begriff 'Handlung' beinhaltet mE eine Abwägung von Gründen). Das ist das Problem mit Deinem Beispiel, dass mir dabei keine nachvollziehbaren Gründe einfallen.

Und dann kommt es schlicht darauf an, was man als persönlichen Vorteil und was als persönlichen Nachteil bei Dritten ansieht und wie man die zueinander gewichtet, (ohne letztlich wissen zu könne, wie der Dritte gewichtet).

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Wieso war jetzt nochmal der Judenverstecker im Nationalsozialismus kein gutes Beispiel?

Weil der Judenverstecker ja egoistisch handelte. Der Grund für seine Handlung war die Befriedigung seiner Bedürfnisse und die Mehrung seiner Vorteile. Zumindest hat die Beschreibung des Beispiels das bisher nicht ausgeschlossen.

Naja, auschließen kann ich das auch nicht. Das kann niemand, man muss einfach versuchen, zu verstehen, wieso die das gemacht haben:

Wikipedia - Altruismus hat geschrieben: * Judenrettung zur Zeit des NS-Regimes

Der amerikanische Soziologe Samuel P. Oliner, der selbst als jüdisches Kind vor den Nationalsozialisten von Polen versteckt und dadurch gerettet worden ist, war durch diese Erfahrung so beeindruckt, dass er sein Lebenswerk der Erforschung dieser besonderen Art von Altruismus, die sich bei Judenrettern gezeigt hat, gewidmet hat. Oliner spricht von heroischem oder Courage-Altruismus. Die Menschen, die solchen Altruismus zeigen, werden im englischen Sprachraum auch als „moral exemplars“ bezeichnet. Neben den Arbeiten Oliners und anderen sind auch die Forschungen der Politikwissenschaftlerin Kristen Renwick Monroe bekannt geworden. Monroe weist Erklärungsversuche, auch bei solchen Rettungsaktionen habe eine nutzenmaximierende Wahlhandlung stattgefunden] zurück und präferiert eine Theorie, die solche Rettungstätigkeiten als Resultat von sozialer Identität (Verbundenheit, Bezogenheit), moralischer Integrität und Identifikation mit den Opfern (Perspektivenübernahme) ansieht. Der heroische oder Courage-Altruismus, wie ihn Retter z. B. während des Holocaust gezeigt haben, hat eine besondere Ausprägung: Um anderen Menschen zu helfen, wird in manchen Fällen nicht nur das eigene Leben aufs Spiel gesetzt, sondern auch das Leben der eigenen Familien und von Freunden, ohne zuvor um deren Einverständnis nachzusuchen.

Einen Nachweis über die tatsächlich zugrundeliegenden Motive kann es nicht geben. Man kann nur spekulieren und man kann dann zu verschiedenen Auffassungen kommen.

Ich schließe mich Monroe an, Du nicht, das ist zwar okay, aber letztlich hast Du nicht mehr als ich: eine Spekulation. Wir haben anscheinend unterschiedliche Plausibilitätsgrundlagen. Mein Problem ist nun nur, dass Du behauptest, Du hättest recht, das sei selbstverständlich, bzw. begründbar. So wie Macks das auch behauptet hat. Ich meine immer noch, dass Du Deine Prämisse: 'das Gehirn will seinen Nutzen maximieren' einfach als unbegründete Prämisse hineinsteckst und Dir daraufhin alle Handlungen so hininterpretierst, dass die Prämisse wahr bleibt.
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Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon ganimed » Do 26. Aug 2010, 20:42

Monroe weist Erklärungsversuche, auch bei solchen Rettungsaktionen habe eine nutzenmaximierende Wahlhandlung stattgefunden] zurück und präferiert eine Theorie, die solche Rettungstätigkeiten als Resultat von sozialer Identität (Verbundenheit, Bezogenheit), moralischer Integrität und Identifikation mit den Opfern (Perspektivenübernahme) ansieht.

Ich finde, hier liegt lediglich ein Missverständnis aufgrund inkonsequent genutzter Begriffe vor. Ich sehe es einerseits wie Monroe: die Motive liegen sicher bei sowas wie sozialer Identität, moralischer Integrität und Empatie. Ich wundere mich nur, dass sie die Erfüllung dieser Bedürfnisse nicht als Nutzen ansieht. Liegt hier vielleicht das Missverständnis zugrunde, dass ein Nutzen von Monroe immer materialistisch und weniger ideell gedacht wird? Eine solche Einseitigkeit des Begriffs fände ich falsch.

AgentProvocateur hat geschrieben:Einen Nachweis über die tatsächlich zugrundeliegenden Motive kann es nicht geben. Man kann nur spekulieren und man kann dann zu verschiedenen Auffassungen kommen.

Richtig. Die genaue Menge der Motive und ihre jeweilige Wichtung ist so ohne weiteres nicht zu ermitteln. Sicher scheint nur zu sein, dass es Motive gibt. Trotz aller Unsicherheit über die Motive verstehe ich nicht recht, wie man plötzlich "negative" Motive, also den Wunsch sich selber eher zu schaden, als Motiv einführen kann. Das widerspricht halt meiner Intuition und meiner bisherigen Welterfahrung. Auch bei einer Pralinenschachtel kann man nur spekulieren was man kriegt, wie Forrest Gump sagte. Aber bei aller Unsicherheit würde wohl niemand behaupten, dass etwas anderes als Pralinen drin ist.

AgentProvocateur hat geschrieben:Ich meine immer noch, dass Du Deine Prämisse: 'das Gehirn will seinen Nutzen maximieren' einfach als unbegründete Prämisse hineinsteckst

Unbegründet Prämisse? Vielleicht kann man hier nochmal nachhaken. Was ist eigentlich mit meiner Begründung des Evolutionshintergrundes? Dass sich unter Selektionsdruck nur Gehirne entwickeln können, die ihren Vorteil maximieren. Vielleicht habe ich etwas überlesen, aber ich erinnere mich nicht, dass du dich dazu kritisch geäußert hättest (außer mit dem Hinweis, dass dir ein Themenwechsel an der Stelle nicht behagte). Hälst du es wirklich für plausibel, dass sich in der Entwicklung des Menschen Gehirne durchsetzten, die sich einfach mal so für mehr Schaden als Nutzen entscheiden? Gewinnt am Ende wirklich der Sprinter, der aus Höflichkeit anderen den Vortritt lässt?
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Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon AgentProvocateur » Do 26. Aug 2010, 21:58

ganimed hat geschrieben:Ich finde, hier liegt lediglich ein Missverständnis aufgrund inkonsequent genutzter Begriffe vor. Ich sehe es einerseits wie Monroe: die Motive liegen sicher bei sowas wie sozialer Identität, moralischer Integrität und Empatie. Ich wundere mich nur, dass sie die Erfüllung dieser Bedürfnisse nicht als Nutzen ansieht. Liegt hier vielleicht das Missverständnis zugrunde, dass ein Nutzen von Monroe immer materialistisch und weniger ideell gedacht wird? Eine solche Einseitigkeit des Begriffs fände ich falsch.

Nein, es geht hier einfach darum, dass sich Nachteile für den Helfenden ergeben, die seinen Nutzen überschreiten. Und das ist eben Altruismus. (->"Altruistisch ist eine Handlung dann, wenn ihre (Haupt-)Absicht war, die Bedürfnisse anderer zu befriedigen.") Das bedeutet ja nun nicht, dass er überhaupt keinen Nutzen haben könne.

ganimed hat geschrieben:Die genaue Menge der Motive und ihre jeweilige Wichtung ist so ohne weiteres nicht zu ermitteln. Sicher scheint nur zu sein, dass es Motive gibt. Trotz aller Unsicherheit über die Motive verstehe ich nicht recht, wie man plötzlich "negative" Motive, also den Wunsch sich selber eher zu schaden, als Motiv einführen kann. Das widerspricht halt meiner Intuition und meiner bisherigen Welterfahrung. Auch bei einer Pralinenschachtel kann man nur spekulieren was man kriegt, wie Forrest Gump sagte. Aber bei aller Unsicherheit würde wohl niemand behaupten, dass etwas anderes als Pralinen drin ist.

Hm, 'negative Motive'? Es geht doch einfach nur darum, dass Altruismus bedeutet, dass man Motive haben kann, die einem anderen Nutzen bringen und dass man dadurch selber mehr Schaden als Nutzen hat.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Ich meine immer noch, dass Du Deine Prämisse: 'das Gehirn will seinen Nutzen maximieren' einfach als unbegründete Prämisse hineinsteckst

Unbegründet Prämisse? Vielleicht kann man hier nochmal nachhaken. Was ist eigentlich mit meiner Begründung des Evolutionshintergrundes? Dass sich unter Selektionsdruck nur Gehirne entwickeln können, die ihren Vorteil maximieren. Vielleicht habe ich etwas überlesen, aber ich erinnere mich nicht, dass du dich dazu kritisch geäußert hättest (außer mit dem Hinweis, dass dir ein Themenwechsel an der Stelle nicht behagte). Hälst du es wirklich für plausibel, dass sich in der Entwicklung des Menschen Gehirne durchsetzten, die sich einfach mal so für mehr Schaden als Nutzen entscheiden? Gewinnt am Ende wirklich der Sprinter, der aus Höflichkeit anderen den Vortritt lässt?

Mit dem Argument kann ich nicht viel anfangen. Natürlich würden Menschen oder auch Tiere, die immer nur altruistisch handeln würden, nicht weit kommen, vielleicht auch nicht überleben, vielleicht sich nicht langfristig fortpflanzen können. Aber darum geht es doch gar nicht. Es geht lediglich darum, ob es berechtigt ist, zu sagen, dass Menschen manchmal altruistisch handeln.

('Evolutionärer Altruismus' ist mE etwas anderes und hat zu dem hier diskutierten Begriff zwar Bezüge, ist aber nicht identisch. Daher finde ich, das wäre ein anderes Thema, als das, was wir gerade besprechen.)
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Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon ganimed » Sa 28. Aug 2010, 23:21

AgentProvocateur hat geschrieben:es geht hier einfach darum, dass sich Nachteile für den Helfenden ergeben, die seinen Nutzen überschreiten.

Monroe, du und ich, wir alle glauben, dass der Judenverstecker es aus Motiven wie Identität, Integrität und Empatie tut. Diese drei Wörter sind eigentlich aber nicht die Motive, sondern es sind zunächst einmal psychologische Bedürfnisse und Mechanismen. Das Motiv ergibt sich jeweils daraus, dass es für das Gehirn doch alles in allem schön wäre, wenn die soziale Identität und die moralische Integrität gewahrt blieben, während die Empatie die Leiden der Juden vermittelt und es für das Gehirn schön wäre, dieses mitgefühlte Leid zu lindern. Das sind also die Motive, und geht man denen nach, dann ergibt sich für das Gehirn ein Nutzen. Würdest du bis hierher zustimmen?
Dadurch, dass die Juden versteckt werden ergeben sich natürlich auch gravierende Nachteile: Angst entdeckt und bestraft zu werden zum Beispiel.

Aus deinem Zitat über Monroe geht nicht ganz klar hervor, wieso sie die Nutzenmaximierungs-Strategie des Hirn genau zurückweist. Es wird lediglich gesagt, dass sie diese Theorie zurückweist und (stattdessen) die oben genannten Motive anführt. Aber zumindest ich als Vertreter der Nutzenmaximierer bin mit diesen Motiven ja einverstanden.

Aus deinem Zitat entnehme ich, dass du die Nutzenmaximierungs-Strategie zurückweist, weil die Nachteile den Nutzen überschreiten. Wenn ich oben nichts vergessen habe aufzuzählen, bedeutet dass, das die Angst (Nachteil) größer ist als die Vorteile (Identität, Integrität, Empatie)? Aber woher weisst du das eigentlich? Oder wieso nimmst du es an? Wir sind wohl beide der Meinung, dass die genaue quantitative Abschätzung, wie groß die einzelnen Posten wiegen, kaum jemals exakt gelingen kann. Dennoch behauptest du, die Nachteile überwiegen und ich behaupte, die Vorteile überwiegen. Welchen Grund hast du? Ich habe einen: nur wenn die Vorteile überwiegen, macht es (laut meiner begründeten Prämisse) Sinn für das Gehirn, sich für das Judenverstecken zu entscheiden.
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Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 30. Aug 2010, 15:01

Ich nehme das deswegen an, weil ich von mir auf andere schließe. Was würde es in diesem Zusammenhang bedeuten, diese Angst zu haben? Was würde für mich soziale Identität, Integrität und Empathie bedeuten?

Wie würde ich entscheiden, wenn ich meine Vorteile und Grundbedürfnisse maximieren wollte? Dann würde ich mich dagegen entscheiden, mich in so große Gefahr zu begeben. Ebenso wie ich mich dann nie auf die scharfe Granate werfen würde.

Aber wenn ich nicht nur meine Vorteile maximieren wollte, sondern auch die Bedürfnisse anderer berücksichtigen will, dann könnte es anders aussehen.

Übrigens: an Deine Sprechweise 'für das Gehirn wäre es schön' und 'das Gehirn entscheidet' werde ich mich nie gewöhnen können. Das hört sich für mich einfach nur absurd an, ist mE ein Kategorienfehler. Das Gehirn als Homunkulus, der an unserer Stelle für uns entscheidet.
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Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon ganimed » Mo 30. Aug 2010, 19:59

Deine Antwort scheint mir nicht ganz eindeutig, und das wo es gerade so spannend ist :)
AgentProvocateur hat geschrieben:Ich nehme das deswegen an, weil ich von mir auf andere schließe. Was würde es in diesem Zusammenhang bedeuten, diese Angst zu haben? Was würde für mich soziale Identität, Integrität und Empathie bedeuten?

Du nimmst an, dass die Angst (Nachteile) beim Judenverstecker größer ist als die Motive (Vorteile). Und diese Annahme begründest du mit dem Schließen von dir auf andere. Wie meinst du das? Wäre bei dir die Angst ebenfalls größer als der Wunsch nach Identität, Integrität und Leidverminderung? Würdest du denn trotzdem Juden verstecken? Und wenn ja, was wäre dann der Grund dafür? (Die genannten Motive können es nicht sein, denn die wurden ja bereits durch die Angst übertrumpft).

Ich persönlich wäre vermutlich wirklich viel zu feige, in ähnlicher Situation so edel zu handeln wie ein Judenverstecker. Meine Angst wäre vermutlich wirklich der überwiegende Faktor und deshalb würde ich es nicht machen. Aber das deckt sich mit dem Modell. Ich würde Vorteils-maximierend handeln. Und ich könnte nicht von mir auf andere schließen, weil die Größe der Angst und die Stärke der Motive jeweils individuelle höchst unterschiedlich stark vorliegen.

AgentProvocateur hat geschrieben:Das Gehirn als Homunkulus, der an unserer Stelle für uns entscheidet.

Meine Begriffswahl "Gehirn" vs. "Ich" steht auf tönernden Füßen. So richtig Gedanken habe ich mir hier noch nicht gemacht. Die Definition von "Ich" scheint mir recht schwierig. Einerseits ist damit der ganze Mensch als Entität gemeint (wobei das Gehirn nur eine kleine Untermenge wäre). Andererseits kann aber doch auch das "erlebte Ich" gemeint sein, also der bewusste Teil des Denkens, der diese Identifikation durchführt. Und diese zweite Ich-Definition wäre wiederum eine Untermenge des Gehirns (zu dem ja noch unterbewusste Teile gehören). Wenn ich die Hirnforscher bisher richtig verstehe, werden unsere Entscheidungen (die bewussten zumindest) durch die Zusammenarbeit von bewusst und unbewusst getroffen. Ich bin mir daher nicht ganz sicher, ob es richtig wäre, dem Erlebnis-Ich Entscheidungen zuzusprechen.
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Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 3. Sep 2010, 00:27

Vielleicht mal ein kleines Resumee zum Thema.

Es gibt zwei unterschiedliche Standpunkte bezüglich Altruismus. (Siehe auch dort in Kurzform.)

1. Der 'Kosten und Nutzen'-Standpunkt, der letztlich bedeutet, dass wahrer Altruismus nicht existieren kann.

2. Die 'Empathie-Altruismus'-Hypothese, die davon ausgeht, dass es (manchmal) echten Altruismus gibt.

(Zum Thema noch was Ausführlicheres, zu Punkt 2 siehe S. 26 - 30, inkl. Experimenten dazu).

Du neigst nun zu Auffassung 1, ich zu 2. Letztlich kann wohl keiner von uns seinen Standpunkt so darstellen, dass er den anderen überzeugt, wie sich gezeigt hat.

Wir können uns auf ein Patt einigen, wir werden wohl unsere Meinungen dazu nicht ändern und jeder andere muss für sich entscheiden, was er für plausibler hält.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Das Gehirn als Homunkulus, der an unserer Stelle für uns entscheidet.

Meine Begriffswahl "Gehirn" vs. "Ich" steht auf tönernden Füßen. So richtig Gedanken habe ich mir hier noch nicht gemacht. Die Definition von "Ich" scheint mir recht schwierig. Einerseits ist damit der ganze Mensch als Entität gemeint (wobei das Gehirn nur eine kleine Untermenge wäre).

Ja, der Begriff dafür ist gemeinhin 'Person'.

ganimed hat geschrieben:Andererseits kann aber doch auch das "erlebte Ich" gemeint sein, also der bewusste Teil des Denkens, der diese Identifikation durchführt. Und diese zweite Ich-Definition wäre wiederum eine Untermenge des Gehirns (zu dem ja noch unterbewusste Teile gehören). Wenn ich die Hirnforscher bisher richtig verstehe, werden unsere Entscheidungen (die bewussten zumindest) durch die Zusammenarbeit von bewusst und unbewusst getroffen. Ich bin mir daher nicht ganz sicher, ob es richtig wäre, dem Erlebnis-Ich Entscheidungen zuzusprechen.

Natürlich kann das 'Erlebnis-Ich' (als abgeschlossene Entität betrachtet) keine Entscheidungen treffen, das ist selbstverständlich. Mir scheint, die Hirnforscher schlagen da auf einen Pappkameraden ein, wenn sie das tatsächlich zugrunde legen. Aber auch das Gehirn kann keine Entscheidungen treffen. Es gibt keinen Homunkulus. Personen treffen Entscheidungen. Und ich meine normalerweise, wenn ich 'ich' sage, mich als Person. Und ich glaube, die anderen Leute tun das auch.

Und zur Person gehören auch unbewusste Motive und dergleichen. Wiewohl es sehr interessant ist, zu untersuchen, inwieweit die einen Einfluss auf Entscheidungen haben und es auch sein mag, dass man den oft unterschätzt, ist es mE nicht so, dass viele Leute ernsthaft glauben, sie seien völlig rationale Wesen.
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Re: Thema Altruismus mal wieder

Beitragvon smalonius » Fr 3. Sep 2010, 17:21

AgentProvocateur hat geschrieben:Es gibt zwei unterschiedliche Standpunkte bezüglich Altruismus. (Siehe auch dort in Kurzform.)

Aus dem Link:

Schon Charles Darwin erkannte, dass altruistisches Verhalten im Prozess des „Survival of the fittest“ nur schwer unterzubringen ist.

Der arme Darwin. Noch immer wird er mißverstanden.

Darwin - Die Abstammung des Menschen - Fünftes Capitel.

Es darf nicht vergessen werden, dass, wenn auch eine hohe Stufe der Moralität nur einen geringen oder gar keinen Vortheil für jeden individuellen Menschen und seine Kinder über die andern Menschen in einem und demselben Stamme darbietet, doch eine Zunahme in der Zahl gut begabter Menschen und ein Fortschritt in dem allgemeinen Maassstab der Moralität sicher dem einen Stamm einen unendlichen Vortheil über einen andern verleiht. Ein Stamm, welcher viele Glieder umfasst, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muths und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, wird über die meisten andern Stamme den Sieg davontragen; und dies würde natürliche Zuchtwahl sein.

http://de.wikisource.org/wiki/Die_Absta ... uchtwahl_I

Die beiden Wilsons, Edward O. und David Sloan, haben es so auf den Punkt gebracht:
Selfishness beats altruism within groups.
Altruism beats selfishness between groups.
The rest is commentary.
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