Der Kern des Naturalismus

Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon smalonius » Mi 15. Apr 2009, 17:01

ganimed hat geschrieben:Ich hatte es immer so verstanden, dass die Raumzeit erst mit dem Urknall entstanden sei.
Diese Ansicht konnte man in den letzten Jahren vermehrt in den Wissenschaftsteilen unserer Zeitungen und Magazine lesen.

Standardmeinung unter den Kosmologen war es jedoch nie. Stattdessen wurde auch gerne mal spekuliert, das Universum erlebe eine Folge von Big Crunshes und Big Bangs.

Bisher ist das Spekulation geblieben. Allerdings gibt es einige vielversprechende Ansätze, das Problem zumindest theoretisch in den Griff zu kriegen. So vermeiden sowohl die String-Theorien als auch die Schleifenquantengravitation Singularitäten, wie sie in Schwarzen Löchern oder beim Urknall auftreten.

ujmp hat geschrieben:Die Inhalte der Begriffe Raum, Zeit, Materie, und Natur ändern sich permanent. Darauf Maxime aufzubauen ist quasireligiös.
So wie ich das sehe, baut Naturalismus nicht auf konkreten Auslegungen dieser Begriffe auf.

Gefordert wird nur eins: Raum, Zeit, Materie sind strukturiert und diese Struktur ist nicht beliebig. Alles was sich abspielt, folgt gewissen Regeln - sagen wir Naturgesetzen. Sogar wenn es eine jenseitige Welt gäbe, müßten dieses Jenseits seine eigenen Regeln oder Strukturen haben (falls es nicht unsere wären). Salopp gesagt könnten auch hypothetische jenseitige Wesen nur mit Wasser kochen und sie hätten ihre eigene Evolutionsgeschichte.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Mi 15. Apr 2009, 20:19

smalonius hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Die Inhalte der Begriffe Raum, Zeit, Materie, und Natur ändern sich permanent. Darauf Maxime aufzubauen ist quasireligiös.
So wie ich das sehe, baut Naturalismus nicht auf konkreten Auslegungen dieser Begriffe auf.


Der Naturalismus sollte zwar möglichst allgemein, aber nicht möglichst vage gehalten sein.
Vor allem gilt es den Hauptbegriff der Natur zu präzisieren bzw. zu explizieren.
Der Naturalismus will allerdings nicht selbst spezielle physikalische Theorien über die Beschaffenheit von Raum, Zeit und Materie aufstellen und der Physik damit Konkurrenz machen. Herauszufinden, ob z.B. der Raum nun drei oder mehr als drei Dimensionen hat, das überlässt der metaphysische Naturalist dem Physiker.
Das bedeutet aber keineswegs, dass sich die Metaphysiker selbst überhaupt nicht mit Raum und Zeit befassen.
Der Übergang zwischen Physik und Metaphysik, zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie ist fließend.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Do 16. Apr 2009, 04:10

Anknüpfend an eine Formulierung von David Lewis, kann man den Begriff der Raumzeit bzw. Raumzeitwelt auch egozentristisch erläutern:

Meine Raumzeitwelt ist die Gesamtheit all dessen, das in einer bestimmten Richtung und Entfernung von mir-hier sowie zu einer bestimmten Zeit vor, nach oder gleichzeitig mit mir-jetzt existiert.

Ich denke, das ist praktisch für jedermann intuitiv nachvollziehbar, ohne dass dazu ein Doktortitel in Philosophie oder Physik vonnöten wäre.

All diejenigen Dinge, zu denen ich in räumlich-zeitlichen Beziehungen stehe, sind, wie David Lewis sie nennt, meine Weltgenossen (worldmates).
Egozentristisch formuliert, besteht der (metaphysische) Naturalismus demnach in der Ansicht, dass ich und all meine Weltgenossen die Gesamtheit des Seienden bilden, und dass weder ich noch irgendeiner meiner Weltgenossen etwas rein Geistliches ist.

(Anm.: Ich verwende "geistlich" gerne im ursprünglichen Sinn von "spirituell" und nicht im heute vorherrschenden Sinn von "klerikal".)
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon ujmp » Do 16. Apr 2009, 15:05

Myron hat geschrieben:...Ich denke, das ist praktisch für jedermann intuitiv nachvollziehbar, ohne dass dazu ein Doktortitel in Philosophie oder Physik vonnöten wäre.

Danke für die vielen Hinweise. Nominalismus muss ich mir erstmal in Ruhe reinziehen.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Do 16. Apr 2009, 16:01

ujmp hat geschrieben:Nominalismus muss ich mir erstmal in Ruhe reinziehen.


Wenn Du Englisch kannst, dann wirst Du keinen besseren Text zum Einstieg finden als den folgenden:

http://plato.stanford.edu/entries/nomin ... etaphysics
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon ujmp » Do 16. Apr 2009, 16:19

Myron hat geschrieben:Wenn Du Englisch kannst ...


Danke, ich hatte den Link oben schon gesehen, und hab auch gleich gemerkt, dass das besser ist, als der Artikel von Wikipedia. Für philosophische engl. Texte brauch ich aber etwas mehr Zeit...
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Do 16. Apr 2009, 18:57

ujmp hat geschrieben:Danke, ich hatte den Link oben schon gesehen, und hab auch gleich gemerkt, dass das besser ist, als der Artikel von Wikipedia.


Vergiss den Wikipedia-Artikel!
Darin ist einiges schief oder gar falsch ausgedrückt. Es geht schon am Anfang los:

"Als Universalien werden Allgemeinbegriffe wie beispielsweise „Mensch“ und „Menschheit“ oder mathematische Entitäten wie „Zahl“, „Relation“ und „Klasse“ bezeichnet."

Unter Universalien werden "Allgemeinheiten" verstanden, und das berühmt-berüchtigte Universalienproblem dreht sich um die Frage, ob es solche Allgemeinheiten gibt. Dafür infrage kommen geistabhängige Begriffe (als Begriffswortbedeutungen, nicht als Begriffswörter), Vorstellungen (Locke's 'general ideas') sowie sprach- oder/und geistunabhängige Eigenschaften und Beziehungen.
Begriffe und Vorstellungen sind als Universalia praktisch aus dem Rennen, was nicht heißt, dass es sie überhaupt nicht gibt, sondern, dass es sie bloß als Partikularia gibt. Der Begriff <Pferd> und eine Vorstellung eines Pferdes sind "Einzelheiten". Der Begriff ist nicht in sich, sondern nur insofern 'allgemein', als es viele verschiedene Einzelgegenstände geben kann, die unter ihn fallen. Und wenn man sich ein Pferd vorstellt, dann ist diese Vorstellung nicht in sich, sondern nur insofern 'allgemein', als sie pars-pro-toto-mäßig für eine Vielzahl von Pferden stehen kann.

Die zeitgenössische Diskussion dreht sich also nur noch um die Frage, ob es Eigenschaften und Beziehungen als Allgemeinheiten gibt.

Und mathematische Entitäten wie Zahlen oder Klassen sind im Gegensatz zu Relationen keine Universalien, sondern abstrakte Objekte. Im obigen Zitat wird das sträflicherweise durcheinander geworfen.

"[T]here are (at least) two kinds of Nominalism, one that maintains that there are no universals and one that maintains that there are no abstract objects. Realism about universals is the doctrine that there are universals, and Platonism is the doctrine that there are abstract objects."
———
"Es gibt (mindestens) zwei Arten von Nominalismus, eine, die die Auffassung vertritt, dass es keine Universalien gibt, und eine, die die Auffassung vertritt, dass es keine abstrakten Objekte gibt. Der Universalien-Realismus ist die Lehre, dass es Universalien gibt, und der Platonismus ist die Lehre, dass es abstrakte Objekte gibt."
[© meine Übers.]
(http://plato.stanford.edu/entries/nomin ... etaphysics)

ujmp hat geschrieben:Für philosophische engl. Texte brauch ich aber etwas mehr Zeit...


Die ausgezeichneten, von ausgewiesenen Fachleuten verfassten Artikel der Stanford Encyclopedia of Philosophy sind die Zeit und die Mühe auf jeden Fall wert.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Fr 17. Apr 2009, 05:54

Myron hat geschrieben:Der Naturalismus will allerdings nicht selbst spezielle physikalische Theorien über die Beschaffenheit von Raum, Zeit und Materie aufstellen und der Physik damit Konkurrenz machen. Herauszufinden, ob z.B. der Raum nun drei oder mehr als drei Dimensionen hat, das überlässt der metaphysische Naturalist dem Physiker.


Armstrong's These des ontologischen Naturalismus:

"[Naturalism] is the contention that the world, the totality of entities, is nothing more than the spacetime system."
———
"Der Naturalismus besteht in der Auffassung, dass die Welt, die Gesamtheit des Seienden, nichts weiter ist als das Raumzeitsystem." [© meine Übers.]

(Armstrong, D. M. A World of States of Affairs. Cambridge: Cambridge University Press, 1997. p. 5)


"Notice that the thesis of Naturalism, as it is understood here, is not committed to the view that space and time, or even spacetime points, are ontologically fundamental. The nature of space and time is to be discovered a posteriori. It is a matter for science. And who is to say, given the present situation in quantum physics and cosmology, that space and time will not turn out to be analysable in terms of entities more fundamental?"
———
"Man beachte, dass die These des Naturalismus, wie sie hier verstanden wird, nicht auf die Ansicht festgelegt ist, dass Raum und Zeit, oder gar Raumzeitpunkte, ontologisch fundamental sind. Das Wesen von Raum und Zeit gilt es aposteriorisch zu entdecken. Das ist eine Angelegenheit der Naturwissenschaft. Und wer will angesichts der gegenwärtigen Situation in der Quantenphysik und der Kosmologie behaupten, dass sich Raum und Zeit nicht als unter Bezug auf fundamentalere Dinge analysierbar erweisen werden?" [© meine Übers.]

(Armstrong, D. M. A World of States of Affairs. Cambridge: Cambridge University Press, 1997. p. 6)
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon El Schwalmo » So 19. Apr 2009, 12:21

Myron hat geschrieben:Ich weiß nicht, ob es ich weiß, zunächst glaube ich es.
Welche Arten von außerraumzeitlichen Sachen kämen infrage?
1. Spirituelle Entitäten (Cartesianische Seelen/Geister, z.B. Gott)
2. Abstrakte Entitäten
2.1. Abstrakte Individuen (logisch-mathematische Objekte, semiotische Typen)
2.2. Transzendente Universalien

Ein 'Vollblutnaturalist' kommt nicht umhin, die Existenz sowohl von spiritualia als auch von abstracta zu verneinen. Das heißt, er muss sowohl den Substanz-Materialismus als auch den Nominalismus vertreten. (Er kann allerdings immanente Universalien gutheißen).

wie gesagt, als Glaube geht das an. Als ontische Aussage mit Anspruch auf Geltung müssten noch ein paar Prämissen mehr belegt werden.

Mir geht es hier so wie bei der Wahrheitsdefinition, die Du in einem anderen Thread zitiert hast. Das Problem besteht nicht, zu definieren, was Wahrheit sein soll, sondern von einer konkreten Aussage zu zeigen, dass sie wahr ist.

Du hast oben ein Liste aufgeführt. Stell' Dir mal vor, es gäbe Entitäten, für die Du nicht einmal einen Namen, geschweige denn einen Begriff hast, die sich Deinem Denken vollkommen entziehen. Meinst Du, die müsste das irgendwie tangieren?

Selbstverständlich kannst Du in einem rationalen Diskurs einfordern, dass nur das verhandelt wird, was begründet werden kann. Solange Du aus den Diskursregeln keine Ontologie machst, ist das in Ordnung.
Zuletzt geändert von El Schwalmo am So 19. Apr 2009, 12:35, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon El Schwalmo » So 19. Apr 2009, 12:33

Myron hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:(Aber so ein allmächtiger Gott kommt ja auch nicht infrage, weil er ebenfalls ein solches Unding ist!)


Es darf nicht übersehen werden, dass Gott als ein außerraumzeitliches Geistwesen weder etwas denken, empfinden noch etwas fühlen könnte, da Gedanken, Empfindungen und Gefühle ja in der Zeit ablaufende Vorgänge sind. Das würde bedeuten, dass das Bewusstsein Gottes völlig inhaltslos ist, weil darin nichts vor sich gehen, geschehen kann.
Folglich wäre Gott weder eine res extensa noch eine res cogitans, sondern ein "Nichts mit leerem Bewusstsein"!

Passagen wie diese erinnern mich immer irgendwie an Münchhausen: man watet in einem Brei und hofft, sich an den Haaren aus dem Sumpf ziehen zu können.

Nach den Begriffen, die Du fassen kannst, ist eine Existenz eines Gottes, die Du fassen kannst, nicht möglich. Was könnten die Theologen wohl damit meinen, wenn sie sagen, dass es einen Gott, den es 'gibt', nicht gibt?

Was willst Du aus dem Umstand, wie wir Menschen denken (beispielsweise in Raum und Zeit), darüber folgern, wie eine nicht-menschliche Intelligenz denkt, falls der Begriff 'denken' hier überhaupt mehr als eine Analogie sein sollte?

Dir ist sicher aufgefallen, dass Du in Deinen diesbezüglichen Postings sehr oft 'Glaube' bzw. 'glauben' verwendest. Von meinem Standpunkt aus ist Deine Position durchaus nachvollziehbar: Du stellst Ansprüche an eine Behauptung. Wenn also jemand von 'Gott' spricht, ist er beweispflichtig. Er verhakt sich sehr schnell in genau den Fußangeln, mit denen Du auch kämpfen musst. Von meiner Warte aus 'glaubst' Du genauso wie die Theisten. Ich finde es nachvollziehbarer, davon auszugehen, dass wir mit dem Gehirn, das uns ein paar Jahrmillionen Evolution im Mesokosmos anselektiert haben, nicht das Sein des Seienden erkennen. Es scheint mir Hybris zu sein, davon auszugehen, dass sich das Universum nach den Regeln unserer Logik richten sollte.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon smalonius » So 19. Apr 2009, 13:37

El Schwalmo hat geschrieben: Es scheint mir Hybris zu sein, davon auszugehen, dass sich das Universum nach den Regeln unserer Logik richten sollte.
Ist es nicht umgekehrt: unsere Logik richtet sich nach den Regeln des Universums?

Die Form eines Fisches ist geprägt durch das Wasser. Ein guter Aerodynamiker könnte aus Gewicht und Bau eines Vogels etwas über unsere Atmosphäre ableiten. Unsere Gehirn bildet Logik und Regeln des Universums ab.

Ich will gerne zugeben, daß unsere intuitive Sicht der Welt fürchterlich in die Hose geht, sobald man zum Beispiel moderne Physik betreibt. Trotzdem sind wir fähig, durch Versuch-und-Irrtums-Taktiken unsere naive Sicht als falsch zu entlarven.

El Schwalmo hat geschrieben:Stell' Dir mal vor, es gäbe Entitäten, für die Du nicht einmal einen Namen, geschweige denn einen Begriff hast, die sich Deinem Denken vollkommen entziehen. Meinst Du, die müsste das irgendwie tangieren?


Gibt es Dinge, die sich dem Denken entziehen?

Wenn sich etwas unserem Denken entzieht, dann nur weil es nicht beobachbar ist. Wird etwas beobachtet, kann man darüber nachdenken. In dem Sinne entzieht sich nichts unserem Denken, das Spuren in unserer Welt hinterläßt.

In einem Satz: über das, was keine Spuren hinterläßt in der Welt, kann man alles und nichts sagen.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon El Schwalmo » So 19. Apr 2009, 14:13

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben: Es scheint mir Hybris zu sein, davon auszugehen, dass sich das Universum nach den Regeln unserer Logik richten sollte.

Ist es nicht umgekehrt: unsere Logik richtet sich nach den Regeln des Universums?

ich bin Anhänger der Evolutionären Erkenntnistheorie.

Unsere Logik richtet sich nach den Regeln, die im Mesokosmos zu gelten scheinen (bzw. nach denen wir dessen Lauf so beschreiben können, dass Vorhersagen möglich sind). Daraus abzuleiten, dass diese Regeln unversal gelten, ist eine interessante Frage, die meines Wissens noch niemand beantworten konnte. Ein kleiner Hinweis: Kant ging von absolutem Raum und absoluter Zeit aus. Wer macht das heute noch? Wer weiß, was wir in 200 Jahren wissen werden?

Okay, das schreibst Du dann ja im Prinzip auch. Ich sehe nur nicht, warum die Tatsache, dass wir unser heutiges Wissen korrigieren können, ein Argument dafür sein soll, dass wir wissen, dass es keine Übernatur gibt. Für mich sieht das eher danach aus, dass wir sehr vorsichtig argumentieren müssen, denn auch der Naturalismus könnte sich als Irrtum erweisen.

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Stell' Dir mal vor, es gäbe Entitäten, für die Du nicht einmal einen Namen, geschweige denn einen Begriff hast, die sich Deinem Denken vollkommen entziehen. Meinst Du, die müsste das irgendwie tangieren?


Gibt es Dinge, die sich dem Denken entziehen?

Wenn sich etwas unserem Denken entzieht, dann nur weil es nicht beobachbar ist. Wird etwas beobachtet, kann man darüber nachdenken. In dem Sinne entzieht sich nichts unserem Denken, das Spuren in unserer Welt hinterläßt.

In einem Satz: über das, was keine Spuren hinterläßt in der Welt, kann man alles und nichts sagen.

Eben. Und mein Punkt war, dass man aus den Diskursegeln ('es macht keinen Sinn, über etwas zu reden, das keine Spuren hinterlässt, die wir erkennen können') gültig auf das Sein ('es gibt keine Wesen, die Spuren hinterlassen, die wir nicht bemerken können') schließen kann.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon smalonius » So 19. Apr 2009, 16:30

El Schwalmo hat geschrieben:Daraus abzuleiten, dass diese Regeln unversal gelten, ist eine interessante Frage, die meines Wissens noch niemand beantworten konnte.
Kaum zu beantworten. Wer wollte sagen, welche Regeln in hypotetischen Raumzeiten gelten?

Die Aussage des Naturalismus ist eher, daß Regeln gelten, egal ob wir sie kennen oder nicht.

El Schwalmo hat geschrieben:Ein kleiner Hinweis: Kant ging von absolutem Raum und absoluter Zeit aus. Wer macht das heute noch? Wer weiß, was wir in 200 Jahren wissen werden?
Schönes Beispiel. Newtons Physik ging auch von absolutem Raum und absoluter Zeit aus. Die Vorstellung hat sich als völlig falsch herausgestellt. Trotzdem sind die drei Gesetze Newtons nach wie vor gültig. Sie werden auch in 200 Jahren gültig sein, unabhängig davon, wie sehr sich unser grundlegendes Verständnis der Physik noch wandelt.

El Schwalmo hat geschrieben:Eben. Und mein Punkt war, dass man aus den Diskursegeln ('es macht keinen Sinn, über etwas zu reden, das keine Spuren hinterlässt, die wir erkennen können') gültig auf das Sein ('es gibt keine Wesen, die Spuren hinterlassen, die wir nicht bemerken können') schließen kann.
Da sind wir uns einig.

Bei solchen Fragen bleibt am Ende nur Ockhams Razor.

Machen solche Aussagen wirklich Sinn: "Dieser Satz könnte wahr sein oder auch nicht."

Darüber kann man lange philosphieren und mathematisieren. Bitte weckt mich, falls ihr zu einem greifbaren Ergebnis kommt.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon platon » So 19. Apr 2009, 16:37

El Schwalmo hat geschrieben: Für mich sieht das eher danach aus, dass wir sehr vorsichtig argumentieren müssen, denn auch der Naturalismus könnte sich als Irrtum erweisen.

Kannst Du mal erläutern, wie Du Dir das vorstellst? Etwa, indem nun doch plötzlich jemand ein Kaninchen (sprich; einen Gott) aus dem Hut zaubert?
Da bin ich aber gespannt.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon ujmp » So 19. Apr 2009, 18:52

Es ist ganz einfach: Unsere Vorstellung von der Welt ist immer eine Hypothese. Im günstigeren Fall erlaubt diese Hypothese Prognosen, die uns helfen durchs Leben zu kommen. Wir können aber nichts mit Sicherheit über die Welt aussagen. Die Leugnung einer übernatürlichen Welt geschieht nicht auf Grund einer Erkenntnis, dass es sie nicht gibt, denn das weiß ich nicht, sondern auf Grund der Tatsache, dass Hypothesen, die ohne übernatürliche Annahmen auskommen, sich offensichtlich besser bewehren, sprich: Prognosen erlauben.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon El Schwalmo » So 19. Apr 2009, 19:00

platon hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben: Für mich sieht das eher danach aus, dass wir sehr vorsichtig argumentieren müssen, denn auch der Naturalismus könnte sich als Irrtum erweisen.

Kannst Du mal erläutern, wie Du Dir das vorstellst? Etwa, indem nun doch plötzlich jemand ein Kaninchen (sprich; einen Gott) aus dem Hut zaubert?
Da bin ich aber gespannt.

ich auch, aber das ist nicht der Punkt.

Die Frage ist, wie man den Naturalismus begründet. Mein Punkt ist, dass aus der Methodologie keine Ontik abgeleitet werden kann. Mehr nicht.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Sabrist » So 19. Apr 2009, 19:06

Falsche Fragestellung.
Naturalismus ist keine Religion.

El Schwalmo hat geschrieben: ...der Methodologie keine Ontik...

Booh, kennst du schwere Wörter... :gott:
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon El Schwalmo » So 19. Apr 2009, 19:06

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Daraus abzuleiten, dass diese Regeln unversal gelten, ist eine interessante Frage, die meines Wissens noch niemand beantworten konnte.
Kaum zu beantworten. Wer wollte sagen, welche Regeln in hypotetischen Raumzeiten gelten?

Die Aussage des Naturalismus ist eher, daß Regeln gelten, egal ob wir sie kennen oder nicht.

klar. Aber man kann das noch 'aufbohren': 'gibt' es diese Regeln, oder konstruieren wir diese?

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Ein kleiner Hinweis: Kant ging von absolutem Raum und absoluter Zeit aus. Wer macht das heute noch? Wer weiß, was wir in 200 Jahren wissen werden?

Schönes Beispiel. Newtons Physik ging auch von absolutem Raum und absoluter Zeit aus. Die Vorstellung hat sich als völlig falsch herausgestellt. Trotzdem sind die drei Gesetze Newtons nach wie vor gültig. Sie werden auch in 200 Jahren gültig sein, unabhängig davon, wie sehr sich unser grundlegendes Verständnis der Physik noch wandelt.

Was bedeutet 'sie sind gültig'? Doch nur, dass wir im Mesokosmos damit rechnen können und passende Ergebnisse erhalten. Was folgt daraus für das Sein? Können wir aus dem Bereich, der unserem Erkenntnisapparat zugänglich ist, auf das gesamte Sein schließen?

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Eben. Und mein Punkt war, dass man aus den Diskursegeln ('es macht keinen Sinn, über etwas zu reden, das keine Spuren hinterlässt, die wir erkennen können') gültig auf das Sein ('es gibt keine Wesen, die Spuren hinterlassen, die wir nicht bemerken können') schließen kann.

Da sind wir uns einig.

Bei solchen Fragen bleibt am Ende nur Ockhams Razor.

Eben. Und der ist ankeranntermaßen eine Heuristik. Auch das taugt nicht für eine Ontik.

smalonius hat geschrieben:Machen solche Aussagen wirklich Sinn: "Dieser Satz könnte wahr sein oder auch nicht."

Darüber kann man lange philosphieren und mathematisieren. Bitte weckt mich, falls ihr zu einem greifbaren Ergebnis kommt.

Eben. Die Frage ist nur, wie es aussehen würde, falls mit so einer nicht entscheidbaren Frage Konsequenzen verbunden wären.

Beispielsweise: lohnt es sich, die Emission von Treibhausgasen zu reduzieren, obwohl wir nicht wissen, was sein könnte und was nicht. Wahlweise auch, falls man eh' nichts mehr ändern könnnte.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » So 19. Apr 2009, 21:23

El Schwalmo hat geschrieben:Du hast oben ein Liste aufgeführt. Stell' Dir mal vor, es gäbe Entitäten, für die Du nicht einmal einen Namen, geschweige denn einen Begriff hast, die sich Deinem Denken vollkommen entziehen. Meinst Du, die müsste das irgendwie tangieren?


Natürlich hängt die Existenz realer Objekte nicht davon ab, ob ich daran glaube.

El Schwalmo hat geschrieben:Selbstverständlich kannst Du in einem rationalen Diskurs einfordern, dass nur das verhandelt wird, was begründet werden kann. Solange Du aus den Diskursregeln keine Ontologie machst, ist das in Ordnung.


Der ontologische Naturalismus heißt nicht zufällig so.
Ich habe die Chuzpe, über den agnostischen Standpunkt hinauszugehen. :^^:
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » So 19. Apr 2009, 21:32

El Schwalmo hat geschrieben:Was könnten die Theologen wohl damit meinen, wenn sie sagen, dass es einen Gott, den es 'gibt', nicht gibt?


Das wissen sie wohl selber nicht, denn das ist purer Nonsens.

El Schwalmo hat geschrieben:Von meiner Warte aus 'glaubst' Du genauso wie die Theisten.


Die folgende Aussage eines Philosophen, der sich selbst zu den Materialisten rechnet, dürfte Dir sehr gefallen:

"Belief in the truth of materialism is a matter of faith and needs to be tempered by agnosticism."

(Strawson, Galen. Mental Reality. Cambridge, MA: MIT Press, 1994. p. 43)
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