Die Konsenstheorie der Wahrheit
Verfasst: Mi 21. Nov 2012, 10:13
ujmp hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben: Ganz einfach weil Menschen eine bestimmte Entwicklungshöhe brauchen, damit Argumente bei ihnen eine Wirkung entfalten.
Das ist auch mein Problem mit damit. Und wenn ich mich selbst beobachte, bin ich über Jahrzehnte hinweg mal für solche und mal für solche Argumente zugänglich gewesen - ich würde da lieber von "Standpunkt" als von "Entwicklungshöhe" sprechen, wobei man auch zu Standpunkten zurückkehren kann.
Das sehe ich anders und zwar, weil es einen darstellbaren Zusammenhang zwischen Entwicklungshöhe und Einstellungen gibt. Dabei kommt es weniger auf die Einstellung selbst an, als viel mehr auf die Begründung derselben.
Das war das Werk des Moralpsychologen Kohlberg, der im Austausch mit Habermas stand.
Bei vielen Fragen ist es so, dass unterschiedliche moralische Entwicklungshöhen zu identischen Ergebnissen führen können. „Sind sie für oder gegen Abtreibung?“ Das ist nicht entscheidend, sondern die Begründung.
„Schwangerschaften sind lästig, wenn man’s wegmachen kann, warum nicht?“, könnte eine präkonventionelle Frau sagen.
„Auf gar keinen Fall darf man abtreiben. Kinder sind ein Geschenk, das kann man gar nicht genug würdigen“, könnte die Meinung einer konventionellen Frau sein.
„Das muss man von Fall zu Fall entscheiden, je nach der Lebenssituation, aber generell sollte es einer Frau erlaubt sein auch abzutreiben, schließlich wächst das Kind in ihrem Körper heran und wenn gravierende Gründe, die vor allem die Frau betreffen, dagegen sprechen, ist eine Abtreibung vertretbar“, könnte eine postkonventionelle Einstellung dazu sein.
Die prä- und postkonventionelle Position nun auf „soundsoviel Prozent der Frauen sind für Abtreibung“ zu verkürzen, ist so richtig wie falsch. Richtig, denn sie sind es (im Prinzip) ja, aber falsch, weil eben in meinen Augen nicht nur das Ergebnis zählt, sondern auch die Begründung, die Einstellung dahinter.
Alle die die sagen, das sei doch wurscht, wichtig sei allein, was am Ende rauskommt, sollten sich vor Augen halten, dass es einen Unterschied macht, ob z.B. ein konventioneller Mensch sich stromlinienförmig der herrschenden Mode anpasst und dann ein lieber Mitmensch ist, wenn es von ihm erwartet wird, aber eben zur Not auch jemanden steinigen würde, wenn der gesellschaftliche Wind sich dreht.
Da ist mir jemand, der seinen eigenen guten Gründen folgt (aber nicht seinem Egozentrismus!), bedeutend lieber, denn ist dieses Fundament einmal errichtet ist es nicht ohne weiteres zu zerstören.
ujmp hat geschrieben:Mein Hauptkritikpunkt an der Konsensus-Theorie ist außerdem, dass sie Wahrheit mit Meinung gleichsetzt.
Das stimmt nicht. Sie setzt Wahrheit allenfalls mit begründeter Meinung gleich und der Grund muss einer sein, der die andere Position auch aufnimmt und kritisch reflektiert und in die eigene Position integriert, was anspruchsvoll ist. Für Triaden, Parolen und Egozentrismus ist da kein Raum.
Viele verwechseln aber heute Argumente haben, mit einen link von Wikipedia als Beleg reinhauen oder das Zitat einer Autorität und damit ist die Diskussion dann zu Ende. Das kann allenfalls als Stütze eigener Argumente dienen, aber man sollte das nicht verwechseln.
Es wird immer so getan, als sei Konsens eine Abstimmung darüber, wie hoch der Mount Everest ist, wo doch auf der anderen Seite die klare Wahrheit der Messgeräte zu stehen scheint. Und wenn die meisten glauben der M.Everest sei 5000 Meter hoch, dann ist er eben nur 5000 Meter hoch und das ist dann Konsenstheorie. Alles Quatsch. Es geht um die begründeten Argumente der Experten des Themas.
Das eigentliche Problem ist, wer ist zum Experten qualifiziert und wer nicht und aus welchem Grund.
Ein Folgeproblem ist die Immunisierung gegen Kritik, wenn ein Kreis von Experten immer konservativer wird und sich gegen neue Ideen abschottet, weil neue Impulse als Spinnerei gar nicht erst gehört wird.
Insofern ist es gut auch Regulative zu haben, wie gut informierte Laien, Presse, Gutachter und dergleichen.
ujmp hat geschrieben:Die Nazi-Ideologie hat sich meiner Meinung nach nicht durchgesetzt, weil sie mit unlauteren Mitteln vorgetragen wurde, sondern weil sie den Menschen passend erschien, sie hat ihnen schlicht gefallen.
Ich glaube, das reduziert einen komplexen Sachverhalt viel zu sehr, das geht schon fast in Goldhagen Richtung. Der indische Anthropologe Arjun Appadurai, der vielleicht eine größere Distanz zum Thema hat, als unmittelbar Beteiligte und ihre Nachkommen schreibt dazu:
, dass es alles andere als leicht und selbstverständlich war, die Deutschen zu Antisemiten umzuprogrammieren. [i]„Vielmehr bedurfte es einer ungeheuren Kraftanstrengung, um aus den vielen deutschen Nationalisten Werkzeuge der „Endlösung“ zu machen.“Arjun Appadurai hat geschrieben: „Selbst Daniel Goldhagen, der im übrigen eine erstaunlich rassistisch gefärbtes Bild der Identität „normaler Deutscher“ entwirft (1996), gibt zu....“
Mediales Dauerfeuer und [i „unermüdliche Zirkulation einer rassistischen Propaganda“ waren dazu nötig.
(vgl. Appadurai, Die Geographie des Zorns, Suhrkamp 2009, S.70f)[/quote]
ujmp hat geschrieben:So weit ich weiß, ist es kaum möglich, die Meinung der Menschen zu bestimmten Themen mit Argumenten zu verändern. In Wahlkämpfen wird das gar nicht erst versucht. Stattdessen versucht man lieber die Wählerentscheidung mit Themen ("Agenda-Setting") zu beeinflussen, bei denen man weiß, wie die Wähler ticken.
Es kommt eben auf verschiedene Faktoren an. Ganz sicher ist der Mensch kein Computer, der einfach nur Fakten verarbeitet, sondern Entscheidungsprozesse sind wesentlich auch emotionaler Natur.
Doch man kann der reinen Emotionalität schrittweise entwachsen, wenn man lernt, innerlich einen Schritt weit zurück zu gehen, Empathie mit den Argumenten des Gegenüber zu erlernen, eben das was einen Konsens ausmacht. Wer gleich zu Stacheln aufstellt, kommt in einen Diskurs erst gar nicht hinein. Da eine nicht geringe Anzahl an Mitdiskutanten auch hier im Forum meint – das im Bezug auf Bildung und Intelligenz statistisch vermutlich nicht unterm Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegt – es sei auch gar nicht nötig, die Argumente des anderen mal für die Dauer des Diskurses zu seinen eigenen zu machen und versuchsweise zu schauen, wie so betrachtet die Welt aussieht, sondern eine Frontstellung von Beginn an, sei viel besser, darf man schließen, dass es gesamt gesehen, vermutlich nicht besser aussieht.
Als Faustformel kann in etwas gelten: Je größer der gefühlte und tatsächliche Druck, desto simpler, emotionaler, eindeutiger, schwarz/weiß-gefärbter, unbewusst aggressiver, fundamentalistischer und damit diskursferner werden die Antworten.
Wer innerlich unter Hochspannung steht, warum auch immer, hat keinen Raum für die Argumente anderer und da kann man dann sagen – wenn man diese Umstände aufarbeitet und berücksichtigt – dass moralisch undifferenzierte und aggressive Antworten, meistens mit einpoligen und eindeutigen Schuldzuweisungen besser gefallen.
Darum, weil die Zeiten eben härter werden, wie man sagen könnte und wie die meisten wohl prognostizieren, wird das Plateau, aus dem heraus immer mehr Mitglieder unserer Gesellschaft den Sprung auf die Konsensebene schaffen, immer schmaler.
Das ist eine Frage der Intelligenz (die sinkt), der wirtschaftlichen Lage (die wird für die Mehrheit kritischer), der Psychopathologie (nimmt zu) und der Werteorientierung (nimmt ab).
Was in die Lücke stößt, ist gut gemachte Propaganda, die emotionalisiert und das gesellschaftliche Gravitationszentrum entwicklungshierarchisch betrachtet immer mehr nach unter verlagert.