von Nanna » Di 18. Jan 2011, 17:02
Wenn du über evolutionäre Abläufe reden willst, musst du teleologische Begriffe wie "Fortschritt" aus deiner Analyse herausnehmen. Unser demokratisches System ist in evolutionären Kategorien etwa so veraltet wie eine Heuschrecke im Bereich der Biologie "veraltet" ist - aufgrund des Fehlens einer objektiven Skala nämlich gar nicht.
Ich würde daher nicht von Fortschritten sprechen, sondern von Innovationen. Es gibt Neuerungen, aber ob diese einen Fortschritt darstellen, ist stark vom Kontext abhängig. Das deutsche System 1:1 auf China zu adaptieren würde dort höchstwahrscheinlich in einem reinen Chaos münden, weil es zur dortigen zeitgenössischen Sozialstruktur und Kultur schwer kompatibel ist.
Es wird selbstverständlich über die "richtige Herrschaft" geforscht, auch und gerade im Bereich der Demokratietheorie. Im Grunde dreht sich der Hauptteil der ganzen Politikwissenschaft um die Frage nach dem optimalen Staatssystem. Allerdings ist man schon vor Jahren davon abgewichen, das eine ideale System zu suchen, weil man erkennen musste, dass verschiedene Situationen zu unterschiedlichen historischen und geographischen Punkten auch unterschiedliche Lösungen verlangen. Ein gewaltengeteiltes repräsentatives System wäre für Nomadenvölker ähnlich unbrauchbar wie deren Clanstrukturen für die moderne westliche Zivilisation. Wenn du also nach veralteten Bestandteilen fragst, dann ist das ein bisschen so, als würdest du einen Bauern in Norwegen fragen, warum er für seinen Traktor keine Formel-1-Rennreifen einsetzt, obwohl die technologisch der letzte ("fortschrittlichste") Schrei sind. "Optimale Systeme" gibt es in evolutionären, dynamischen Kontexten immer nur als beste Lösung eines temporären Optimierungsproblems, nicht als zeitlich und örtlich universelle Bestlösung aller denkbaren Szenarien.
Auch die Verfassung und die gegenwärtige Auslegung der Verfassung (da steckt viel Spielraum drin!) sind Anpassungen an konkrete historische Erfahrungen. Du nennst beispielsweise die Schwächen der Weimarer Verfassung. Nun muss man sich aber klar darüber sein, dass andere demokratische Systeme in ihrer Verfassung noch stärkere Defekte aufweisen und trotzdem keine Diktaturen entwickelt haben, Großbritannien, das nichteinmal eine kodifizierte Verfassung hat, ist da das Paradebeispiel. Hier zu sagen, die Sicherungsmechanismen der BRD seien grundsätzlich ein Fortschritt, ist nicht immer korrekt. Die starke Zentralismushemmung führt in Deutschland beispielsweise in erheblichem Maße zur Führung und Finanzierung von Mehrfachstrukturen durch den Steuerzahler, was die Legitimation eines politischen Systems beim Bürger ebenfalls untergraben kann. Letztlich muss man bei der Auswahl eines politischen Systems für ein bestimmtes Land immer ganz klar definieren, welche Ziele man als Verfassungsgeber erreichen will. Zu glauben, demokratische Systeme entwickelten sich auf ein ideales Gesamtkonzept hin, rangiert schon nah am naturalistischen Fehlschluss, weil die Bezeichnung "ideal/optimal" in diesem Zusammenhang eine ganz klar wertende Funktion hat und damit abhängig von den jeweiligen ethischen Prämissen ist, denen man folgt.
Grundsätzlich gibt es als Grundtypen demoraktischer Systeme präsidentielle (USA), semi-präsidentielle (Frankreich) und parlamentarische (z.B. Deutschland, viele andere Länder) Systeme, ferner unterscheidet man funktionierende (z.B. Nordamerika, Westeuropa) von defekten Demokratien (z.B. Thailand) und diese wiederum von Scheindemokratien (z.B. Ägypten), wobei die Übergänge fließend sind. Mit dem Übergang autoritärer und totalitärer Systeme zu liberalen Demokratien beschäftigt sich übrigens die Transitionsforschung, mit der Frage nach der idealen Politie, also dem idealen Herrschaftssystem, eher die Politische Philosophie.
Was du zu staatlichen Medien sagst, halte ich nur zum Teil für zutreffend und auch nicht für derart grundlegend relevant für die Bestimmung des Grundrahmens eines politischen Systems. Die Standarddefinition eines Staates (es existieren im Mindesten: Territorium, Staatsvolk, Staatsapparat) enthält nicht notwendigerweise ein Staatsmedium und blickt man beispielsweise in die USA erkennt man auch ein prominentes Gegenbeispiel. Die Verzahnung von öffentlich-rechtlichem Rundfunk und dem Parlament ist übrigens von den Grundgesetzvätern bewusst gewollt gewesen, um die Inhalte demokratisch überwachen zu können und einer Gleichschaltung nach nationalsozialistischem Vorbild zuvorzukommen.