Freiheit - ein Hirngespinst

Die Einsicht, dass ich ein Sklave bin...

habe ich akzeptiert
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15%
fällt mir schwer, aber ich ahne es
1
8%
halte ich für Unsinn
10
77%
 
Abstimmungen insgesamt : 13

Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Dissidenkt » Di 16. Feb 2010, 16:43

Was kann ich wissen? fragt Kant.

Ich denke, es ist DIE Frage unserer Zeit und vielleicht ist es die aufregendste und wichtigste Erkenntnis überhaupt, zu der der Menschen zur Zeit fähig sein können. Wie schwer uns die Einsicht fällt, ist in der aktuellen Diskussion immer wieder zu spüren. Wir weigern uns einzusehen, dass wir zwar komplexe, aber dennoch vollkommen determinierte Reiz-Reaktions-Systeme sind und dass es so etwas wie ein unbedingtes "Ich" und eine sogenannte "Freiheit" gar nicht geben kann.
Freiheit ist tatsächlich im Grunde genommen ein absurder Begriff im menschlichen Denken, der nur durch sein Gegenteil und immer nur im Bezug auf etwas Konkretes definiert werden kann.

"Die Freiheit" ist ein Hirngespinst!

Freiheit - wenn es sie gäbe - würde schon dadurch beschränkt, dass wir sie mit einem Wort bezeichnen und damit schon unmittelbar einschränken. Freiheit - wenn es sie gäbe - wäre frei von jedweder Materie oder Erfahrbarkeit. Freiheit wäre ein Nichts ohne Namen und ohne Existenz, das sich jedem Versuch der Vorstellung vollkommen entzieht. Freiheit ist vor der Geburt und nach dem Tod.

Das ausgerechnet der Mensch sich so sehr an diesen Begriff klammert, sagt uns vieles über die menschliche Psyche. Der Mensch, der als Sklave seiner Gene, seiner Sozialisation und seiner physischen Existenz nicht einmal entscheiden darf, ob er überhaupt geboren werden möchte, klammert sich an ein Hirngespinst, aus Angst der Wahrheit ins Auge zu schauen.

Wir sollten uns eine Weltsicht angewöhnen, die den Begriff "Freiheit" nur sehr streng in konkreten Zusammenhängen verwendet. Ich kann r e l a t i v frei sein von Einschränkungen meiner Bewegungsfreiheit. Ich kann r e l a t i v frei sein von physischen oder psychischen Einschränkungen meines Denkens und Handelns. Freiheit ist immer nur graduell und in sehr konkreten Zusammenhängen DENKBAR!
Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass wir uns auch in diesen konkreten Zusammenhängen, die so empfundene Freiheit unseres Ichs, eine Entscheidung zu treffen oder eine Handlung auszuführen, nur e i n b i l d e n. Die Gründe für unser Handeln schiebt unser Gehirn bestenfalls nach und dabei scheut es sich auch nicht uns schamlos zu belügen und zu betrügen.

Ich bin also niemals frei in meinem Handeln! Ich bin zuallererst beschränkt durch meine Kenntnis über mögliche Handlungsalternativen. Dann bin ich beschränkt durch meine aktuellen persönlichen physischen und psychischen Möglichkeiten Handlungsalternativen auszuüben.
Wenn ich tatsächlich genötigt bin zu handeln, setze ich nach Ende eines mitunter sehr umfangreichen - und weitestgehend unbewussten- Reduktionsprozesses, in dem meine Handlungsmöglichkeiten abgewogen werden, eine Tat um, für die die Bezeichnung "freie Handlung" bestenfalls ein zynischer Witz sein kann.

Was bedeutet das?
Das bedeutet zunächst einmal, dass wir Sklaven sind. Sklaven, die sich ihrer Versklavung in den meisten Fällen nicht einmal bewusst sind und sich sogar weigern, die eigene Versklavung einzusehen.
In meinen Augen ist die Einsicht in unsere Sklavenexistenz die wichtigste Erkenntnis seit Gottes Beerdigung und sie ist ungleich schwerer zu akzeptieren. Zur Beerdigung Gottes reicht ein bisschen Hochmut. Das Eingeständnis ein Sklave zu sein verlangt dagegen eine gehörige Portion Demut.

Welche Folgen hat aber nun diese Erkenntnis für das Menschsein? (Was soll ich tun?)
Das wiederum ist die wichtigste F r a g e unserer Zeit, die aus der obigen Erkenntnis unmittelbar folgt.
Persönlich denke ich, dass daraus eine Verpflichtung resultiert. Die Verpflichtung, unsere persönlichen Grade an Freiheit so weit wie möglich zu erweitern. Dabei dürfen wir nicht hoffen eines Tages tatsächlich "frei" zu sein, das sind wir erst im Augenblick des Todes, wenn sich das Ich in Wohlgefallen aufgelöst hat.

Was darf ich also erwarten?
Alles was wir erwarten können, sind neue Erkenntnisse und Harmonie mit uns selbst und mit unserer Umwelt. Je größer unser Handlungsspielraum, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass unser Gehirn für uns die angemessenste Entscheidung trifft. Ein Leben in Harmonie mit uns selbst und unserer Umwelt ist aber auch die Grundlage für befriedigendes und dauerhaftes Glück und Erkenntnis ist der einzig wahre Sinn des Lebens,
oder?
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Di 16. Feb 2010, 17:29

Es sagt viel über die Psyche eines Menschen, sich der Natur gegenüber als Sklave zu fühlen - als gäbe es hierbei ein "Gegenüber".
Sich als Sklave zu empfinden bedeutet vor Allem auch - einen Herren über sich zu spüren.

Vielleicht solltest du dir einmnal ansehen, welche Stellen Kant in seiner zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft streichen ließ. Von der Erstfassung wurde nicht zu Unrecht behauptet, ihr Kerngedanke sei Berkeley'scher Idealismus.

Sklavenstellung und Berkeley'schen Idealismus - welchen gemeinsamen Teiler haben sie doch beide?
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Dissidenkt » Di 16. Feb 2010, 17:48

Sklave sein bedeutet nicht zwangsläufig, sich dessen bewusst zu sein, oder gar einen Herren (der ja auch objektiverweise nicht frei sein kann, also seinerseits Sklave ist) zu kennen.

Der Begriff ist natürlich provokant und führt auch ein bisschen auf eine falsche Fährte, was den historischen Überbau anbetrifft. Dennoch ist er dahingegend sehr treffend und angemessen, als dass er uns unsere Unfreiheit am radikalsten vor Augen führt.

Ich sehe uns nicht als Sklaven der Natur, sondern im Schopenhauerschen Sinne als Produkte und Werkzeuge eines "Willens" der die Natur und damit auch uns hervorgebracht hat.

Eines der wichtigsten immanenten Merkmale dieser Natur ist das Gesetz von Ursache und Wirkung dem wir unterworfen sind. Ein weiteres ist das Gesetz der Evolution. Ich versuche beide miteinander in Einklang zu bringen, um meiner Existenz nach Gottes Tod einen Sinn zu geben.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Di 16. Feb 2010, 18:12

Du hast Schopenhauers Werk nicht wirklich gelesen, oder? Ich frage nur, weil sein Denken dich anscheinend nicht geprägt hat. Sekundärliteratur ist nützlich sich einen Überblick zu verschaffen, aber wenn man ersthaft Anhänger einer Philosophie sein will...
Vielleicht ist das auch eine sehr verleumderische Unterstellung, die ich dir da mache.

Wenn du aber im Ursprung gar nicht auf Kant zurückgehen magst, sondern auf den genialen Schopenhauer, dann möchte ich, dass du dir einmal einen Reim darauf machst, weswegen er gerade dem Unbewußten den Namen "Willen" gab.

Er selber benutzt das die Bezeichnung des "freien Willens" ja auch weiterhin; ich glaube, es war die norwegische Preisschrift, in der er darlegte, dass es in Folge der Erkenntnisse, welche die Wissenschaften bisher gewannen, unvermeidlich sei damit folgendes zu meinen: "dass einem gegebenen Menschen, in einer gegebenen Lage, zwei verschiedene Handlungen möglich seien."
Ganz klar nicht das, was heute noch als "freier Wille" diskutiert wird.

Hast du eigentlich noch einmal abgestimmt für den ersten Punkt, oder war das wirklich ein anderer?

Jedenfalls ist die Bezeichnung als "Sklave" gerade wegen dessen Semantik ziemlich unbegründet. Du darfst uns aber gern eröffnen, aus welchen Gründen du es für eine gelungene Bezeichung hältst.

ps: Dein Bedürfnis nach Sinn ist kein Argument. Zumindest ist es deinen Ausführungen nach kein Argument, denn Feiheit ist ein Etwas, dass im menschlichen Erlebenshorizont auch wirklich da ist, egal ob es dafür ein genau bestimmbares physikalisches Korrelat gibt, oder eine mentale Repräsentation oder derlei. Nur weil es nicht lokalisierbar ist, heißt es nicht, dass es das nicht gibt. Das gleiche zeigt sich bei einer Vielzahl semantischer Aphasien, also hirnorganisch bedingten Sprachstörungen, die mit Konzeptverlust in der Sprache einhergehen. Man weiss, dass es in irgendeiner Weise kortikal umgrenzbar ist und nicht etwa in der Niere liegt, aber man kann ein "konzeptuelles Zentrum" gemeinhin nicht umreißen (inziwschen kann man es für belebte Objekte ein wenig, aber das muss ja nicht weiter interessieren.)
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon AgentProvocateur » Di 16. Feb 2010, 18:54

Dissidenkt hat geschrieben:Sklave [...] Der Begriff ist natürlich provokant und führt auch ein bisschen auf eine falsche Fährte, was den historischen Überbau anbetrifft.

Jo. -> Sklavenmoral

Dissidenkt hat geschrieben:Dennoch ist er dahingegend sehr treffend und angemessen, als dass er uns unsere Unfreiheit am radikalsten vor Augen führt.

Ich sehe uns nicht als Sklaven der Natur, sondern im Schopenhauerschen Sinne als Produkte und Werkzeuge eines "Willens" der die Natur und damit auch uns hervorgebracht hat.

Ach ja, Schopenhauer. Mitleidsethik. Die Welt ist ein Jammertal, alles Glück ist Illusion, usw.

Ist Dir schon mal in den Sinn gekommen, dass alles nur eine Frage der persönlichen Perspektive sein könnte? So, wie man die Welt, die anderen und sich selber sieht? Und da scheint es mir nun zwei gegensätzliche Sichtweisen zu geben: der Optimist und der Pessimist, Kant und Schopenhauer, die Sichtweise von sich selber als freies, gestaltendes Wesen oder als lediglich durch äußere Umstände getriebenes Wesen. Usw. usf. etc. pp.

Wobei dabei die Frage, welche Sichtweise die Richtige sei, meiner Ansicht nach sinnlos ist. Sind halt einfach nur unterschiedliche Sichtweisen derselben Vorgänge, beide gleichermaßen berechtigt.

So weit, so gut, dabei könnte man es nun einfach belassen. Problematisch wird es erst dann, wenn jemand die eine Sichtweise als einzig wahr ansieht und andere davon überzeugen will. Das kann er aber nicht, dazu hat er keine Grundlage, er hat nur eine andere Sichtweise.

Und ganz, ganz furchtbar problematisch wird es dann, wenn jemand der einen Sichtweise anhängt, aber die Anderen aus Gründen, die ihm nutzen, zu der anderen manipulieren will. (-> z.B. Gregor Gysi: "Für den Pöbel brauchen wir Religion, damit der in Zaum gehalten wird.")

Und irgendwie habe ich oft den Verdacht, dass jemand, der Sklavenmoral predigt, der selber gar nicht anhängt.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Di 16. Feb 2010, 19:16

Ich bitte Sie, Agent, nicht so platt an eine solche Frage heranzutreten. "Alles eine Frage der Sichtweise"... das wird er oder sie Zeit seines Lebens sicher schon hunderte Male gehört haben.

Und nein, jemand der Sklavenmoral predigt wird dazu von seinen Instinkten getrieben - es ist die Reaktion auf die Macht, von der sie sich besessen oder unterdrückt fühlen. Sklavenmoral predigen ist Rache: auch anderen, und vor allen Anderen den Mächtigen, soll das Dasein Leiden bedeuten.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Dissidenkt » Di 16. Feb 2010, 20:48

Jarl Gullkrølla hat geschrieben:Du hast Schopenhauers Werk nicht wirklich gelesen, oder? Ich frage nur, weil sein Denken dich anscheinend nicht geprägt hat. Sekundärliteratur ist nützlich sich einen Überblick zu verschaffen, aber wenn man ersthaft Anhänger einer Philosophie sein will...
Vielleicht ist das auch eine sehr verleumderische Unterstellung, die ich dir da mache.


Man kann jemanden nicht verleumden, den man gar nicht kennt. Was du also schreibst, sagt ausschliesslich etwas über dich selbst und rein gar nichts über mich.
Weder Schopenhauer, noch Kant sind hier das Thema. Das Thema ist "Freiheit". Wenn du also eigene oder fremde Erkenntnisse dazu beisteuern möchtest - gerne auch belegte Zitate - nur zu! Spekulationen über meine Person sind dagegen unangebracht und wirken peinlich.

Jarl Gullkrølla hat geschrieben:Wenn du aber im Ursprung gar nicht auf Kant zurückgehen magst, sondern auf den genialen Schopenhauer, dann möchte ich, dass du dir einmal einen Reim darauf machst, weswegen er gerade dem Unbewußten den Namen "Willen" gab


Schopenhauers "Wille" ist mitnichten das "Unbewußte". Wenn du dich schon so aufplusterst, soltest du auch wirklich wissen, wovon du redest. Schopenhauers "Wille" ist die undefinierbare Kraft, die die Welt an sich überhaupt erst hervorbringt und zwar lange bevor er im Geist des Menschen kulminiert, der sich daran macht, die Welt als das zu erkennen, was sie ist. > Vorstellung.

Jarl Gullkrølla hat geschrieben:Er selber benutzt das die Bezeichnung des "freien Willens" ja auch weiterhin; ich glaube, es war die norwegische Preisschrift, in der er darlegte, dass es in Folge der Erkenntnisse, welche die Wissenschaften bisher gewannen, unvermeidlich sei damit folgendes zu meinen: "dass einem gegebenen Menschen, in einer gegebenen Lage, zwei verschiedene Handlungen möglich seien."
Ganz klar nicht das, was heute noch als "freier Wille" diskutiert wird.


"Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber kann nicht wollen was er will."
Schopenhauer.

Jarl Gullkrølla hat geschrieben:Jedenfalls ist die Bezeichnung als "Sklave" gerade wegen dessen Semantik ziemlich unbegründet. Du darfst uns aber gern eröffnen, aus welchen Gründen du es für eine gelungene Bezeichung hältst.


Der Mensch ist u.a. Sklave seiner Gene, seiner Hormone, seiner Sozialisation und seiner Triebe. Wir sind austauschbare Vehikel des Willens zum Leben. Eine Entwicklungsstufe, nicht mehr und nicht weniger. Warum ich den Begriff gewählt habe, habe ich ja oben noch einmal erläutert.

Jarl Gullkrølla hat geschrieben:ps: Dein Bedürfnis nach Sinn ist kein Argument.


Doch es ist ein Argument, wenn auch kein erschöpfendes. Eine Welt, die einen zur Selbsterkenntnis fähigen Organismus hervorbringt, kann nicht sinnlos sein. Das wäre der totale Nihilismus.

Jarl Gullkrølla hat geschrieben:Zumindest ist es deinen Ausführungen nach kein Argument, denn Feiheit ist ein Etwas, dass im menschlichen Erlebenshorizont auch wirklich da ist, egal ob es dafür ein genau bestimmbares physikalisches Korrelat gibt, oder eine mentale Repräsentation oder derlei.


Freiheit ist nur deshalb Teil unserer Erfahrung, weil sie beschränkt ist, weil es sie als absolute Freiheit nicht geben kann. Absolute Freiheit ist weder vorstell- noch erfahrbar, da unsere Existenz an sich schon Unfreiheit voraussetzt.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Dissidenkt » Di 16. Feb 2010, 21:28

AgentProvocateur hat geschrieben:Ist Dir schon mal in den Sinn gekommen, dass alles nur eine Frage der persönlichen Perspektive sein könnte? So, wie man die Welt, die anderen und sich selber sieht?


Ja, das ist aber schon ein paar Jahrzehnte her, muss in der Schule gewesen sein, beim Käsekästchenspielen. Wirklich keine große Erkenntnis, aber gerade in dieser banalen Erkenntnis liegt doch auch schon ein Beweis, das Schopenhauer Recht hat. So schnell wie der Mensch seine "Perspektive" aufs Leben ändern kann, so schnell ändert sich nämlich auch das persönlich empfundene Glück.

AgentProvocateur hat geschrieben:So weit, so gut, dabei könnte man es nun einfach belassen. Problematisch wird es erst dann, wenn jemand die eine Sichtweise als einzig wahr ansieht und andere davon überzeugen will. Das kann er aber nicht, dazu hat er keine Grundlage, er hat nur eine andere Sichtweise.


Wir reden hier doch nicht über Ideologie oder Religion, sondern über Erkenntnis. Der Verstand ist uns gegeben, die Dinge zu prüfen. Wenn du dich als "frei" empfindest, ist dir das doch überlassen. Wenn du das argumentativ begründen kannst, werde ich das aufmerksam studieren.

AgentProvocateur hat geschrieben:Und ganz, ganz furchtbar problematisch wird es dann, wenn jemand der einen Sichtweise anhängt, aber die Anderen aus Gründen, die ihm nutzen, zu der anderen manipulieren will. (-> z.B. Gregor Gysi: "Für den Pöbel brauchen wir Religion, damit der in Zaum gehalten wird.")


Dir ist schon klar, dass Gysi das - wenn überhaupt - nur als Advocatus Diaboli gesagt haben könnte?

AgentProvocateur hat geschrieben:Und irgendwie habe ich oft den Verdacht, dass jemand, der Sklavenmoral predigt, der selber gar nicht anhängt.


Ich weiss nicht, was das Thema mit Sklavenmoral zu tun haben soll.
Die Einsicht Sklave zu sein, ist der erste Schritt in Richtung Freiheit. Moralische Fragen sind damit noch gar nicht tendiert.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Di 16. Feb 2010, 21:58

Wie schon gesagt spricht Schopenhauer weiter vom freien Willen, unter Anwendung genannter Definition seinerseits. Dass er die Wollung vom Willen abgrenzt ist dabei die Vorraussetzung für die Art seiner Definition. Er nimmt sich demnach also einen anderen Referenden für dieselbe Bezeichnung. Mit der Wortform "Vernunft" ist ja dasselbe geschehen und wir könnten uns so, wie wir alle eine mehr oder wenige Meinung vom Wesen der Vernunft haben, auch auf das Wesen des "freien Willens" im Sinne Schopenhauers einigen. Dazu aber bedürfte es der Ausräumung vieler Vorurteile, deswegen ist es schon richtig, besser von der Nichtexistenz des freien Willens zu sprechen; auch wenn damit nur ein Teil der "freien Willen" damit erfasst ist. (Es gibt Menschen, die könnten ihrer Sprache wegen nur mittelst beschwerlicher Umwege zu solchen Abstraktionen gelangen. So wie auch Heidegger in Sprachen mit eingeschränkter Anzahl an Präpositionen wie dem Portugiesischen kaum denkbar ist.)

Nun kommt es eben bei dem, was du Freiheit nennst und du von der "Unmöglichkeit absoluter Freiheit" und dergleichen gerade auf die Geister an, auf die du dich mit Gebrauches ihrer Terminologie beziehst. Was zählt ist also allemal die Definition von Freiheit, welche Kant ansetzt und Schopenhauer weiterführt. Man kann Freiheit auch so definieren, dass sie nicht "unmöglich" ist, z.B. indem man sie von der Vernunft ausgrenzt (oder dem Verstande, ich weiss gerade schlecht, wie du die geistigen Vermögen eingeteilt siehst). Nach Spinoza ist Freiheit so definiert, dass sie möglich ist. Ich würde seine Prämissen zwar als falsch ansehen, aber das tue ich in gleicher Weise bei Schopenhauer und Kant; die Prämissen müssen ja allemal immer anerkannt sein: "Ich nenne also ein Ding frei, wenn es nur aus der Notwendigkeit seiner Natur existiert und handelt;[...] Gott z.B. existiert notwendig zwar und dennoch frei, weil er allein aus der Notwendigkeit seiner Natur existiert [causa sui].[...] Sie sehen also, dass ich die Freiheit nicht in den freien Willen, sondern in die freie Notwendigkeit setze." (Mit Natur bezeichnet S. immer das, was Sch. als Wesen oder Definition einer Sache bezeichnet.)

Mir ist es übrigens nicht peinlich; aber lustig zu sehen, wie schnell anderen Dinge peinlich erscheinen. Mein Naturell ist dazu wohl zu heiter...

Ich kann nichts daran finden, was den Willen als Unbewußtes ausschließen würde. Nein, beim besten Willen nicht. Ich meine ja vor allem nicht das Unter-bewußte, diesen Unbegriff versuche ich allemal aus meinem Sprachgebrauch fernzuhalten.
Ich will jetzt wirklich nicht Korinthen kacken, aber der Druck ist einfach zu groß: wenn du den Willen auch nur als "undefinierbare Kraft" bezeichnest, hast du sie schon definiert. Richtiger ist hier das Irrationale, der Wille ist also jedenfalls definierbar, wenn auch (vorerst?) in Negativkonstitution; so wie auch das Gefühl definitorisch das Irrationale bei Schopenhauer ist (WWV §11).
Ich weiss gerade dann schlecht, ob du ungenau sprichst; jedenfalls ist die Welt ja nicht "das, was sie ist" als Vorstellung; sie ist es a u c h als Vorstellung. Aber ich gehe eigentlich davon aus, dass es wirklich nichts weiter als eine kleine Ungenauigkeit darstellte; so wie auch "hervorbringen" - "sich als Welt objektivieren" ist richiter. Also jetzt hab ich ersteinmal genug der Korinthen ausgeschieden.


Nun wieder zu deiner Bezeichnung als Sklave, die innerhalb deiner bisherigen Ausführungen sich nicht als angemessen erweist. Du anerkennst, dass der Wille sich als Welt objektiviert, oder "sie hervorbringt". Du anerkennst auch, dass dies in Stufen oder Schichten geschieht. Wenn du nun vom Menschen sagst, dass er allein durch die Vernunft bestimmt, d.i. definiert, sei, behauptest du, dass zwei verschiedene Willen dich als Menschen hervorbrachten. Der Geist, als (vorerst?) höchste Stufe in der Objektivation des Willens, bedurfte der vorherigen Stufen im objektiviert zu werden. Grenzt du nun den Geist von den niedrigeren Stufen ab und betrachtest du mittelst deines Geistes die niedrigeren Stufen, durch die der Mensch auch objektiviert ist, als vom Menschen getrennt; so schließt du den Geist als von demselben Willen objektiviert aus.
Davon abgesehen, dass ich nicht an die Willensmetaphysik glaube, wäre es selbst auf Grundlage der Annahme jenes Willens richtiger, den Menschen nicht allein durch den Geist zu bestimmen, sondern alles, was du vom Menschen getrennt siehst, sein gesamtes Herkommen, seine Fleisch, seine Triebe - all dies mit in die Bestimmung des Menschen einfließen zu lassen. Das ist natürlich nicht der Schluss, wie Schopenhauer ihn zieht.

Ich möchte dich noch auf etwas anders hinweisen: "Eine Welt, die einen zur Selbsterkenntnis fähigen Organismus hervorbringt, kann nicht sinnlos sein." Das ist ein teleologische Bestimmung der Welt, an die ich auch nicht glaube, tut mir leid. Was die Evolutionstheorie uns vor allem lehrt, ist doch jenes: dass alles, was bisher entstand, ein mehr oder weniger glücklicher Zufall war. Willst du davon nicht ausgehen, müsstest du die Laplace'sche Evolutionstheorie verfechten - oder eben doch von einer "ersten Ursache" sprechen; ich wäre beeindruckt, würdest du es versuchen und mich vielleicht sogar zu überzeugen; aber Zwecke in der Natur annehmen, wie als ob das Auge zum sehen, die Hand zum Greifen geschaffen sei - dass derlei wahr sei, davon wurde ich bisher noch nicht überzeugt. Aber wie schon gesagt, wenn du mir Zwecke in der Natur nachweisen kannst, werde ich wohl gezwungen sein, es dir zu glauben (das ist das "böse" an aller Logik: sie zwingt zum Glauben.)

Hier steht nun Meinung gegen Meinung, das geb' ich zu: du nimmst Zwecke in der nicht-menschlichen Welt an, ich tue das nicht. (Das liegt wohl auch an unseren verschiedenen Erkenntnistheorien.)

Wichtig ist jener Punkt aber deswegen, weil ein Mensch sich erst dann als Sklave von irgendetwas betrachten kann, wenn er sich von jenem etwas getrennt sieht. Meine These hierzu ist nun, dass der Mensch nicht getrennt von Trieben, Herkommen und seinem Leib ist.

Eigentlich ist es auch ziemlich egal, ob etwas der totale Nihilismus sei, oder nicht. Das ist es nur nicht für einen, der Nihilismus schlecht findet. Es steht einem allerdings "frei", Nihilismus gut oder schlecht zu finden. Aus Angst vor Nihilismus sich Irrtümern anheim geben wollen... ja, das klingt eher nach Nihilismus.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon ganimed » Di 16. Feb 2010, 22:08

Also ich gebe Disiidenkt ja in Sachen Unfreiheit ziemlich recht, mal abgesehen von der Formulierung hier und da, die ja offenbar teilweise auch bewusst provozieren will. Aber warum auch nicht.

Dissidenkt hat geschrieben:In meinen Augen ist die Einsicht in unsere Sklavenexistenz die wichtigste Erkenntnis seit Gottes Beerdigung

Ich sehe das auch als ein wichtiges Thema an. Was mich interessieren würde: wieso erscheint es dir wichtig? Wie ist die Wichtigkeit begründet? Was hat Lieschen Müller davon, wenn sie ihre Sklavenexistenz erkennt?

Dissidenkt hat geschrieben:Persönlich denke ich, dass daraus eine Verpflichtung resultiert. Die Verpflichtung, unsere persönlichen Grade an Freiheit so weit wie möglich zu erweitern.

Auch hier fehlt mir noch die Begründung. Wenn ich ein Sklave bin, soll ich mich befreien (soweit das möglich ist) ? Wieso das denn?

Dissidenkt hat geschrieben:Je größer unser Handlungsspielraum, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass unser Gehirn für uns die angemessenste Entscheidung trifft.

Aber genau diesen Handlungsspielraum sehe ich nicht, wenn ich die Unfreiheit erkenne. Was meinst du mit Handlungsspielraum? Nenn mal bitte ein konkretes Beispiel!

Dissidenkt hat geschrieben:Ein Leben in Harmonie mit uns selbst und unserer Umwelt ist aber auch die Grundlage für befriedigendes und dauerhaftes Glück und Erkenntnis ist der einzig wahre Sinn des Lebens,
oder?

Ich würde sagen: Glück ist der wahre Sinn des Lebens. Aber auf welche Weise das Glück zu erreichen und zu mehren ist, das bleibt die Frage, die vermutlich höchst individuell beantwortet werden müsste. Insofern sehe ich eigentlich gar keine Verknüpfung zur Unfreiheits-Erkenntnis. Glücklich sein kann man auch ohne, vielleicht sogar besser.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon AgentProvocateur » Di 16. Feb 2010, 23:46

Dissidenkt hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Ist Dir schon mal in den Sinn gekommen, dass alles nur eine Frage der persönlichen Perspektive sein könnte? So, wie man die Welt, die anderen und sich selber sieht?

Ja, das ist aber schon ein paar Jahrzehnte her, muss in der Schule gewesen sein, beim Käsekästchenspielen. Wirklich keine große Erkenntnis, aber gerade in dieser banalen Erkenntnis liegt doch auch schon ein Beweis, das Schopenhauer Recht hat.

Dass eine Erkenntnis banal ist bedeutet aber noch lange nicht, dass sie falsch sein muss. Glaubte man das, wäre man mE einem Fehlschluss unterlegen, das folgt nicht, ist ein non sequitur. Und Schopenhauer mag aus seiner Sicht heraus Recht haben, aber das bedeutet nun mal nicht, dass seine Weltsicht die einzig Richtige sein müsste. So einfach und gleichzeitig auch so schwer zu verstehen ist das. Wenn man an eine einzig richtige Wahrheit / Weltsicht / Interpretation glaubt.

Und abgesehen davon halte ich übrigens Schopenhauer für ein ziemliches Schlitzohr, der hat nicht das gesagt, was er eigentlich meinte. Finde ich großartig, ich habe bestimmt nichts gegen Schopi, der hat das schon richtig gemacht.

Dissidenkt hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Und ganz, ganz furchtbar problematisch wird es dann, wenn jemand der einen Sichtweise anhängt, aber die Anderen aus Gründen, die ihm nutzen, zu der anderen manipulieren will. (-> z.B. Gregor Gysi: "Für den Pöbel brauchen wir Religion, damit der in Zaum gehalten wird.")

Dir ist schon klar, dass Gysi das - wenn überhaupt - nur als Advocatus Diaboli gesagt haben könnte?

Nö, hat er, glaube ich, keineswegs. Einen Link erspare ich mir, kannst Du selber nach googeln, "gregor gysi religion", das müsste reichen.

Ein Beispiel dafür, wie jemand, der einer Herrenmoral anhängt, für die anderen eine Sklavenmoral proklamiert. Weil er das für sich selber als ziemlich nützlich ansieht. Sich selber als so unendlich viel cleverer ansieht als die anderen. Da fehlt mir an der Stelle doch ein bisschen die Sympathie, die ich für Schopenhauer empfinde. Da überschätzt er sich maßlos und unterschätzt die anderen, der gute GG.

Dissidenkt hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Und irgendwie habe ich oft den Verdacht, dass jemand, der Sklavenmoral predigt, der selber gar nicht anhängt.

Ich weiss nicht, was das Thema mit Sklavenmoral zu tun haben soll.
Die Einsicht Sklave zu sein, ist der erste Schritt in Richtung Freiheit. Moralische Fragen sind damit noch gar nicht tendiert.

Krieg ist Frieden, Sklaverei ist Freiheit, Unwissenheit ist Stärke.

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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Mi 17. Feb 2010, 00:10

Agent, lass dich doch mal drauf ein - mit jemanden Höhlen zu erforschen ist doch eine spannende Angelegenheit; in dem Moment musst du deinem Expeditionsführer eben das nötige Vertrauen zubilligen; oder noch besser, du denkst gar nicht an Vertrauen oder Mißtrauen und folgst ihm einfach mal.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon AgentProvocateur » Mi 17. Feb 2010, 00:19

Jarl Gullkrølla hat geschrieben:Agent, lass dich doch mal drauf ein - mit jemanden Höhlen zu erforschen ist doch eine spannende Angelegenheit; in dem Moment musst du deinem Expeditionsführer eben das nötige Vertrauen zubilligen; oder noch besser, du denkst gar nicht an Vertrauen oder Mißtrauen und folgst ihm einfach mal.

Wenn ich überall spannende Stalagtiten und Stalagmiten sehe und interessante Tausendfüßler und er nur hässliche Spinnweben, Schmutzflecken und eklige Tausendfüßler, wie können wir dann zueinander finden?
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Mi 17. Feb 2010, 00:30

Als müssten wir zueinander finden!
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon AgentProvocateur » Mi 17. Feb 2010, 00:37

Jarl Gullkrølla hat geschrieben:Als müssten wir zueinander finden!

Hm. Also gut, nehme ich Deine Nomenklatur: ich soll mich auf ihn 'einlassen', ich soll ihm 'folgen.

Aber wieso? Ich seh's nun mal anders als er. Und ich habe keine Lust, seine Sichtweise einzunehmen. Wieso sollte ich auch?

Er sieht es so und ich anders. Das ist alles. Mehr gibt es nicht zu sagen. Optimist und Pessimist. Die werden niemals zueinander finden und sich wohl auch nie verstehen können. Solange er nicht verlangt, ich solle seine Sichtweise einnehmen, ist auch alles völlig in Ordnung. Ich behaupte ja keineswegs, dass die meinige die einzig richtige sei. Ich verlange lediglich, dass ich das so sehen darf, wie ich es sehe und behaupte, der Pessimist hat keinen rationalen Grund dafür, dass ich seine Sichtweise übernehmen sollte. Denn den hat er nun mal nicht und das ist blanker Fakt.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Mi 17. Feb 2010, 01:39

So ein Gelaber zwischen uns beiden... kann man die Löschung jener letzten PN-artigen Beiträge beantragen? Wäre angebracht, zwecks Textmülls...
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Dissidenkt » Mi 17. Feb 2010, 14:22

ganimed hat geschrieben:Also ich gebe Disiidenkt ja in Sachen Unfreiheit ziemlich recht, mal abgesehen von der Formulierung hier und da, die ja offenbar teilweise auch bewusst provozieren will. Aber warum auch nicht.


Gibt es eine größere Provokation/Kränkung für den Menschen, als ihm zu sagen, er sei ein Reiz-Reaktionssystem mit nachgeschaltetem Rechtfertigungsmodul? Ich glaube nicht! Vor diesem Hintergrund sind meine radikal-provokanten Formulierungen einerseits Stilmittel, andererseits Ausdruck einer entspannt-repektlosen Selbstbespiegelung ;)

ganimed hat geschrieben:Ich sehe das auch als ein wichtiges Thema an. Was mich interessieren würde: wieso erscheint es dir wichtig? Wie ist die Wichtigkeit begründet? Was hat Lieschen Müller davon, wenn sie ihre Sklavenexistenz erkennt?


Die Bedeutung liegt in unserer Aufgabe - und der einmaligen Chance - aktiv Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu ziehen. Zum einen persönlich, zum anderen gesellschaftlich. Nach dem verdauten Schock kommt nämlich die Erkenntnis, dass wir die Dinge, die uns immer wieder in dieselben unheilvollen Verstrickungen treiben, mit der Distanz eines "Meta-Ichs" betrachten können. (analog zur Buddhistische Sichtweise, die ja auch Schopenhauer als Ideal angesehen hat)
Gesellschaftlich besteht die Chance und Aufgabe in einem radikalen Umbau, der nicht mehr auf Irrglauben begründete Moral und Ethik als Fundament hat, sondern das knallharte Prinzip von Ursache und Wirkung zur Grundlage der sozialen Ordnung und gesellschaftlichen Ausrichtung macht. Eine harte deterministische Weltsicht begründet nämlich mitnichten eine willkürliche "Allesgeht"-Mentalität (nach dem Motto: es gibt ja sowieso keinen Gott, der mich zur Rechenschaft zieht) sondern zwingt uns geradezu in den kategorischen Imperativ, da die möglichen Folgen unseres Handelns der einzig valide Maßstab sind.

Beispiel:
Der Gläubige stiehlt nicht, weil er Angst vor der Hölle hat und an angeblich göttliche Gebote glaubt, die ihm das Stehlen untersagen. Beides irrationale Argumente, denen er sich durch Abwendung vom Glauben entziehen kann. Obendrein sind sie übergestülpt und entstammen nicht der eigenen Erkenntnis.
Ist er einmal wirklich in Not und stiehlt um sein Leben zu sichern, wird er von Gewissenszweifeln zerfressen oder versinkt in Scham, obwohl sein Handeln dem eigenen Überleben diente und somit vollkommen gerechtfertigt war.

Ganz anders der Determinist. Er stiehlt nicht, weil er weiss, dass eine Gesellschaft in der Diebstahl toleriert würde nicht funktionieren kann, handelt also primär nach einer Art mildem kategorischem Imperativ - aus eigener vernünftiger Einsicht!
Es wäre aus seiner Sicht auch kein moralisches Dilemma in der Not zu stehlen, weil er ein klares rationales Wertesystem hat, in dem das Leben selbstverständlich über materiellen Gütern steht.

ganimed hat geschrieben:Wenn ich ein Sklave bin, soll ich mich befreien (soweit das möglich ist) ? Wieso das denn?


Gute Frage! Gar nicht leicht zu beantworten. Es kann ja durchaus bequem sein, vor der eigenen Sklavenexistenz die Augen zu verschliessen. Die meisten Menschen bekommen im Leben schliesslich nicht einmal die Chance, ihre Versklavung zu erkennen und man kann ihnen daraus auch keinen Vorwurf machen, auch wenn es laut Kant eine Pflicht zur Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gibt.

Dazu eine kleine Metapher:
Denken wir uns einen kleinen Jungen, der in einer bescheidenen Hütte von liebevollen Eltern gezeugt, geboren und großgezogen wird. Sie bringen ihm alles bei, was sie wissen, arbeiten hart und schicken ihn auf eine Schule, wo er lernt den Acker richtig zu bestellen und Vieh zu züchten. Er heiratet seinerseits, zeugt eigene Kinder und arbeitet hart, damit es auch ihnen gut geht.
An seinem 80. Geburtstag kommt ein Mann klopft ihm auf die Schulter und sagt:
Danke Tom, du bist ein guter Nigger, hast meine Felder gut bestellt und ich hab gut an dir verdient.
(Nigger steht selbstverständlich nicht für eine Hautfarbe, sondern für eine soziale Position, komme mir keiner auf den dummen Gedanken, die Metapher rassistisch zu interpretieren)

Frage:
Wie kann Tom wissen, was ein "Nigger" ist? Er hört das Wort zum ersten Mal.
War Toms 80 Jahre langesLeben jetzt schlechter,nur weil jemand anderes ihm plötzlich erklärt, dass er durch seine Arbeit reich geworden ist?
Wäre er glücklicher gestorben, wenn er mit 79 einen Herzinfarkt gehabt hätte?

Drei schwer zu beantwortende Fragen, aber wenn ihm jemand an seinem 18 Geburtstag gesagt hätte, dass er ein Nigger ist und andere durch seine Arbeit reich werden, was hätte er dann wohl gemacht?

Was ich mit der Metapher sagen will:
Nach der Einsicht in die Versklavung durch das harte Prinzip von Ursache und Wirkung habe ich gar keine andere Wahl, als dagegen aufzubegehren und Wege zu meiner Befreiung zu suchen. Wer freiwillig Sklave bleibt, muss sich Nigger nennen lassen. Und das ist keine rassistische Frage, sondern eine philosophische.

ganimed hat geschrieben:Aber genau diesen Handlungsspielraum sehe ich nicht, wenn ich die Unfreiheit erkenne. Was meinst du mit Handlungsspielraum? Nenn mal bitte ein konkretes Beispiel!


Gerne!
Ich treffe dich zB auf der Straße, komme auf dich zu und bluffe dich an: Was guckst du Opfer?!

Du hast jetzt deinen aktuellen persönlichen Handlungsspielraum, um auf meine Provokation zu reagieren.

Wenn dein Handlungsspielraum sehr klein ist, weisst du nicht was du tun sollst und bekommst Angst. Du kannst bestenfalls flüchten - wenn dir deine Beine noch gehorchen (kleiner Exkurs zum freier Wille und Kontrolle über den eigenen Körper).

Wenn dein Handlungsspielraum etwas größer ist, weil du Kampfsport gelernt oder ein paar größere Brüder hast, schlägt du zu und es ist Ruhe.

Wenn du aber einen sehr großen Handlungspielraum hast, weil du eloquent und empathisch bist, bist du gelassen, kannst die Situation durch Wortwitz oder geschickte rethorische Manipulation entschärfen. Ist dein Gegenüber besoffen oder partout auf Schläge fixiert, kannst du ihn immer noch vermöbeln - wenns wirklich nicht anders geht. Wie auch immer du handelst, es wird weitere Auswirkungen auf dich, auf dein Gegenüber und auf die Gesellschaft haben.

Alle 3 Handlungsspielräume stehen für unterschiedliche Stufen menschlich-zivilisatorischer Entwicklung. Wir müssen uns dabei von der Einbildung lösen, unser Ich würde sich bewusst entscheiden. Aber wir können unserem Ich bewusst eine große Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten zur Auswahl stellen, indem wir uns durch körperliche und geistige Schulung darauf vorbereiten. Die Erkenntnis versklavt zu sein, mündet also in eine Verpflichtung sich selbst weitestgehend zu befreien - durch maximale Ausweitung der persönlichen Handlungsmöglichkeiten.

ganimed hat geschrieben:Ich würde sagen: Glück ist der wahre Sinn des Lebens. Aber auf welche Weise das Glück zu erreichen und zu mehren ist, das bleibt die Frage, die vermutlich höchst individuell beantwortet werden müsste. Insofern sehe ich eigentlich gar keine Verknüpfung zur Unfreiheits-Erkenntnis. Glücklich sein kann man auch ohne, vielleicht sogar besser.


Glück ist individuell und obendrein sehr flüchtig. Die trockene Scheibe Brot, die wir heute achtlos wegwerfen, würde anderswo einen hungernden Menschen glücklich machen. Das, was wir gemeinhin als Glück betrachten hat obendrein viel mit unserer Umwelt zu tun. Über tausend geschenkte Euro freuen wir uns solange, bis wir hören, alle anderen haben zwei tausend bekommen.

Glücksempfinden ist im Grunde ein einfaches Belohnungsystem, das das Individuum in der Evolution vorantreiben soll und damit ein immanenter Bestandteil unserer Sklaverei. Deshalb sind wir glücklich, wenn wir gesund sind, die Zukunft materiell gesichert ist und vor allem der Sex nicht zu kurz kommt.

Dauerhaftes Glück in Form von innerer Gelassenheit sehe ich nur im Erreichen eines Meta-Ichs, einer distanzierten Position in der Beobachtung meines Selbst. Darüberhinaus finde ich, dass Glück überbewertet ist und auch das gepflegte Unglücklichsein eine schöne Erfahrung sein kann. Das ist aber auch eine sehr persönliche Sichtweise, die nicht zuletzt daraus resultiert, dass ich im Leben sehr viel Glück hatte.
Vielleicht kann ich dazu mehr sagen, wenn ich das gleichnamige Buch von Matthieu Ricard endlich gelesen habe :)
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Dissidenkt » Mi 17. Feb 2010, 14:50

Dissidenkt hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Und ganz, ganz furchtbar problematisch wird es dann, wenn jemand der einen Sichtweise anhängt, aber die Anderen aus Gründen, die ihm nutzen, zu der anderen manipulieren will. (-> z.B. Gregor Gysi: "Für den Pöbel brauchen wir Religion, damit der in Zaum gehalten wird.")

Dir ist schon klar, dass Gysi das - wenn überhaupt - nur als Advocatus Diaboli gesagt haben könnte?

AgentProvocateur hat geschrieben:Nö, hat er, glaube ich, keineswegs. Einen Link erspare ich mir, kannst Du selber nach googeln, "gregor gysi religion", das müsste reichen.

Du verbreitest also nicht nur Unsinn, sondern bist obendrein zu faul dich selbst weiter zu bilden? :erschreckt:
Wenn du mir nicht glaubst , hör dir wenigstens an, was Gysi tatsächlich zur Religion sagt:
> http://www.youtube.com/watch?v=WqmoIC0Ql2U
> http://www.youtube.com/watch?v=6A9m4CtFVug
Da das Ganze aber mit dem Thema Freiheit nur wenig zu tun hat, betrachte ich diesen Exkurs mal als beendet.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon AgentProvocateur » Mi 17. Feb 2010, 15:38

Kompass - Soldat in Welt und Kirche - Der katholische Militärbischof für die deutsche Bundeswehr, Berlin, Ausgabe 11/09 hat geschrieben:Gregor Gysi: [...] Ohne die Religionen, ohne den Glauben, ohne die Kirchen gäbe es keine Grundlage für allgemein verbindliche Moralnormen gegenwärtig in unserer Gesellschaft. Das hätte zerstörerische Konsequenzen. Obwohl ich nicht religiös bin, fürchte ich also eine gottlose Gesellschaft nicht weniger als jene, die religiös gebunden sind.
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Re: Freiheit - ein Hirngespinst

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Mi 17. Feb 2010, 17:52

Ganz anders der Determinist. Er stiehlt nicht, weil er weiss, dass eine Gesellschaft in der Diebstahl toleriert würde nicht funktionieren kann, handelt also primär nach einer Art mildem kategorischem Imperativ - aus eigener vernünftiger Einsicht!
Es wäre aus seiner Sicht auch kein moralisches Dilemma in der Not zu stehlen, weil er ein klares rationales Wertesystem hat, in dem das Leben selbstverständlich über materiellen Gütern steht.


Ich möchte dich erneut auf deine Prämissen hinweisen: um sagen zu können, dass eine Gesellschaft "funktioniert" muss ihr zuvor ein Zweck beigemessen sein. Aber, welchen Zweck misst du denn der Gesellschaft bei? Und ist das, was du "aus vernünftiger Einsicht handeln" nennst, diesem Zweck, den du ansetztest, auch wirklich förderlich?
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