Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon Pia Hut » Do 15. Jan 2009, 20:17

Da Michael Schmidt-Salomon kein eigenes Forum hat, würde ich gern hier seine „Willensfreiheitsdebatte“ zum Thema machen, zumal ich nach Lektüre verschiedener Threads in diesem Forum festgestellt habe, dass dieses Thema auch andere bewegt. Ich bin zwar von vielen Inhalten von MSS sehr „angetan“, (und unterstelle jetzt mal, das hier auch Vieles davon bekannt ist) daher interessiert es mich umso mehr, die Stellen zu verstehen, an denen ich mit ihm eindeutig auseinandergehe. Zum Vorverständnis: Man könnte mich der Einfachheit halber wohl als Atheisten und Naturalisten bezeichnen, auch wenn ich mir selbst reichlich ungern irgendwelche „Etiketten“ zulege, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass man dann schnell in Schubladen einsortiert wird.

Meine Diskrepanz mit MSS besteht insbesondere in seinem Umgang mit den Ergebnissen der Hirnforscher Singer und Roth.

Wenn ich mich im Folgenden schuldig mache zu pauschalisieren (bzw. grob zu vereinfachen), dann tue ich das unter dem Eindruck, dass MSS und mich zumindest hier ein Verständnis für den Nutzen dieses Vorgehens eint. (Mich gruselt es inzwischen vor diesem Schrei nach „Differenziertheit“, die uns den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen lässt). Ich suche nach der einfachen Sprache, wobei ich mir auch der Gefahr falscher Vereinfachung (Verallgemeinerung) bewusst bin, sehr fatal finde ich diese z. B: bei den infantilen Kategorien gut und böse. Und entschuldigt zunächst mal meine Anführungszeichen, die benutze ich v. a. wenn ich meine dass es eine Sache nicht ganz trifft, bzw. dass es hier leicht Missverständnisse gibt, aber darüber kann man sich ja dann immer noch verständigen.

An den Ergebnissen der Hirnforschung gefällt MSS, dass sie den Beweis für ein monistisches, naturalistisches Menschenbild liefert, das sich von der Idee einer von körperlichen Prozessen auch nur partiell unabhängigen Vernunft verabschiedet. Auch wenn ich das nicht ganz so bahnbrechend finde, wie er das offenbar tut, gehe ich an der Stelle noch mit. Aber ich halte das für kein Spezifikum von Singer und Roth, sondern finde das in verschiedenen Artikeln von Hirnforschern im Allgemeinen, also kein Grund gleich der gesamten Richtung dieser beiden Autoren zu folgen.

„Das vielleicht größte Manko der Debatte bestand darin, dass in ihr zwei grundverschiedene Begriffe von Willensfreiheit auftauchten, was dazu führte, dass die Diskutanten aneinander vorbei redeten.“ „Wir sollten stattdessen einen Begriff verwenden, der das, worum es den Verteidigern der Freiheit eigentlich geht, exakter trifft und der zudem, wie schon David Hume zeigte, den Vorteil hat, dass er vom antinaturalistischen Begriff der Willensfreiheit trennscharf abgegrenzt werden kann: den Begriff der „Handlungsfreiheit“. Ich kann MSS insoweit folgen, dass das kleine Wörtchen „frei“ eine ziemlich Worthülse darstellt und es dabei schon irgendwie darauf ankommt, von was der Wille eigentlich frei sein soll, dass der Wille biologische Grundlagen hat, weil das Organ in dem er sich entwickelt, das Gehirn nun mal zweifellos ein Naturprodukt ist, will ich sicher nicht abstreiten. Auch dass der Wille sich als Replik (bzw. in Reflexion) auf vorfindbare gesellschaftliche Zustände bildet und nicht irgendwie überirdisch in die Welt kommt, ist kein Streitpunkt.
Ich kann MSS auch darin folgen, dass sich viele Leute eine „Freiheit“ nur einbilden, die sie objektiv gar nicht haben. Mit diesem Kunstgriff der imaginären Freiheit wird versucht unschöne Lebensverhältnisse ideell besser aushalten zu können, anstatt praktisch etwas zu ändern. (wenn ich ihn so richtig verstehe in „Von der illusorischen zur realen Freiheit“). Aber ob es deshalb Sinn macht den Begriff „Willensfreiheit“ gänzlich zu meiden, halte ich für fraglich. Es gibt so viele Begriffe, die man neu erfinden müsste, weil sie in sehr unterschiedlicher Weise verwendet werden, also lasst uns über Inhalte reden. (Ich fürchte die ausufernde Seite von „Begriffshubereidebatten“, bei denen am Ende nur noch Wirrwarr herrscht, über was man da eigentlich streitet.)

Von der Stoßrichtung sehr gut fand ich MSS folgenden Absatz: „Das Problem: Sowohl die negative (schuldbeladene) als auch die positive (stolzgeschwängerte) Bilanzierung eigener Leistungen hemmt die anzustrebende Veränderung des Individuums hin zu größerer Humanität. Das Individuum bleibt ICH-fixiert, gefangen in selbstwertdienlichen Wahrnehmungsverzerrungen in Bezug auf die Umwelt und die eigene Person. Es versucht, sich selbst über die eigenen Schwächen hinwegzutäuschen, die eigene Biographie zu retuschieren, um misslichen Minderwertigkeitsgefühlen zu entgehen. Misslingt dieser Versuch, versinkt das Individuum in Ohnmachtgefühle und Selbstmitleid. Zu kritischer Selbstanalyse ist es unter dieser Voraussetzung kaum fähig. ……..“ Persönliche Schuldzuweisungen finde ich insgesamt sehr lästig, sie bringen einen auf dem Weg sich die Welt zu erklären, keinen Zentimeter von der Stelle, sondern führen nur zum notwendig zirkulären Kampf mit dem eigenen oder anderer „Gewissen“. Oder um es mit Harry Krämer etwas krasser auszudrücken: der dogmatisierte Irrtum Schuld ist „Legitimation infantiler Grobheit“.

Wo ich mich von MSS dann trenne, liegt wahrscheinlich darin begründet, dass er dem geflügelten Spruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ m. E. etwas zu viel Sympathie entgegenbringt. Das habe ich auch mal (er war ja ursprünglich sehr kritisch gemeint), aber inzwischen sehe ich in der Instrumentalisierung dieses Spruchs in den Geisteswissenschaften ein Dogma, das dem Relativismus huldigt. Der Satz ist laut Wiki eine verfälschende Verkürzung eines Zitats. Mit seiner Aussage behauptete Sokrates nicht, dass er nichts wisse. Vielmehr hinterfragt er das, was man zu wissen meint. Denn vermeintliches Wissen ist nur ein beweisloses Für-selbstverständlich-Halten, das sich bei näherer Untersuchung als unhaltbares Scheinwissen entpuppt. Das ist für mich ein Plädoyer für „gründliches Nachdenken“, aber nicht für die Relativität allen Wissens. „Unser Verständnis hat vorgegebene Grenzen, dennoch bleibt uns die Welt nicht verschlossen“ (Krämer). Das macht einen großen Unterschied aus. In den Geisteswissenschaften wird dieser Satz (oder Ähnliche) dagegen immer wieder dazu verwendet, prinzipielle Zweifel an der Objektivierbarkeit von Urteilen zu säen. Und wenn man diesem Standpunkt keine Referenz erweist, steht man schnell als gefährlicher Dogmatiker in der Ecke, der meint die „Wahrheit“ gepachtet zu haben. Wenn ich aber umgekehrt den Glauben teile, dass alle meine Urteile nur fürchterlich subjektiv sein können, dann verdammt mich das in letzter Konsequenz zur Handlungsunfähigkeit, ich muss dem Status quo huldigen, wenn ich z. B. nicht wissen kann, welch gefährlicher Wolf eigentlich in meinen und meiner Mitmenschen Tiefen schlummert, denn wenn wir ihm nachgeben, könnte es ja noch viel schlimmer kommen als es jetzt schon ist.

MSS schreibt, dass Roth und Singer mit ihrer Leugnung der Willensfreiheit nicht die etablierte wissenschaftliche Denktradition auf den Kopf stellten, sie lieferten bloß weitere Belege für eine Auffassung, die im Rahmen der empirischen Natur- und Sozialwissenschaften längst etabliert ist. Ja leider! Roth und Singer tragen dazu bei, dass nun auch noch von naturwissenschaftlicher Seite das sehr prinzipielle Misstrauen gegen unsere „Menschennatur“ bestätigt wird, nun muss ich wohl auch noch damit rechnen, dass mich die Mechanismen meines Gehirns versklaven. (anstatt mir ihrer bewusst zu werden, um meinen Verstand als Instrument optimal nutzen zu können.) Oder um es mit Engels auszudrücken „Sätze, die in der Philosophie seit Jahrhunderten aufgestellt, die oft genug längst philosophisch abgetan sind, treten oft genug bei theoretisierenden Naturforschern als funkelneue Weisheit auf und werden sogar eine Zeitlang Mode.“ Ich denke MSS schlägt sich da auf eine Seite, auf die (wie ich nach Lektüre seiner sonstigen Schriften meine) eigentlich nicht hingehört. Fatal bei Roth und Singer finde ich zunächst ihren neurobiologischen Determinismus (durch neurologische Prozesse ist unser Tun irgendwie vorherbestimmt, wobei man über den Inhalt dieser Bestimmtheit gar nichts erfährt, weil man offenbar kaum etwas mit Gewissheit aussagen kann. Erstaunlich, wie viel Raum bei diesen „Wissenschaftlern“ dem Thema gewidmet ist, was man alles nicht weiß. „Da die Forschung noch weit vom Verstehen aller Gehirnfunktionen entfernt ist, sehen sich nicht nur religiös gebundene Menschen in ihrer Meinung bestärkt, der Mensch sei unergründlich.“ Krämer - Ich habe auch die Abstimmung in diesem Forum gelesen, das 88% dem Determinismus anhängen, da muss ich mich noch näher mit befassen, wie das kommt. Also Determinismus als vorherbestimmter Plan, der irgendwie wirkt, da schließe ich mich dann eher in folgendem Sinne ganimed an:
„Ich würde sagen, es gibt keinen Plan. Deshalb ist es nicht Größenwahn - er bezieht sich auf ein Kunze-Lied -sondern Zeitverschwendung, ihn verstehen zu wollen.“


Auch einen elitären Standpunkt sehe ich in den Ausführungen von Singer und Roth vorliegen - schon allein indem sie sich selbst zur Ausnahme von der behaupteten Regel machen (und missversteht das nicht als moralische Kritik - ich halte nichts vom „Gutmenschentum“). Wenn die Versöhnung von Geistes- und Naturwissenschaften so aussieht, dass nun auch Naturwissenschaftler einsehen, dass man eigentlich nichts für „wahr“ halten darf, bzw. es diesen hirnforschenden „Autoritäten“ überlassen muss, so geht dies sehr System erhaltend genau in die falsche Richtung.

„Je besser wir die Gehirnforschung verstehen und auch die Genetik und wie sich Hirne entwickeln und wie sie mit der Umwelt umgehen. Umso besser verstehen wir eigentlich was für eine grandiose Freiheitsmaschine unser Gehirn ist", so Manfred Spitzer. "Je besser es funktioniert und je höher es entwickelt ist umso freier ist derjenige, der mit diesem Gehirn rumläuft."

Man könnte ja sehr wohl, wofür schon Biofeedbackmethoden eigentlich ein Beleg sind und auch andere Hirnforscher plädieren, die Ergebnisse der Hirnforschung dazu nutzen, das „Unbewusste“ auch den „Laien“ bewusst zu machen, anstatt darüber vor Ehrfurcht zu erstarren, welche unbegreifliche Komplexität in mir schlummert, die nur ein Hirnforscher wie Roth o. Singer überhaupt und dann auch nur ahnungsweise zu ergründen in der Lage sind, obwohl sie doch auch „nur“ Menschen sind. Auch Psychotherapien sind eigentlich schon ein gewisser Beleg dafür, dass es eine Frage der Bewusstmachung ist, mit „störenden“ Gefühlen in uns (unbewussten Ängsten) umzugehen, wobei diese Therapien allerdings auch notwendig in einer Hinsicht scheitern, weil sie nicht die eigentlichen Ursachen beseitigen können.

Denn wie kommt es eigentlich zu diesen Gefühlen mit denen unser Verstand nicht ins Reine kommt? Meine These wäre da, dass unsere Menschennatur keineswegs so abstoßend ist, dass sie ein Gesellschaftssystem benötigt, das ständig unsere „Wolfsnatur“ zügelt. Ich sehe vielmehr in diesem System den Grund dafür, dass so mancher unserer Gattung aus den Widersprüchen in denen er praktisch steckt und die hier meist nur gegen und nicht mit anderen zu lösen sind, recht abstoßende Eigenarten und „Triebe“ entwickelt.

So viel für den Anfang, ich warte jetzt erst mal, ob Interesse an dem Thema besteht…..

(Sorry hatte das Thema zunächst an falscher Stelle eingestellt)
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon ganimed » Do 15. Jan 2009, 21:12

Es besteht großes Interesse an diesem Thema bei mir. Das mit der Willensfreiheit und den Konsequenzen aus ihrem möglichen Fehlen ist nämlich, so finde ich, ein dicker Brocken zum Nachdenken. Schmidt-Salomon kannte ich bisher nicht. Roth und Singer schon eher, obwohl ich von denen bisher eigentlich nur wenige essentielle Sätze verstanden habe.

@Pia Hut: Dein beeindruckend langer und dedizierter Beitrag ist ein wenig zu viel für meine arme kleine Auffassungsgabe. So ganz verstehe ich nämlich nicht, welchen Aussagen von Singer, Roth oder MSS du in welcher Weise widersprichst. Da brauche ich, glaube ich, nochmal eine auf den Punkt gebrachte Zusammenfassung.

Die Stellen, wo ich dir widerspreche (oder zumindest etwas hinzuzufügen hätte) habe ich trotzdem gefunden. So arbeitet das Hirn halt. Widersprüche leuchten sofort rot auf. :^^:

Pia Hut hat geschrieben:nun muss ich wohl auch noch damit rechnen, dass mich die Mechanismen meines Gehirns versklaven. (anstatt mir ihrer bewusst zu werden, um meinen Verstand als Instrument optimal nutzen zu können.)

Das sich besusst werden ist ja auch nur ein weiterer Mechanismus deines Hirns. Dein Wunsch, sich etwas bewusst zu machen und dann mit dem Verstand was ausrichten zu wollen, klingt für mich so, als sei da bei dir doch noch die Vorstellung, dass du gar nicht dein Gehirn wärst, sondern vielleicht doch noch irgendwie ein davon abgesetzter, souveräner, kleiner Pilot mit eigenem Willen?
Ich würde jedenfalls eher formulieren: Du bist dein Gehirn, du bist die Mechanismen deines Gehirns. Und wenn dazu gehört, dass du dir ein paar Sachen bewusst machen kannst und erstaunlich wirkungsvoll "nachzudenken" vermagst, dann ist das trotzdem alles noch innerhalb der Hirngrenzen.

Pia Hut hat geschrieben:Ich habe auch die Abstimmung in diesem Forum gelesen, das 88% dem Determinismus anhängen, da muss ich mich noch näher mit befassen, wie das kommt. Also Determinismus als vorherbestimmter Plan, ...

Nicht vorherbestimmt. Das ist ein, zugegeben, naheliegendes Misverständnis. Dank Chaostheorie und meinetwegen vielleicht sogar der Unschärferelation auf Quantenebene, ist ein vorher ausrechnen nicht möglich, würde ich sagen. Aber wenn was passiert (was immer passiert) kann man sich gedanklich überlegen, dass in einem kausalen Universum das alles schon seine Gründe hatte. Determinismus im Sinne von Kausalität wäre jedenfalls meine Definition. Und nur mit der konnte ich bei der Abstimmung für Determinismus stimmen. Vorbestimmtheit war nicht gemeint.

Pia Hut hat geschrieben:Denn wie kommt es eigentlich zu diesen Gefühlen mit denen unser Verstand nicht ins Reine kommt? Meine These wäre da, dass unsere Menschennatur keineswegs so abstoßend ist, dass sie ein Gesellschaftssystem benötigt, das ständig unsere „Wolfsnatur“ zügelt. Ich sehe vielmehr in diesem System den Grund dafür, dass so mancher unserer Gattung aus den Widersprüchen in denen er praktisch steckt und die hier meist nur gegen und nicht mit anderen zu lösen sind, recht abstoßende Eigenarten und „Triebe“ entwickelt.

Wenn das so wäre, dann sähe das Menschenbild ja eigentlich schon viel positiver aus. Könnte aber natürlich auch genau so gut so sein, dass das Gehirn eben einer recht anfällige Maschine ist und ständig klemmt irgendwas, oder reibt, oder geht nicht richtig weiter. Wenn man Glück hat, kriegt man von den dauernden kleinen Aussetzern nix mit. Im Pechfall verkeilen sich die Sachen, es wird immer schlimmer und chronischer und zack, machen die Menschen ziemlich dumme Sachen, oder wie du es ausdrückst, entwickeln abstoßende Eigenarten. Welche Hinweise und Indizien hast du für deine positive Sichtweise, dass der Mensch gut sei und nur am System erkranke? Ich habe eher die negative Gegenmeinung: der Mensch ist schlecht und in einem guten System geht es manchmal ne Weile ganz gut. Als Argument führe ich an, dass das Hirn so unendlich komplex ist, da so viel passiert, wir so viele Störungen und Krankheitsbilder kennen (viele psychische Störungen lassen sich inzwischen ja auf biochemische Ursachen zurückführen), dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass ein Mensch mit einem so anfälligen Hirn als zuverlässig gut gelten müsste. Ist sozusagen eine statistische, grobe Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten.
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon ostfriese » Do 15. Jan 2009, 21:47

Hallo Pia Hut,

mein Interesse ist groß, allerdings hab ich zu kaum einem anderen Thema erschöpfender in Foren diskutiert als zu diesem. ;-)

Deshalb nur einige kurze Bemerkungen. Auch mir gefiel der Aufsatz von MSS, insbesondere seine Ermunterung, von den überholten Konzepten 'gut', 'böse' und 'Schuld' Abschied zu nehmen, da sie uns aus ethischer und psychohygienischer Sicht nur schaden.

Was Deine Kritik an Singer und Roth angeht: Sie sind in einem sehr jungen Wissenschaftszweig tätig, der -- im Vergleich zu den etablierten Naturwissenschaften -- mit vergleichsweise groben Instrumenten ein hoch komplexes System zu erforschen beginnt. Die Informationen, die wir aus den Abbildungen von EEGs oder MRTn gewinnen, sind gemessen an dem, was wir zu erkennen hoffen, sehr grobkörnig. Es ist also redlicherweise mehr als nur der übliche Restzweifel angebracht.

Grundsätzlich folgt aus den Prinzipien kritischer Rationalität aber nicht, dass man die vorläufig bestgesicherten Hypothesen nur expressis verbis unter Vorbehalt vertreten und daraus keine Schlüsse ziehen dürfte. Und dass Singer, Roth oder MSS einen Relativismus vertreten, weil sie nicht wagen, sich auf irgendwelche Positionen festzulegen, hielte ich für ein ziemlich abwegiges Gerücht.

Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob wir ggf. auch unerwünschte Konsequenzen aus neuen Erkenntnissen zu tragen bereit sind. Hiermit tut sich die Menschheit unheimlich schwer. Bevor der Homo Sapiens einmal seine Meinung grundlegend ändert, retuschiert er lieber hundertmal sein Wunschdenken.

Ich persönlich habe keine Probleme mit der Einsicht, dass Willensfreiheit eine Illusion ist, ein psychisches Konstrukt, evolutionär wahrscheinlich etabliert durch den Überlebensvorteil solcher Individuen, die aufgrund der Simulationsfähigkeit des 'Ich-Bewusstseins' das Verhalten ihrer Artgenossen adäquater einschätzen konnten.

(Hypothetisch) zu wissen, dass mein Leben determiniert ist, ändert mein Verhalten nur unwesentlich, denn ich bin ein Mensch: 'Ich' gehe mit anderen und mit mir selbst nach wie vor so um, als ob ich frei wäre. Das phänomenologische Subjekt ist einfach gegeben, 'ich' bin es und kann mich weder ein- noch ausschalten. Und ebenso wenig kann ich "wollen wollen", meine Deliberation selbst auslösen.

Was die praktische Ethik betrifft, so wirken Argumente und Normen dennoch auf mein Verhalten, und genau deshalb ist es auch nicht obsolet, den Diskurs weiter zu führen. Müssen wir fürchten, dass sich die generelle Schuldunfähigkeit des Menschen herumspricht? Nein; wie MSS erhoffe ich mir sogar überwiegend positive Wirkungen!
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon Pia Hut » Fr 16. Jan 2009, 14:05

zu ganimed: eine auf den Punkt gebrachte Zusammenfassung kann ich dir noch nicht liefern, da das unterstellen würde, dass ich die Sache schon ganz fertig im Griff habe (bei mir leuchtet es bei Determinismus und Negation des freien Willens jedenfalls „rot“ auf, wenn du verstehst was ich meine.) Schmidt-Salomon hast du wahrscheinlich inzwischen über Google gefunden, ich dachte ihn unterstellen zu können, weil er wie mir schien in der Presse offenbar als so was wie der deutsche Vorreiter der Atheisten gilt (auf seiner Homepage findest du zur Willensfreiheit z.B., „Können wir wollen was wir wollen“ oder im Archiv der giordano-bruno-stiftung „Von der illussorischen zur realen Freiheit“ - auf jeden Fall lesenswert). Er argumentiert da gegen die Auffassung des freien Willens, wobei ich seiner eigenen Argumentation da durchaus folgen kann und mir die Differenz mit ihm eher in Begrifflichkeiten zu liegen scheint. Er beruft sich ein paar Mal auf die Hirnforscher Singer und Roth (bin mir leider gar nicht mehr sicher, ob genau in diesen Artikeln oder noch in anderen Interviews, hatte viel rumgesucht und in meinen Literaturbergen etwas den Überblick verloren). Dabei schien es mir so, dass er sie einfach her nimmt, weil sie eben „populär“ sind und weil man sich im Obertitel, also der Infragestellung des freien Willens scheinbar einig ist. Aber wenn ich lese was diese Hirnforscher so schreiben, dann entdecke ich da doch deutliche Differenzen zu MSS und die Sache scheint mir in eine sehr „ungemütliche“ Richtung zu laufen, u. a. weil sie ein sehr grundsätzliches Misstrauen gegen den Verstand säen und das tut MSS seinerseits gar nicht. (Dazu später mehr)

zu dem Punkt, wo es bei dir rot leuchtet: Geschenkt, da hast du recht! Meine Formulierung hört sich schon irgendwie nach einer „Verdoppelung“ meiner selbst an (Pilot sein). Ich weiß auch, dass ich mein Hirn bin, aber ich bin auch mein Körper. Aber hin und wieder finde ich es praktisch ganz hilfreich, auch zu sich selbst ein instrumentelles Verhältnis einzunehmen, denn mich machen auch einzelne Teile aus, denen ich auch meine spezielle bewusste Aufmerksamkeit widmen kann. D.h. z.B. seinen Körper zu beobachten und bewusst nach Zeichen zu suchen, die mir sagen, hier musst du besser auf deine Gesundheit achten. Und was die Beobachtung meines Hirns anbetrifft, so bezieht sich das v. a. auf den unbewussten Teil (Gefühlswelt). Bewusst wahrzunehmen, wann ein Gefühl „hochkocht“, zu analysieren warum es hochkocht, es zuzulassen oder zu verwerfen und erst dann zu handeln. Liegt da ein Fehler vor, wenn ja welcher?

Zum Determinismus:
Ich bring hier mal ein paar Zitate eines Van Moorison (ich tue mich noch etwas schwer mit der Verlinkung, also wenn du den Originalartikel haben willst, dann hänge noch das Stichwort „Determination des freien Willens“ bei Googel zum Namen an, da bist du dann schnell beim forum.politik.de, in dem ich ihn fand). Ich finde da auch nicht alles gelungen, aber da sind einige überlegenswerte Sachen drin. Er verweist z.B. auf das Paradoxon „dass ein komplett determiniertes System in dem Moment, in dem ihm seine Determiniertheit bewusst wird, nicht mehr determiniert ist.“ „Wenn mir ein Determinist sagt, ich werde morgen früh um 7:30 Uhr eine Tasse Kaffe trinken, kann ich ihn leicht widerlegen, indem ich mir um 7:30 Uhr eine Tasse Tee gönne. Der Determinismus muss also mit dem Problem leben, dass er in Bezug auf den Menschen immer nur nachträglich determiniertes Verhalten unterstellen kann, niemals im Voraus. Aus dieser Sicht ist der Determinismus also irrelevant und ohne Einfluss auf das Handeln, denn wenn die Würfel gefallen sind ist es leicht zu sagen, sie hätten so und nicht anders fallen müssen – vor dem Wurf weiß es nämlich keiner.“

Im weiteren Text beruft sich Van Moorison auf Kant: „Eine einheitliche Antwort auf die Frage nach der Willensfreiheit („ja“ oder „nein“) verweigert Kant (), er verwandelt die (theoretische) Frage letztlich in eine praktische: Ist es letztlich sinnvoll und praktisch nützlich, Willensfreiheit zu unterstellen?“ was Kant mit ja beantworten würde.

Van Moorison: „Eine „Intention“ ist () eine eigene Qualität, die einer () Existenzweise entspringt, die Handlungen aus Gründen hervorbringt und nicht Kausalitäten aus Ursachen. Ein „Grund“ ist im Unterschied zu einer „Ursache“ an intentionale Selbstreflexivität („Was soll ich tun?“) gebunden und macht erst Sinn, wo reine Naturkausalität „aufgehoben“ ist (im dialektischen Sinne: erhalten, negiert und auf eine höhere Stufe gehoben).
…… „Ob der Mensch einen „freien Willen“ hat oder nicht hängt sehr von der Perspektive der Fragestellung und des Fragestellers ab. Zweifellos sind unsere Willensäußerungen an unseren Körper gebunden und dieser an die Naturgesetze. Dies bedeutet aber nicht, dass wir deshalb einfach über Naturgesetze determiniert sind…..Die ganze Diskussion löst sich meiner Ansicht nach in folgende Erkenntnis auf: Der Mensch wächst unter bestimmten natürlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen auf, die in seine Persönlichkeit einfließen. Er existiert nicht außerhalb dieses Lebensumfeldes, sondern immer in ihm und in Wechselwirkung mit ihm. „Freiheit“ schreiben wir menschlichen Handlungen und Mentalitäten deshalb zu, weil der Mensch sich immer aktiv auf sein Umfeld bezieht (auch „Lernen“ ist ein aktiver Prozess) und zur Selbstreflexion in der Lage ist.“

Worin ich mit Van Moorison einig bin ist, dass ich es praktisch für einen ziemlichen Hemmschuh für die Handlungsfreiheit halte, wenn wir uns ständig die Frage vorlegen, ob wir nicht eigentlich furchtbar determiniert sind (v. a., da offenbar niemand beantworten kann, worin diese Determination nun eigentlich konkret liegen soll und gleichzeitig auch für eine billige Ausrede (wir konnten nicht anders als wie wir es taten, denn wir sind ja so furchtbar determiniert). Vielleicht hört sich das für dich so an, als wolle ich doch wieder „Schuldfragen“ wälzen, aber dass ist nicht meine Intention. Ich will vielmehr weg von der ständigen „Sich-selbst-Infragestellung“, dem Misstrauen gegen den eigenen Verstand. Benutzen wir ihn und betrachten doch mal die äußeren Umstände, die „gesellschaftlichen Voraussetzungen“ in denen wir leben, auf die Gründe hin, warum wir und andere Menschen sich so und so verhalten und da können wir auch Ausführungen verschiedener Wissenschaftszweige zu unserer Menschennatur heranziehen (da hätte ich auch noch einiges). Auf diesem Weg bin ich zu einem eher „freundlichen“ Urteil über meine eigene Gattung gelangt. Aber das ist jetzt nur eine perönliche Behauptung, aber ich hoffe du verstehst, dass es da noch einiges an „Text“ braucht, um das genauer zu erklären…..

Noch kurz zu ostfriese:

„Und dass Singer, Roth oder MSS einen Relativismus vertreten, weil sie nicht wagen, sich auf irgendwelche Positionen festzulegen, hielte ich für ein ziemlich abwegiges Gerücht.“


Wie du oben siehst, werfe ich Singer, Roth und MSS gerade nicht in einen Topf. MSS ist da m. E. gedanklich sehr viel weiter. Und wenn sich das so anhörte, als wolle ich ihnen allen vorwerfen, dass sie sich auf keine Positionen festlegen, dann hab ich das wohl schlecht formuliert. Und ich hoffe wir sind uns hier im Forum darin einig, dass es uns nicht darum geht irgendjemanden „anzupinkeln“ - an den lauteren Absichten dieser Personen wollte ich nicht rumkritteln. Sondern an der Logik von Gedankengängen und wohin sie führen, wenn man sie zu ihrem Ende denkt. Aber ich wühle jetzt erst mal in meiner Literatur zu und von Singer und Roth, bevor ich hier allzu abstrakt antworte.
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon HF******* » Fr 16. Jan 2009, 14:42

Ohje, wann soll ich das nur alles lesen. Je kürzer und präziser und provokativer eine Aussage verfasst wird, umso höher ist in Foren allgemein die Chance auf Antwort.

Pia Hut hat geschrieben:Ich habe auch die Abstimmung in diesem Forum gelesen, das 88% dem Determinismus anhängen,

Ähhm, das - ähhh. Nein. Das ist ein Irrtum. Es haben an den jeweiligen Abstimmungen nur wenige teilgenommen, die Fragen waren zudem suggestiv/provokativ und einseitig formuliert. =)
Und: Determinismus hat nicht mit einem Plan zu tun, insbesondere nicht, soweit dieser Begriff in den Abstimmungen verwendet wurde - das wurde hinreichend klar formuliert, dass darüber nicht abgestimmt wurde.

hut hat geschrieben:Er verweist z.B. auf das Paradoxon „dass ein komplett determiniertes System in dem Moment, in dem ihm seine Determiniertheit bewusst wird, nicht mehr determiniert ist.“

Das ist ein Denkfehler

„Wenn mir ein Determinist sagt, ich werde morgen früh um 7:30 Uhr eine Tasse Kaffe trinken, kann ich ihn leicht widerlegen, indem ich mir um 7:30 Uhr eine Tasse Tee gönne.

Da war einfach die Aussage des Deterministen falsch. Man sollte in dieser Diskussion nicht die Begriffe theoretischer und praktischer Berechenbarkeit verwechseln. Kein Determinist sagt, dass wir berechnen können, was Van Morrison morgen trinkt. Wie sagen nur, dass man es theoretisch könnte, wenn man alle hierzu erforderlichen Informationen hätte und sie verarbeiten könnte. Und wenn es sich bei dem Beispiel um eine theoretische rein fiktive Berechnung handeln sollte und der Determinist eine falsche Antwort gibt, dann waren seine Informationen oder die Berechnung fehlerhaft. Wenn dieser Herr meint, damit würde sich ein Determinist widerlegen, dann gibt er damit auf recht peinliche Art und Weise zu erkennen, dass er das Thema nicht verstanden hat.

Aus dieser Sicht ist der Determinismus also irrelevant und ohne Einfluss auf das Handeln, denn wenn die Würfel gefallen sind ist es leicht zu sagen, sie hätten so und nicht anders fallen müssen – vor dem Wurf weiß es nämlich keiner.

Ganz schlechtes Beispiel. Ab dem Zeitpunkt des Abwurfes des Würfels weiß man es natürlich doch, vorausgesetzt der Würfel wird in einem windstillen Raum geworfen. Fütter einen Rechner mit zwei beliebigen Momentaufnahmen des Fluges und jeweiligen Zeitangaben und er sagt Dir, welche Seite oben liegt. Es gibt aber Dinge, die schwerer zu berechnen sind.

Und ja: So lange wir etwas nicht berechnet haben, ist es auch in der Tat seltenst von Einfluss, ob wir es rein Theoretisch hätten berechnen könnten. Das ist eher eine allgemeine Frage, wie die Natur beschaffen ist und ob die Natur erforschbar ist.

Kant ist zum Punkt Willensfreiheit im Ergebnis recht mangelhaft...

Van Moorison: „Eine „Intention“ ist () eine eigene Qualität, die einer () Existenzweise entspringt, die Handlungen aus Gründen hervorbringt und nicht Kausalitäten aus Ursachen. Ein „Grund“ ist im Unterschied zu einer „Ursache“ an intentionale Selbstreflexivität („Was soll ich tun?“) gebunden und macht erst Sinn, wo reine Naturkausalität „aufgehoben“ ist (im dialektischen Sinne: erhalten, negiert und auf eine höhere Stufe gehoben).

Das ist Bachblütentherapie für Physiker.
Da werden wirr verschiedene Themen vermengt. Ein "guter Grund" zu handeln hat jeweils eine Ursache, dennoch bezeichnet man ganz unterschiedliche Dinge damit. Was ist denn Naturkausalität und wo ist sie „aufgehoben“? (gar nicht)

Der Mensch wächst unter bestimmten natürlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen auf, die in seine Persönlichkeit einfließen. Er existiert nicht außerhalb dieses Lebensumfeldes, sondern immer in ihm und in Wechselwirkung mit ihm. „Freiheit“ schreiben wir menschlichen Handlungen und Mentalitäten deshalb zu, weil der Mensch sich immer aktiv auf sein Umfeld bezieht (auch „Lernen“ ist ein aktiver Prozess) und zur Selbstreflexion in der Lage ist.

Ja. Das hat nichts mit dem Thema Determinismus/Indeterminismus zu tun.

Worin ich mit Van Moorison einig bin ist, dass ich es praktisch für einen ziemlichen Hemmschuh für die Handlungsfreiheit halte, wenn wir uns ständig die Frage vorlegen, ob wir nicht eigentlich furchtbar determiniert sind (v. a., da offenbar niemand beantworten kann, worin diese Determination nun eigentlich konkret liegen soll und gleichzeitig auch für eine billige Ausrede (wir konnten nicht anders als wie wir es taten, denn wir sind ja so furchtbar determiniert).

Ausrede, sich von der drohender Strafe freizusprechen, ja. Das Gegenteil zu behaupten ist allerdings eine billige Ausrede, die Natur nicht verstehen bzw. dieser Erkenntnis nicht ins Auge blicken zu wollen.

Benutzen wir ihn und betrachten doch mal die äußeren Umstände, die „gesellschaftlichen Voraussetzungen“ in denen wir leben, auf die Gründe hin, warum wir und andere Menschen sich so und so verhalten und da können wir auch Ausführungen verschiedener Wissenschaftszweige zu unserer Menschennatur heranziehen (da hätte ich auch noch einiges).

Das macht doch Schmidt-Salomon auch. Allerdings verknüft er dieses Thema mit wilden indeterministischen Positionen, was nicht erforderlich ist, wie Du gerade in umgekehrter Stoßrichtung angedeutet hast.

Übrigens: Mit indeterministischer Sichtweise wird der Wille nicht freier...
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon stine » Fr 16. Jan 2009, 16:01

Hallo Pia Hut, willkommen im Forum!
Kleiner Scherz am Rande: Die beiden "zz" in der Mitte deines Vornamens hast du nicht zufällig vergessen? :mg:

Ich wollte zum Thema Determinismus auch noch ganz kurz meinen Senf dazu geben. Ich sehe es so: Wir sind geboren und müssen sterben. Alles was dazwischen ist, ist ein natürlicher, deterministischer Ablauf unserer Körperzellen. Sie arbeiten so, wie sie es müssen, um unser Leben voranzutreiben und zu erhalten.
Unser Zentralorgan, bei den meisten das Gehirn, ist nun aber in der Lage Vorgänge der Außenwelt zu analysieren und zu verarbeiten. Obwohl nun unser Körper zwar zielgerichtet unser Leben vorantreibt, können wir dennoch steuernd eingreifen. Auch ich bin der Meinung, dass eine "bewußte", gesunde, Lebensweise durchaus unsere freie Entscheidung bleibt.
Wir sind aufgrund unseres "bewußten Seins" im Gegensatz zu anderen Lebensformen eben schon in der Lage, bestimmte Richtungen einzuschlagen.
Ansonsten wären wir wie Blumen oder Bäume, die völlig bewußtlos durch die Gegend stolpern.

LG stine
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon Mark » Fr 16. Jan 2009, 16:46

Man kann ja gern versuchen die Vorstellung zu beherzigen, daß man für keine Entscheidung eigentlich jemals wirklich frei gewesen ist, sondern dazu gewzungen war, wenn es dienlich ist. Und wenn es nicht dienlich ist, sollten wir aber trotzdem ein schlechtes Gewissen haben können. "Persönliche Verantwortung" ist eine Erfindung des Menschen, die eben nur dann zur Anwendung kommen sollte, wenn probat. Viele Menschen sehen ob des Themas aber oft den Wald vor Bäumen nicht.
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon HF******* » Fr 16. Jan 2009, 17:34

Erfindung der Menschheit ist gut, vielleicht sogar eine genetisch bedingte „Erfindung“. :devil:

@Pia Hut: Die Sozialwissenschaftler sollten neben den Determinanten des täglichen Lebens, auch mal die genetisch bedingten Willensentscheidungen untersuchen, insbesondere zum Punkt Rechtsauffassungen und Rechtsempfinden.
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon ganimed » Fr 16. Jan 2009, 22:26

Pia Hut hat geschrieben:Worin ich mit Van Moorison einig bin ist, dass ich es praktisch für einen ziemlichen Hemmschuh für die Handlungsfreiheit halte, wenn wir uns ständig die Frage vorlegen, ob wir nicht eigentlich furchtbar determiniert sind ... Ich will vielmehr weg von der ständigen „Sich-selbst-Infragestellung“, dem Misstrauen gegen den eigenen Verstand.

Mein Misstrauen gegen den eigenen Verstand (aber auch den aller anderen Menschen) ist just heute wieder geschürt worden. Ich habe zufällig ein Video von Manfred Spitzer (Hirnfoscher) gesehen. Dort berichtet er von einem Experiment.

3 Gruppen von Kandidaten sollen jeweils 5 Minuten lang Sätze bilden. Gruppe eins bekommt dafür freundliche Worte als Ausgangsmaterial, Gruppe zwei neutrale Worte und Gruppe drei unfreundliche Worte. Nach fünf Minuten werden die Kandidaten in eine gestellt Szene geführt, in der sie angeblich 10 Minuten auf ein Gespräch warten müssen. Sie ahnen nicht, dass dies der eigentliche Test ist. Je nachdem in welcher Gruppe man war, ist man geduldig oder ungeduldig, freundlich oder unfreundlich. Das eigene Verhalten wird also messbar beeinflusst nur weil ich vorher 5 Minuten lang freundliche oder unfreundliche Wörter im Kopf bewegt habe.

Zweites Beispiel: setzt man sich eine Zeit lang mit Wörtern und Assoziationen zum Begriff "Fussballhooligan" auseinander, antwortet man in einem anschließenden Test messbar dümmer als wenn man sich vorher mit dem Begriff "Professor" beschäftigt hat. Das Gehirn wird also sogar in Richtung Intelligenz-Verhalten beeinflusst, auf einfachste Weise. Und mit diesem Gehirn laufen die Menschen herum und denken, sie wären souverän und Herr ihrer Sinne? Ich weiß nicht recht.
Realplayer Video : Manfred Spitzer : Geist und Gehirn
http://www.br-online.de/cgi-bin/ravi?verzeichnis=alpha/geistundgehirn/v/&file=spitzer_83.rm&g2=1

Wenn Menschen wirklich so irrational, so beeinflussbar sind, dann wäre es, meine ich, gut, dem ins Auge zu sehen. Das hilft sicher auch dabei, so manche Widersprüche des eigenen Verhaltens und des Verhaltens anderer besser zu verstehen. Manchmal sagt man etwas Dummes und weiß eigentlich gar nicht wieso. Nun kann ich dank Prof. Spitzers Erzählungen mal überlegen, ob ich vorher vielleicht zu viel an Hooligans gedacht habe (oder vielleicht haben Schrottsendungen im Fernsehen oder dumme Computergewaltspiele einen ähnlichen Effekt). Ich finde das potentiell sehr hilfreich. Dass ich nach einem James Bond Film im Kino ganz anders mit Auto nach Hause fahre, ist mir aber auch schon ohne Hirnforschungshilfe aufgefallen :^^:

Eigentlich war das Thema des Videos die unbewusste Kreativität, die man mit bewussten Gedanken nur stört. Also nicht über eine Frage grübeln, sondern über andere Dinge nachdenken und hinterher hat der unbewusste Teil des Hirns, weil er ungestört blieb, viel mehr zur Ursprungsfrage gefunden. Ich als misantropischer Pessimist habe durch solche und ähnliche Hirnforschungsweisheiten inzwischen den Eindruck, unser Hirn sei eine komplexe Maschine mit jeder Menge Potential zum sozialen Wechselspiel aber jämmerlich wenig Möglichkeiten zur rationalen, bewussten Kontrolle. Das Bewusstsein ist eine kleine Kontrollblase, die immer nur 5 bis 9 Dinge gleichzeitig betrachten kann. Ein kleiner Lichtkegel einer Taschenlampe in einem Meer aus Dunkelheit. Die restlichen 95% unseres Gehirns bleiben unbewusst und machen mit uns, was sie wollen. Wenn auch nur ein Bruchteil dieses negativen Bildes stimmt, wäre eine "Sich-selbst-Infragestellung" sicherlich die logische Konsequenz.
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon stine » Sa 17. Jan 2009, 10:37

Auch ohne Hirnforscher war meine persönliche Philosophie schon immer, dass wir sind, was wir aufnehmen und verdauen.
Man kann sich (bewußt) allen Schund fernhalten und sich, wenn man Lust dazu hat, sein eigenes Wolkenkuckucksheim basteln und darin ungestört leben. Wenn das auch (nur fern)gesteuerte Hirnleistung ist, dann funktioniert das bei mir ziemlich gut! :^^:

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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon ostfriese » Sa 17. Jan 2009, 13:36

ganimed hat geschrieben:Ich als misantropischer Pessimist habe durch solche und ähnliche Hirnforschungsweisheiten inzwischen den Eindruck, unser Hirn sei eine komplexe Maschine mit jeder Menge Potential zum sozialen Wechselspiel aber jämmerlich wenig Möglichkeiten zur rationalen, bewussten Kontrolle. Das Bewusstsein ist eine kleine Kontrollblase, die immer nur 5 bis 9 Dinge gleichzeitig betrachten kann. Ein kleiner Lichtkegel einer Taschenlampe in einem Meer aus Dunkelheit. Die restlichen 95% unseres Gehirns bleiben unbewusst und machen mit uns, was sie wollen.

Genau so ist es!

ganimed hat geschrieben:Wenn auch nur ein Bruchteil dieses negativen Bildes stimmt, wäre eine "Sich-selbst-Infragestellung" sicherlich die logische Konsequenz.

Ich finde nicht, dass dies ein "negatives Bild" ist. Positiv daran ist z.B., dass wir die Folgen bitterer Fehltritte oder schwächlichen Nichthandelns nicht noch mit Selbstvorwürfen verschlimmern müssen, sondern davon ausgehen dürfen, dass wir unter den jeweils gegebenen Umständen nicht anders konnten.

Wem das Leben weitestgehend gelingt, der wird zwar ungern auf den Glauben verzichten, er sei seines eigenen Glückes Schmied. Aber selbst, wenn er sich davon überzeugen ließe, dass der natürliche Lauf der Dinge auch dem menschlichen Gehirn keine übernatürlichen Freiheiten gestattet, wäre ihm das Glück ja nicht genommen; allenfalls verlöre er die Möglichkeit zu eitler Selbstbestätigung.

Und wer eher zu den Pechvögeln als den Sonntagskindern gehört, für den ist das schuldfreie Menschenbild des Naturalismus ohnehin jedem anderen vorzuziehen.
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon Pia Hut » Sa 17. Jan 2009, 13:55

Bei mir leuchtet es jetzt gerade nirgends rot auf (das Bild von ganimed gefällt mir irgendwie), aber ich tue mich schwer zu entscheiden, welchen gedanklichen Faden von euch ich da nun sinnvoller Weise als erstes wieder weiterverfolge. Ich denke ich knüpfe bei HFRudolph an, den hatte ich schon gestern gelesen. Also 1. ich bemühe mich schon mich kurz zu fassen, aber wenn ich an einem Gedanken dran bin, dann bin ich eben dran. Etwas provokativer kann ich es schon versuchen, aber dabei eröffnet man leicht „Kriegsschauplätze“ die man gar nicht aufmachen wollte.
Es ist mein erstes Forum, bei dem ich entschieden habe mich zu beteiligen, habe zwar schon in einige rein gelesen, aber keine persönliche Erfahrungen damit. Ich hab im Moment gerade ein wenig Zeit, bevor ich mich in den kommenden zwei Monaten dann wieder dem gnadenlosen Zwang der Verhältnisse beugen muss, dann werden meine Texte minimalistisch, wenn überhaupt.

Wenn ich HFRudolphs Ausführungen lese, dann scheint es mir als laufe das mit dem Determinismus irgendwie auf ein Definitionsproblem hinaus, daher habe ich mir auch noch mal die Definitionen in wiki angeschaut, d.h. unter anderem „Deterministen sind also der Auffassung, dass bei bekannten Naturgesetzen und dem vollständig bekannten Zustand eines Systems der weitere Ablauf aller Ereignisse prinzipiell vorherbestimmt ist ……. Es gibt verschiedene Varianten des Determinismus, die mehr oder minder streng die Vorherbestimmtheit aller Ereignisse voraussetzen.“

Es wird dann noch unterteilt in starken und schwachen Determinismus und allgemeiner Determinismus sowie persönlichen Determinismus: „Der Mensch ist in seinem Willen durch äußere oder innere Ursachen vorherbestimmt und es besteht keine Willkür. Es gibt keinen freien Willen.“

Was mir beim Determinismus überhaupt nicht „schmeckt“, ist das welche Definition auch immer man sich ansieht, es letztlich darauf hinausläuft, dass alles irgendwie „vorherbestimmt“ ist, d.h. aber in logischer Konsequenz auch, man kann Nichts ändern. Das führt zu einer praktischen geistigen Haltung des Individuums, die zwar zum „Aushalten“ und „Anpassen“ nützlich sein dürfte, aber das Motiv nach Wegen der Veränderung zu suchen, geht mehr und mehr verloren. Ich bin daher auch froh, dass MSS nicht wirklich Determinist ist.

Ich hatte vor kurzem ein Buch von Fürntratt-Kloep zu F. Castro gelesen, in dem er diesem auch vorwirft so ein sturer Vertreter des „freien Willens“ zu sein. Aber mal im Ernst, Castro hätte im Leben keine Revolution auf die Beine gestellt, wenn er dem Determinismus anhinge. Alle linken Deterministen (es gibt da ja auch einen Geschichtsdeterminismus, aber das nur am Rande), hätten ihm sicher gesagt, dass diese Revolution gar nicht gehen kann, da alle geschichtlichen Determinanten dagegen sprachen.

Ja klar braucht man manchmal seine Nischen, in denen man im „Wolkenkuckucksheim“ (stine) schwebt, das ist ein Luxus den man sich manchmal leistet, weil man einiges aushalten muss, aber mich gruselt vor Menschen, die das zu ihrer Lebensdevise machen, da hat der Verstand dann wirklich abgedankt. Ist das jetzt provokativ genug?
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon stine » Sa 17. Jan 2009, 14:09

Pia Hut hat geschrieben:...aber mich gruselt vor Menschen, die das zu ihrer Lebensdevise machen, da hat der Verstand dann wirklich abgedankt.
Das kann man so sehen.
Allerdings brauchts ein sehr aktives, am Ende doch dem Determinismus unterworfenes Leben dazu, um diese Einsicht am Ende genießen zu können.

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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon ostfriese » Sa 17. Jan 2009, 14:37

Pia Hut hat geschrieben:Was mir beim Determinismus überhaupt nicht „schmeckt“, ist das welche Definition auch immer man sich ansieht, es letztlich darauf hinausläuft, dass alles irgendwie „vorherbestimmt“ ist, d.h. aber in logischer Konsequenz auch, man kann Nichts ändern. Das führt zu einer praktischen geistigen Haltung des Individuums, die zwar zum „Aushalten“ und „Anpassen“ nützlich sein dürfte, aber das Motiv nach Wegen der Veränderung zu suchen, geht mehr und mehr verloren.

Wenn wir wirklich determiniert sind, dann haben wir keinen Einfluss auf unsere Motive. Und dann besteht auch kein Anlass zu befürchten, eines davon könnte morgen verloren gehen.

Aber ich kann Dich sogar gänzlich beruhigen: Was -- unabhängig vom naturwissenschaftlichen Kenntnisstand -- auf jeden Fall erhalten bleibt, das ist jenes phänomenologische Subjekt, welches unser Gehirn uns entwirft und uns "gefühltermaßen" zum Urheber unserer Entscheidungen macht. Wir können nicht anders als wünschen, wollen, sehnen, (nach Lösungen) suchen, streben, streiten, kämpfen; also werden wir's auch immer tun. Und dadurch steigt tendenziell die Lebensqualität von Menschen: Wir haben gegenwärtig im weltweiten Mittel weniger Kriege, weniger Kindersterblichkeit, mehr Wissen, eine freiere Mobilität, höheren materiellen Komfort, eine vielfältigere Kultur, eine bessere Menschenrechtssituation und eine längere Lebenserwartung als je zuvor. Und wenn der (strenge) Determinismus zutrifft, geschah alles natürlich-zwangsläufig.

(Die Quantentheorie ist übrigens nicht klassisch-deterministisch, da sie nach moderner Interpretation nicht etwa nur Unbestimmbarkeit, sondern reale Unbestimmtheit beschreibt. Aber das hat für unsere Diskussion keine Konsequenzen und rettet insbesondere nicht die Willensfreiheit.)

Pia Hut hat geschrieben:Castro hätte im Leben keine Revolution auf die Beine gestellt, wenn er dem Determinismus anhinge. Alle linken Deterministen (es gibt da ja auch einen Geschichtsdeterminismus, aber das nur am Rande), hätten ihm sicher gesagt, dass diese Revolution gar nicht gehen kann, da alle geschichtlichen Determinanten dagegen sprachen.

Nein. Wir haben es nun mal in der Soziologie wie in der Meteorologie mit nicht-linearen Systemen zu tun, deren Entwicklung prinzipiell nur über sehr kleine Zeiträume mit brauchbarer Genauigkeit vorhersagbar ist. Wer dem jungen Fidel prädiziert hätte, sein Scheitern sei vorprogrammiert, hätte sich, wie wir nachträglich wisssen, schlicht geirrt. Und eine Prognose wird ja nicht dadurch zuverlässiger, dass ihr Verkünder den Determinismus predigt. Also wird wohl auch zukünftig niemand seine Revolutionspläne aufgeben, nur weil ein Determinist seinen Weg kreuzt. (diese Prognose ohne Gewähr!! ;-))
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon Pia Hut » Sa 17. Jan 2009, 15:35

Okay, wenn ihr meint mit der deterministischen Sicht ginge nichts Wesentliches verloren, dann lasse ich das erst mal so stehen, überzeugt bin ich nicht, aber auch nicht scharf darauf falsche Kriegsschauplätze aufzumachen.

zu Ostriese möchte ich noch Folgendes erwähnen: Das mit dem Steigen der Lebensqualität von Menschen halte ich für eine sehr subjektive Sichtweise. Für mich sieht das immer noch so aus, als würden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer, v. a. auch die Kinderarmut und die in der dritten Welt. Und wenn ich Wissenschaftlern statt Politikern zuhöre, dann deutet verdammt viel darauf hin, als stünde unser Planet noch zu unseren Lebzeiten vor einem ziemlich eklatanten Kollaps im Klima. Und wenn ich wieder raushole, was ich mal über politische Ökonomie gelernt habe, dann sieht das für mich verdammt danach aus, als stünden wir noch in diesem Jahr vor einer Wirtschaftkrise gegen die die von 1929 wie ein Waisenkind aussah. Und ihr könnt euch gar nicht vorstellen wie sehr ich hoffe, dass mich die Analysen meines Verstandes hierbei in die Irre geführt haben. Aber lassen wir mal dieses „Bauchwehthema“.

zurück zur Hirnforschung, zu der ich angekündigt hatte, dass ich da noch Einwände vorbringen wollte und zwar nicht im Allgemeinen sondern der Richtung von Singer/Roth.
Die von den Hirnforschern Singer und Roth „ausgehende“ Debatte um die Willensfreiheit hat auch einige andere Wissenschaftsdisziplinen aufgeregt, und irgendwie nicht ganz zu Unrecht. Es ist von geisteswissenschaftlicher Seite argumentiert worden, dass von Singer und Roth keinerlei neue Erkenntnis zu Tage gefördert wurden und das haben diese Wissenschaftler dann auch gar nicht bestritten. Aber mit dem Habitus, dass alte Erkenntnisse nun eine ganz andere Beweiskraft hätten, weil „messbar“ von Seiten der Naturwissenschaft, sind sie schon aufgetreten. Dabei haben sie sich selbst ganz altbekannte Widersprüche geleistet.

Ich versuche jetzt nur kurz die plausibelsten Argumente der Kritiker zusammenzufassen:
Angefangen hat das Ganze mit dem Bezug auf ein Experiment von Libet, der ein „Bereitschaftspotential“ im Hirn gemessen hat noch bevor die Teilnehmer am Experiment eine bewusste Willensentscheidung signalisiert haben. Daraus wurde dann irgendwie der Beweis, dass neuronale Prozesse den Willen steuern. Mal davon abgesehen, dass von Kritikern des Experiments darauf hingewiesen wurde, dass das Experiment so konstruiert gewesen sei, dass bewusste Entscheidungen gar nicht nötig waren, trifft hier ein prinzipieller Einwand: Ein zeitliches Nacheinander spricht doch nicht für die „Herrschaft“ des einen über das andere. Jeder Mensch weiß, dass in seinem Kopf nicht nur bewusste Vorgänge ablaufen. Manchmal müssen wir uns ja „spontan“ entscheiden, weil wir gar nicht die Zeit haben uns eine Situation genau zu durchdenken. Umso mehr Erfahrungen wir mit einer bestimmten Situation gemacht haben (wenn wir etwas gelernt haben), umso mehr können wir uns auch auf unser Gefühl (Instinkt, Unterbewusstsein oder ist „Bereitschaftspotential“ wieder ganz was anderes) verlassen. Aber stehen diese zwei Aspekte in unserem Kopf deshalb in einer notwendigen Rangfolge zueinander, nur weil sie zeitversetzt ablaufen?

Zwei weitere Wissenschaftler Haggard/Eimer haben später das Libet-experiment modifiziert. Bei ihnen kam heraus, dass bei 25% der Versuchspersonen der bewusste Handlungswunsch vor dem neuronalen „Bereitschaftspotential“ lag. Beweisen tut das auch nichts, aber interpretieren könnte man es so, dass diese Unterschiede vielleicht irgendwie davon abhängen, welches Verhältnis ein Subjekt zu seinem bewussten Willen einnimmt)

Libet selbst hat von einer Veto-Funktion des Willens gesprochen und war gegen die deterministische Interpretation. Aber das Libet-Experiment wurde dann auch von den „Deterministen“ später selbst bemängelt.

Ein weiterer Einwand besagte, dass das Gehirn zwar das Organ geistiger Tätigkeit ist, aber als Voraussetzung ist es nicht mit seiner Ursache identisch. (Helmut Mayer sprach von einer Neuauflage des „Cartesianischen Dualismus“ und andere erinnerten an die „Qualia-Debatte“ aus der Philosophie)

Es wurde darauf hingewiesen, dass Singer dem Gehirn dieselbe passive Rolle wie Tieren zuordne. Dass Menschen ihre „Lebensbedingungen“ selbst herstellen und reflektieren, gelte ihm als unerheblich. (Und auch der „Prägungsvorgang des menschlichen Gehirns“ sei doch wohl völlig artspezifisch - nicht bei Tieren anzutreffen).

Zudem wurde auf logische Selbswidersprüche bei Singer und Roth hingewiesen. Das bei dem was sie dem Gehirn als Leistung alles absprechen, sie selbst als Wissenschaftler sich dabei offenbar als einzige Ausnahme wähnen, sonst könnten sie ihre eigenen Ergebnisse ja gar nicht ernst nehmen. Und irgendwie tun sie das auch nicht. Roth soll z.B. in einem Interview bestätigt haben, dass er nicht an eine real existierende Wirklichkeit glaubt. Und wenn man sich gedanklich da wirklich hingearbeitet hat, dann ist im Prinzip ja praktisch alles egal was man tut.

Zwar wurde die „Schuldfrage“ vom Subjekt genommen, aber einige Kritiker haben auch darauf verwiesen, dass das Organ „Hirn“ deswegen nicht freigesprochen wurde und wenn es nicht richtig funktioniere (sprich ein Individuum sich nicht richtig in die Gesellschaft einfüge), sei wohl der nächste logische Schritt der, daran „herumzuschnipseln“.
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon pinkwoolf » Sa 17. Jan 2009, 22:51

HFRudolph hat geschrieben:Ohje, wann soll ich das nur alles lesen. Je kürzer und präziser und provokativer eine Aussage verfasst wird, umso höher ist in Foren allgemein die Chance auf Antwort.

Du sagst es. Deshalb werde ich mich einer Antwort enthalten. :eg:
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon ostfriese » So 18. Jan 2009, 00:30

Pia Hut, Du erwähnst die übliche Kritik an Ausführung und Interpretationen des Libet-Experiments, ferner einige Standard-Argumente von Dualisten. Desweiteren greifst Du die angeblichen Standpunkte von Roth oder Singer an, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Du sie -- teilweise -- missverstanden haben könntest. Hilfreicher für eine Diskussion wäre es, Du würdest konkrete Aussagen von ihnen im Zusammenhang zitieren und dann äußern, was Du daran für falsch hälst.

Was die gefährdete Zukunft unseres Planeten und der Menschheit angeht, gebe ich Dir recht: Die Aussichten auf weitere Fortschritte bei der durchschnittlichen Lebensqualität sind nicht eben rosig. Aber das liegt ja nun gwiss nicht an fehlender Willensfreiheit!
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon ganimed » So 18. Jan 2009, 12:47

Ich finde, man muss das Libet-Experiment gar nicht so interpretieren: "unbewusst" wird vor "bewusst" gemessen, also gewinnt "unbewusst", also hat in Wirklichkeit "unbewusst" auch entschieden.

Durch das Experiment wird doch vor allem eines klar. Es gibt keine Entscheidungsphase, in dem unbewusste Vorgänge mal für ne Sekunde pausieren und ehrfürchtig darauf warten, was denn nun der bewusste Gegenpart entscheiden wird. Der bewusste Teil ist keine örtlich abgetrennte Hirnregion. Alles arbeitet zusammen. Wenn etwas bewusst abläuft, dann heißt das doch nur, dass wir es merken, dass es "uns" zur Kenntnis gelangt, dass wir es im Gedächtnis abspeichern (das machen wir mit unbewussten Dingen erstmal nicht). Aber ansonsten wird beim bewussten auch nur mit Wasser gekocht, ja sogar mit genau demselben Wasser, mit exakt den gleichen Neuronen.

Habe das gestern (wiedermal) bei einer Folge von "Geist und Gehirn" mit Manfred Spitzer gesehen.
Geist & Gehirn : Folge 122: Unbewusste Motivation
http://www.br-online.de/br-alpha/geist-und-gehirn/geist-und-gehirn-manfred-spitzer-gehirnforschung-ID1214407245895.xml
In einem entsprechenden Experiment wurde unbewusste Motivation gemessen. Je nachdem wie lange ein Schlüsselreiz vorher eingeblendet wurde, wurde er nur unbewusst oder bewusst erfasst. Der einzige Unterschied in dem anschließenden Test: der unbewusste Reiz und die daraus resultierende unbewusste Motivation spielen sich auf einem niedrigeren Level ab. Ich habe das zumindest so verstanden. Der Vorgang ist aber exakt derselbe. Ob er bewusst oder unbewusst verläuft hängt möglicherweise nur von der Signalstärke ab.

Woraus ich jetzt also schließe: es geht im Libet-Experiment gar nicht darum, zu beweisen, dass unser Willen in Wirklichkeit unbewusst entstünde. So nach dem Motto: "wenn es unbewusst wäre, dann wäre es sicher mechanisch, deterministisch und kein echter Wille." Sondern man muss sich doch eigentlich nur klar machen, dass egal ob bewusst oder unbewusst, es sind die gleichen Neuronen, die feuern. Und die feuern nicht einfach so, sondern nach biochemischen Regeln. Und also hat jeder klitzekleine Gedanke und Wunsch in uns eine letztendlich biochemische Ursache, wurde letztendlich durch irgendwelche Input-Signale von außen getriggert. Bis also jemand im Gehirn etwas anderes als biochemische Hirnzellen findet (etwa einen dualistischen Zufallsgenerator oder eine multidimensionale Ideenmaschine), kann also doch niemand ernsthaft annehmen, dass unser Wille frei wäre in dem Sinne, dass er nicht von Eingangssignalen und neuronalen Vorzuständen im Hirn abhinge.

Als Informatiker würde ich es so formulieren: man kann mit deterministischen Elementen (biochemischen Neuronen) keinen indeterministischen Automaten bauen. Oder um es nochmal übertragen auszudrücken: wer nur mit Wasser kocht (unter Normaldruck) kann mir nicht erzählen, er könne 1000 Grad heiße Kartoffeln zubereiten. Das geht einfach nicht.

Und das wäre für mich das zentrale Argument von Wolf Singer (obwohl ich zugeben muss, dass ich sorgfältig eigentlich nur diesen einen 18 seitigen Text von ihm gelesen habe: Singer, W. (2003) "Über Bewußtsein und unsere Grenzen. Ein neurobiologischer Erklärungsversuch." Als PDF ladbar hier: http://www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/Np/Pubs/nau.pdf )
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon ostfriese » So 18. Jan 2009, 13:23

ganimed hat geschrieben:Bis also jemand im Gehirn etwas anderes als biochemische Hirnzellen findet (etwa einen dualistischen Zufallsgenerator oder eine multidimensionale Ideenmaschine), kann also doch niemand ernsthaft annehmen, dass unser Wille frei wäre in dem Sinne, dass er nicht von Eingangssignalen und neuronalen Vorzuständen im Hirn abhinge.

Wer Occams Razor als Diskursregel nicht befolgen möchte, kann das durchaus "ernsthaft annehmen". Allerdings könnte er dann ebenso gut das "Fliegende Spaghettimonster" annehmen.

ganimed hat geschrieben:Als Informatiker würde ich es so formulieren: man kann mit deterministischen Elementen (biochemischen Neuronen) keinen indeterministischen Automaten bauen.

Was ist denn ein "indeterministischer Automat"? ;-)

ganimed hat geschrieben:Und das wäre für mich das zentrale Argument von Wolf Singer

Dass die selbst ernannten "Philosophen des Geistes" ein Problem mit Hirnforschern wie Singer und Roth haben, liegt in meinen Augen schlicht daran, dass diese sich erdreisten, wissenschaftliche Erkenntnisse auf philosophische Implikationen abzuklopfen, anstatt diesen Job vertrauensvoll den vermeintlichen Profis zu überlassen. Ich persönlich gelange immer mehr zu der Überzeugung, dass viele Naturwissenschaftler ihre Forschungsergebnisse viel differenzierter interpretieren als das Gros der Philosophen -- einfach deswegen, weil sie diese gründlicher durchdacht und verstanden haben. Deshalb lob ich mir so rühmliche Ausnahmen wie Vollmer, Kanitscheider, Bunge oder Mahner. Zufällig alles Naturalisten... :mg:
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Re: Willensfreiheit bei Schmidt-Salomon

Beitragvon stine » So 18. Jan 2009, 14:49

ganimed hat geschrieben:Mein Misstrauen gegen den eigenen Verstand (aber auch den aller anderen Menschen) ist just heute wieder geschürt worden. Ich habe zufällig ein Video von Manfred Spitzer (Hirnfoscher) gesehen. Dort berichtet er von einem Experiment.

3 Gruppen von Kandidaten sollen jeweils 5 Minuten lang Sätze bilden. Gruppe eins bekommt dafür freundliche Worte als Ausgangsmaterial, Gruppe zwei neutrale Worte und Gruppe drei unfreundliche Worte. Nach fünf Minuten werden die Kandidaten in eine gestellt Szene geführt, in der sie angeblich 10 Minuten auf ein Gespräch warten müssen. Sie ahnen nicht, dass dies der eigentliche Test ist. Je nachdem in welcher Gruppe man war, ist man geduldig oder ungeduldig, freundlich oder unfreundlich. Das eigene Verhalten wird also messbar beeinflusst nur weil ich vorher 5 Minuten lang freundliche oder unfreundliche Wörter im Kopf bewegt habe.

Ist aber nicht gerade dieser Test ein Beispiel dafür, dass Wissen uns bewußter werden läßt?
Ich meine, wer begreift um was es in diesem Test geht, würde sich kein zweites Mal so verhalten. Wenn mir bewußt wird, welcher Manipulation ich ausgesetzt werden soll, dann kann ich meine Reaktion steuern.
Reflexe sind unüberlegt und drängen aus den Tiefen unseres Unterbewußtseins. Bewußtes Handeln ist jedoch überlegtes Handeln.

Ich kenne eine Reihe von hochbegabten Schülern, die an den einfachsten Fragen scheitern. Nicht, weil sie sie nicht beantworten könnten, sondern weil sie hinter jeder Frage noch einen anderen Grund, eine andere Ausrichtung vermuten. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass eine einfache Antwort alles sein soll. Sie parieren also nicht mit erlerntem Wissen aus dem Rückenmark, sondern überlegen sehr genau, ob es noch andere Hintergründe für den Fragenden geben könnte.
So kann man sich durch bewußtes Reagieren ganz unbewußt das Leben schwer machen.
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