Abtreibung

Beitragvon Klaus » Mo 29. Jan 2007, 07:48

Eine unbefruchtete Eizelle hätte kein "unmittelbares Potential", eine befruchtete aber sehr wohl.


Sollte der Abbruch in der ersten Woche vorgenommen werden, also bevor sich die Blastozyste in der Schleimhaut der Gebärmutter einnistet, spricht auch das deutsche Strafrecht nicht von einem Schwangerschaftsabbruch. Blastula/Morula Stadium des "Keimlings" wird also schlechthin noch nicht als Leben anerkannt. In dem Sinne ist es also ein Vielzeller, nicht mehr und nicht weniger, der abgetrieben wird.

Es gibt historische Belege dafür, das man die "wissenden Frauen" auch "weisse Hexen" genannt unter anderem deshalb tötete, weil sie um die Details des Schwangerschaftsabbruchs wussten, das war nicht im Sinne der Landesherren und der Kirche, die viele Untertanen brauchten. Also moralisch und ethisch ist hier vieles in der Vergangenheit gewachsen, das religiöse beeinflusst war und ist.
Benutzeravatar
Klaus
 
Beiträge: 4704
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:43
Wohnort: get off the Net, I´ll meet you in the Streets

Beitragvon Andreas Müller » Mo 29. Jan 2007, 11:41

der wenn es das unmittelbare Potential hat, sich zu einem leidensfähigen oder bewussten Wesen zu entwickeln. Eine unbefruchtete Eizelle hätte kein "unmittelbares Potential", eine befruchtete aber sehr wohl.


Völlig wurscht, ob das Potenzial unmittelbar, mittelbar oder nicht gegeben ist. Der Fötus nimmt die Welt nicht bewusst wahr und ist nicht leidensfähig, also ist Abreibung möglich.
Andreas Müller
 
Beiträge: 2671
Registriert: So 10. Sep 2006, 23:17

Beitragvon Tapuak » Mo 29. Jan 2007, 12:36

musikdusche hat geschrieben:Ich finde es ziemlich schwierig, eine Position zu verteidigen, die ich selbst nicht habe. Aber das ist eine interessante Übung ;D

Ja, so geht es wahrscheinlich den Leuten, die irgendwelchen Schrott im "Teleshop" verkaufen müssen, jeden Tag. ;)

musikdusche hat geschrieben:Hmm.. ich kann dieser Argumentation nur halb zustimmen. Selbstverständlich hat menschliches Leben doch eine andere Qualität als ein lebender Baum. In diesem Sinne ist das menschliche Leben doch schützenswerter. Es hat also durch bestimmte Eigenschaften (die sich von denen eines Baumes abheben) eine Lebenswertigkeit.

Ja, dem stimme ich grundsätzlich zu. Nur hat ein Fötus eben nicht die Eigenschaften, die wir gewöhnlich als Kriterien dafür verwenden, wie wir jemanden oder etwas behandeln (also Leidfähigkeit, oder was auch immer man sich da ausdenken könnte). Es ist aber wichtig zu beachten, dass ein Mensch diese Wertigkeit eben nicht intrinsisch "in sich trägt", sondern nur dadurch erhält, dass andere ihm diese Wertigkeit zusprechen. Das heißt, dass das alleinige Vorliegen dieser Eigenschaften noch kein "wertvolles Lebewesen" konstituiert. Es sind stattdessen immer andere Subjekte notwendig, die diese Eigenschaften als wertvoll beurteilen.

Der von dir verwendete Begriff "moralischer Wert" ist insofern problematisch, als dass Moral bei mir die Assoziation mit nicht hinterfragbaren Dogmen weckt.

Sprachproblem. Nenn es "Ethik" oder wie du willst.

Fraglich ist allerdings wirklich, ob ein "biologischer Vorgang" (hier das heranwachsen eines Säuglings) nur deswegen an Wertigkeit gewinnt, weil die Natur für diesen biolgischen Vorgang unglaublich viel investiert.

Definitiv nein. Die Natur ist kein bewusst handelnder Akteur, der sich überlegt: "Dieser Organismus ist wertvoll, deshalb investiere ich viel in ihn hinein". Diese Prozesse geschehen einfach, völlig wertfrei. Wie gesagt, biologische Vorgänge an sich haben keinen Wert - die Werte sprechen erst wir bestimmten Vorgängen oder Eigenschaften zu.

Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass es nur dann sinnvoll ist, gegen die eigene Biologie/Instinkt zu handeln, wenn man dadurch ein anderes Subjekt beeinträchtigt. Da durch eine Schwangerschaft kein fremdes Subjekt beeinträchtigt wird, sollte die werdende Mutter nicht gegen den Mutterinstinkt/ihre Biologie handeln.

Ich sehe nicht, weswegen die Instinktkonformität überhaupt irgendein Qualitätsmerkmal für eine Handlung sein soll, egal ob andere davon betroffen sind oder nicht.

Wenn man aber durch diese "Wohlüberlegung" und bestimmte Gewichtungen von Argumenten zu dem Schluss kommt, dass die negativen Folgen praktisch nie eine Abtreibung lohnenswert erscheinen lassen, dann hat man auf naturalistische Art und Weise eine Anti-Abtreibungseinstellung eingenommen.

Hast Recht, das könnte man auch rein naturalistisch so sehen. Aber trotzdem gibt es nach meiner Meinung noch einen bedeutsamen Unterschied zwischen dieser naturalistischen Anti-Abtreibungseinstellung (A) und z.B. der dogmatisch-religiösen Ablehnung der Abtreibung (B). In Variante A wird ja zugestanden, dass letztlich die betroffene Person - die Mutter - darüber befinden muss, ob die Abtreibung durchgeführt wird oder nicht. Man würde ihr nur aufgrund der erwarteten negativen Konsequenzen davon abraten. Die Abtreibung "an sich" wird aber nicht als moralisch verwerflich angesehen. In Variante B wird eine Abtreibung dagegen ohne Ausnahme als moralisch verwerflich angesehen, weil der Abtreibungsvorgang an sich, das Töten des Fötus, als verwerflich angesehen wird.

In Variante A wären etwa Ausnahmen denkbar, in denen der naturalistische Abtreibungsgegner eine Abtreibung befürwortet - z.B. Schwangerschaften infolge von Vergewaltigungen, bei denen das Fortführen der Schwangerschaft noch viel größere psychische Probleme hervorrufen würde als eine Abtreibung. Variante A wäre also keine Basis dafür, z.B. ein generelles Abtreibungsverbot zu fordern, Variante B dagegen schon. Ich stimme dir also zu, dass man auch ohne Hokuspokus eine negative Einstellung zu Abtreibungen einnehmen kann. Sie auf dieser Grundlage dogmatisch abzulehnen dürfte dennoch schwierig sein.
Tapuak
 
Beiträge: 139
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:34
Wohnort: Bremen

Beitragvon musikdusche » Mo 29. Jan 2007, 13:52

Fraglich ist allerdings wirklich, ob ein "biologischer Vorgang" (hier das heranwachsen eines Säuglings) nur deswegen an Wertigkeit gewinnt, weil die Natur für diesen biolgischen Vorgang unglaublich viel investiert.

Definitiv nein. Die Natur ist kein bewusst handelnder Akteur, der sich überlegt: "Dieser Organismus ist wertvoll, deshalb investiere ich viel in ihn hinein". Diese Prozesse geschehen einfach, völlig wertfrei. Wie gesagt, biologische Vorgänge an sich haben keinen Wert - die Werte sprechen erst wir bestimmten Vorgängen oder Eigenschaften zu.

Und auf welcher Grundlage sprechen wir diese Werte zu? Diese Grundlage ist doch nicht willkürlich, sondern liegt in unserer Biologie begründet. Es ist zu einem Wert in unserer Gesellschaft geworden, sich nicht gegenseitig umzubringen, weil es in den meisten Fällen gegen unsere Natur ist, so zu handeln.
Aber das "Investitions"-Argument steht auf tönernen Füßen - zugegeben.

Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass es nur dann sinnvoll ist, gegen die eigene Biologie/Instinkt zu handeln, wenn man dadurch ein anderes Subjekt beeinträchtigt. Da durch eine Schwangerschaft kein fremdes Subjekt beeinträchtigt wird, sollte die werdende Mutter nicht gegen den Mutterinstinkt/ihre Biologie handeln.

Ich sehe nicht, weswegen die Instinktkonformität überhaupt irgendein Qualitätsmerkmal für eine Handlung sein soll, egal ob andere davon betroffen sind oder nicht.

Nun, es ist im Allgemeinen angenehmer, sich so zu verhalten, wie es einem die Natur mitgegeben hat. Deswegen sollte man einen solchen Weg so gut es geht für Individuuen ermöglichen. Aber ich sehe ein, dass "mein" Argument natürlich etwas lächerlich ist, wenn ich sage, dass man diese Instinktkonformität herbeiführen muss, wenn es denn möglich ist.

Ich stimme dir also zu, dass man auch ohne Hokuspokus eine negative Einstellung zu Abtreibungen einnehmen kann. Sie auf dieser Grundlage dogmatisch abzulehnen dürfte dennoch schwierig sein.

Richtig, Dogmatik und Naturalismus schließen einander aus. Das ist das eigentlich Tolle daran :-)
Benutzeravatar
musikdusche
 
Beiträge: 229
Registriert: So 22. Okt 2006, 02:45
Wohnort: Münster

Beitragvon Klaus » Mo 29. Jan 2007, 14:03

Es ist zu einem Wert in unserer Gesellschaft geworden, sich nicht gegenseitig umzubringen, weil es in den meisten Fällen gegen unsere Natur ist, so zu handeln.


Als wenn ich mir da die menschliche Zivilisation anschaue, habe ich bei diesen Werten gorsse Zweifel. Und ich rede hier nicht nur von Mord und anderen Gewalthandlungen, ich denke auch daran, wieviele ganz einfach verhungern, und bei verhungerten Kindern neige ich dazu zu sagen, wären sie doch besser abgetrieben worden.
Benutzeravatar
Klaus
 
Beiträge: 4704
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:43
Wohnort: get off the Net, I´ll meet you in the Streets

Beitragvon Tapuak » Mo 29. Jan 2007, 14:36

musikdusche hat geschrieben:Und auf welcher Grundlage sprechen wir diese Werte zu? Diese Grundlage ist doch nicht willkürlich, sondern liegt in unserer Biologie begründet. Es ist zu einem Wert in unserer Gesellschaft geworden, sich nicht gegenseitig umzubringen, weil es in den meisten Fällen gegen unsere Natur ist, so zu handeln.
Aber das "Investitions"-Argument steht auf tönernen Füßen - zugegeben.

Es ist ein Unterschied, ob man versucht, die Entstehung der Ethik zu erklären oder ob man selbst versucht, eine Ethik zu entwickeln. Klar, letztlich kann man Ethik irgendwie biologisch und physikalisch erklären. Unsere Veranlagung und die äußeren Umstände bringen uns dazu, genau diese Ethik zu konstruieren uns keine andere.

Wenn man selbst Regeln für das Zusammenleben entwickeln will, hilft der Blick auf die Funktionsweise der Biologie aber nur begrenzt weiter. Es ist natürlich sinnlos, ethische Forderungen aufzustellen, die so extrem gegen irgendwelche Triebe verstoßen, dass sie nicht realisierbar sind. Die Regel "Sexualität ist verboten" dürfte wenig Aussicht auf Erfolg haben. Die Wissenschaft kann uns also Argumente für die Bewertung ethischer Regeln liefern. Ableiten kann man solche Regeln aus der Wissenschaft oder aus der Beschaffenheit der Natur jedoch nicht.

Die Aussage "Es ist in den meisten Fällen gegen unsere Natur, jemanden umzubringen" ist z.B. nach meiner Meinung erstens empirisch falsch und zweitens irrelevant dafür, wie man das Töten bewertet. Menschen bringen sich gegenseitig um, und zwar millionenfach; das ist ein empirisches Faktum. Deswegen ist es aber noch nicht moralisch gut, das zu tun. Der Begriff "natürlich" ist hier also tautologisch, weil beide Verhaltensweisen (jemanden umbringen und jemanden nicht umbringen) laufend vorkommen und somit "natürlich" sind. Es kann also nicht das Kriterium für die Bewertung einer Handlung sein, ob sie "natürlich" (oder "unserer Natur entsprechend") ist oder nicht.

In Wirklichkeit wird der Begriff "natürlich" ja meistens verwendet, um damit Handlungen, die von Mehrheiten praktiziert werden, eine zusätzliche fragwürdige Güte zu verleihen. Und dass das, was die Mehrheit tut, nicht unbedingt moralisch gut sein muss, dürfte offensichtlich sein.

Nach meiner Meinung bleibt uns also nichts anderes übrig, als ethische Regeln, Kriterien zur Bewertungen von Handlungen, Werte usw. zu erfinden, weil wie sie in der Natur nicht vorfinden. Die Biologie muss man dabei selbstverständlich berücksichtigen, um illusorische Regeln zu vermeiden, aber induktiv ableiten können wir aus ihr keine Regeln.
Tapuak
 
Beiträge: 139
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:34
Wohnort: Bremen

Beitragvon musikdusche » Mo 29. Jan 2007, 17:12

Erstens:
Menschen bringen sich millionenfach um - ein empirisches Faktum? Ich würde hier doch noch zu bedenken geben, dass lediglich eine sehr geringe Minderheit der Menscheit zum Mörder wird. Ich tippe mal weltweit auf höchstens 1%. Wenn überhaupt.

Zweitens:
Tapuak, ich finde das, was du geschrieben hast, ja richtig, aber es wird mir noch nicht richtig klar, wie du nun begründest, dass es schlecht ist, sich gegenseitig umzubringen. Wenn wir diesen Wert also erfinden müssen, warum ist er nicht willkürlich? Doch m.E. gerade deswegen, weil uns unsere Natur uns so erdrückende Hinweise darauf gibt: Die meisten Menschen haben eine riesige Hemmschwelle, einen anderen Menschen umzubringen. Außerdem will ein Mensch selbst nur sehr ungern umgebracht werden.
Benutzeravatar
musikdusche
 
Beiträge: 229
Registriert: So 22. Okt 2006, 02:45
Wohnort: Münster

Beitragvon Tapuak » Mo 29. Jan 2007, 19:49

musikdusche hat geschrieben:Erstens:
Menschen bringen sich millionenfach um - ein empirisches Faktum? Ich würde hier doch noch zu bedenken geben, dass lediglich eine sehr geringe Minderheit der Menscheit zum Mörder wird. Ich tippe mal weltweit auf höchstens 1%. Wenn überhaupt.

Ja. Aber inwiefern ist das relevant für die moralische Bewertung des Mordens? Es benutzen auch nur 0,00000000000000001% der Weltbevölkerung dieses Forum. Ist es deswegen moralisch verwerflich oder "unnatürlich", hier etwas zu schreiben? Nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung spielt Tennis. Ist es deswegen verwerflich oder "gegen die menschliche Natur", das zu tun? Selbstverständlich nicht. Die Mehrheitsverhältnisse spielen einfach keine Rolle dafür, ob etwas "gut" oder "schlecht" ist.

Zweitens:
Tapuak, ich finde das, was du geschrieben hast, ja richtig, aber es wird mir noch nicht richtig klar, wie du nun begründest, dass es schlecht ist, sich gegenseitig umzubringen. Wenn wir diesen Wert also erfinden müssen, warum ist er nicht willkürlich? Doch m.E. gerade deswegen, weil uns unsere Natur uns so erdrückende Hinweise darauf gibt: Die meisten Menschen haben eine riesige Hemmschwelle, einen anderen Menschen umzubringen. Außerdem will ein Mensch selbst nur sehr ungern umgebracht werden.

Ich bin der Meinung, dass die Natur uns überhaupt keine moralischen Regeln vorgibt. Diese Regeln können nur von uns formuliert werden, als Produkt unseres Geistes und nicht als Ableitung aus irgendeiner vermeintlich natürlichen Ordnung.

Erst denken wir uns regulative Ideen aus, z.B. die hier schon öfters ins Spiel gebrachte Leidminimierung. Diese regulative Idee (oder "Ideal") finden wir nirgends in der Natur vor. Wir haben sie selbst erfunden. Dann formulieren wir konkretere Regeln, die dazu dienen sollen, dieser regulativen Idee näherzukommen. Auch diese konkreteren Regeln sind Produkte unseres Geistes, genau wie auch wissenschaftliche Theorien Produkte unseres Geistes sind. Wir finden sie nirgends vor, sondern konstruieren sie selbst.

Und erst dann kommt die externe Realität ins Spiel. Wir können dann in der Realität prüfen, ob diese Regeln uns tatsächlich der von uns erdachten regulativen Idee näherbringen oder nicht. Auch hier ist die Vorgehensweise analog zu Theorien, die man an der Realität testet. Wenn wir sehen, dass die von uns ausgedachte Regel in der Realität überhaupt nicht funktioniert, d.h. sie uns der regulativen Idee nicht näherbringt oder gegen sie verstößt, ist sie "widerlegt" und wir müssen uns bessere Regeln überlegen, wie wir unserem fiktiven Ziel näherkommen können.

Konkretes Beispiel: Wir haben uns auf das Ideal der Leidminimierung geeinigt. Jetzt stellen wir die Regel auf, dass wir uns gegenseitig nicht verprügeln. Nach einiger Zeit des Zusammenlebens merken wir: Aha, es minimiert tatsächlich unser Leid, wenn wir uns nicht verprügeln, also die Regel befolgen. Die Regel hat sich also "bewährt", d.h. es gab keine Vorfälle, die darauf hingedeutet haben, dass diese Regel dem Ideal der Leidminimierung zuwiderläuft. Damit ist diese Regel nicht "wahr" oder "ewig gültig", aber immerhin haben wir bis auf weiteres ein Regel in der Hand, die wir nutzen können. Natürlich ist es theoretisch denkbar, dass sich irgendwan doch herausstellt, dass sie doch nicht mehr dazu beiträgt, sich unserem Ideal anzunähern oder es bessere Regeln gibt, mit denen wir dem Ideal der Leidminimierung noch näherkommen.

So, und daran sieht man auch, warum solche Regeln nicht willkürlich sind. Sie haben sich nämlich - im Gegensatz zu anderen Regeln - bewährt; es gibt einen ununterbrochenen Ausleseprozess, in dem die Regeln, die unsere Probleme nicht mehr lösen, fallengelassen werden. Die Regel, dass an unverheiratete Paare keine Wohnung vermietet wird, ist ausgestorben, weil sie einigen regulativen Ideen, die wir in der Gegenwart haben, zuwiderläuft (z.B. Liberalismus, Toleranz, Pluralismus im Privatleben) bzw. die alten regulativen Ideen, denen diese Regel einst Rechnung getragen hat, selbst verschwunden sind (z.B. "gottgefälliges Zusammenleben" im Privatbereich). Alte Moralnormen verschwinden, genau wie alte Theorien verschwinden.

Das ist natürlich alles sehr schematisch dargestellt. In echt haben wir natürlich etliche regulative Ideen auf einmal, die extrem schwierig vereinbar sind oder sich gar widersprechen.

Beim Ausdenken regulativer Ideen spielt unsere Natur natürlich dennoch eine unvermeidliche Rolle. Solche Ideale sind ja vor allem Ausdruck bestimmter Wünsche, und die lassen sich zugegebenermaßen letztlich auf unsere Natur zurückführen. Den Wunsch, wenig zu leiden, haben wir nur aufgrund einer bestimmten physischen Disposition. Der Knackpunkt dabei ist aber, dass die regulativen Ideen oder die konkreten Regeln nicht deshalb "richtig" oder "wahr" sind, weil sie irgendwie Ausdruck unser Natur sind. Stattdessen muss man m.E. den Prozess umdrehen, d.h. die Natur oder die Realität nicht als Quelle, sondern als Prüfinstanz für die von uns erfundenen Normen deuten. Die "Ableitung" von Normen aus der Natur funktioniert nicht, genau wie die Induktion in der Wissenschaft nicht funktioniert.
Tapuak
 
Beiträge: 139
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:34
Wohnort: Bremen

Beitragvon Klaus » Mo 29. Jan 2007, 20:28

...genau wie die Induktion in der Wissenschaft nicht funktioniert.


In der Biologie und in der Physik funktioniert Induktion ganz gut. Als Methode des Herleitens von Hypothesen oder Theorien ist sie auch nicht schlecht, aber aber nur eine Methode.
Benutzeravatar
Klaus
 
Beiträge: 4704
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:43
Wohnort: get off the Net, I´ll meet you in the Streets

Beitragvon Tapuak » Mo 29. Jan 2007, 20:54

Klaus hat geschrieben:Als Methode des Herleitens von Hypothesen oder Theorien ist sie auch nicht schlecht, aber aber nur eine Methode.

Induktion bringt keine "wahren" Theorien hervor. Analog dazu bringt eine Ethik, die ihre Normen "induktiv" aus den Eigenschaften der Natur gewinnt, keine moralisch "richtigen" Regeln hervor. Der Schluss von der Aussage "98 Prozent der Menschen sind heterosexuell" auf die Norm "Heterosexualität ist immer moralisch richtig" ist unzulässig. Ebenso unzulässig ist der Schluss von der Aussage "Die meisten Menschen haben eine Hemmschwelle, jemanden zu töten" auf die Norm "Es ist immer moralisch schlecht, jemanden zu töten". Es bringt also nichts, Tatbestände, die man in der Natur vorzufinden meint, zu verallgemeinern und auf diese Weise Moralnormen ableiten zu wollen. Die Induktion ist hier also m.E. nutzlos.
Tapuak
 
Beiträge: 139
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:34
Wohnort: Bremen

Beitragvon Klaus » Mo 29. Jan 2007, 21:28

Induktion ist eine Methode, wie ich es betont habe, in der Psychologie ist sie anerkannt und eingesetzt. Du kannst ja Induktion ablehnen, als Methode, d.h. aber noch lange nicht das sie nicht benötigt wird.
Benutzeravatar
Klaus
 
Beiträge: 4704
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:43
Wohnort: get off the Net, I´ll meet you in the Streets

Beitragvon Tapuak » Mo 29. Jan 2007, 22:06

Klaus hat geschrieben:Induktion ist eine Methode, wie ich es betont habe, in der Psychologie ist sie anerkannt und eingesetzt. Du kannst ja Induktion ablehnen, als Methode, d.h. aber noch lange nicht das sie nicht benötigt wird.

Ich bin ehrlichgesagt dafür, die Frage nach der allgemeinen Nützlichkeit von Induktion hier nicht zu vertiefen. Mein Anliegen beschränkte sich darauf, zu zeigen, dass man "induktiv" aus der Natur keine wahren/richtigen Moralnormen gewinnen kann.
Tapuak
 
Beiträge: 139
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:34
Wohnort: Bremen

Beitragvon musikdusche » Di 30. Jan 2007, 00:28

Danke für den ausführlichen Beitrag, Tapuak. Ich habe eine Sache aber immer noch nicht verstanden:
Beim Ausdenken regulativer Ideen spielt unsere Natur natürlich dennoch eine unvermeidliche Rolle. Solche Ideale sind ja vor allem Ausdruck bestimmter Wünsche, und die lassen sich zugegebenermaßen letztlich auf unsere Natur zurückführen. Den Wunsch, wenig zu leiden, haben wir nur aufgrund einer bestimmten physischen Disposition. Der Knackpunkt dabei ist aber, dass die regulativen Ideen oder die konkreten Regeln nicht deshalb "richtig" oder "wahr" sind, weil sie irgendwie Ausdruck unser Natur sind. Stattdessen muss man m.E. den Prozess umdrehen, d.h. die Natur oder die Realität nicht als Quelle, sondern als Prüfinstanz für die von uns erfundenen Normen deuten. Die "Ableitung" von Normen aus der Natur funktioniert nicht, genau wie die Induktion in der Wissenschaft nicht funktioniert.


Nehmen wir mal die von dir erwähnte regulative Idee "gottgefälliges Zusammenleben". Wir können Regeln zum Erreichen dieses Ideals finden. Inwiefern scheitert dieses Ideal dann an der "Prüfinstanz" Realität/Natur? (oder tut es das nicht?)

Ich habe das Konzept mit der "Prüfinstanz" offenbar noch nicht richtig verstanden.
Benutzeravatar
musikdusche
 
Beiträge: 229
Registriert: So 22. Okt 2006, 02:45
Wohnort: Münster

Beitragvon Tapuak » Di 30. Jan 2007, 15:53

Ich habe das Konzept mit der "Prüfinstanz" offenbar noch nicht richtig
verstanden.

Na ja, das mit der "Prüfinstanz" hört sich so hochtrabend an, ist aber eigentlich ganz simpel.
Damit ist nichts anderes gemeint, als in der Realität auszuprobieren, ob etwas funktioniert.
Man denkt sich also Regeln aus. Die hat man zunächst nur im Kopf, als "Theorien". Dann wendet
man sie in der Praxis an, d.h. im realen Zusammenleben. Mit diesem Anwendungsversuch testet
man, ob eine Regel tatsächlich (also nicht nur theoretisch) dazu führt, dass man einer
vorher akzeptierten regulativen Idee näherkommt. Man "prüft" die Regeln also, indem man sie
praktisch im realen Zusammenleben anwendet. Diese Prüfung findet mittels Anwendung, also in der
Realität statt. Deswegen ist die Realität die "Prüfinstanz". Sie liefert uns Informationen
darüber, ob eine Regel funktioniert oder nicht.

Man kann sich das vielleicht noch leichter bei wissenschaftlichen Theorien vorstellen. Man
stellt die Theorie auf: "Dieser Stein fällt zu Boden, wenn ich ihn loslasse". Diese Theorie
überprüft man, indem man den Vorgang praktisch durchführt. Die Realität "zeigt" uns
dann, ob die Theorie falsch ist. Sie ist also die "Prüfinstanz". Wenn der Stein losgelassen
wird und er nicht zu Boden fällt, ist die Theorie falsch. In der Ethik ist es natürlich etwas
komplexer zu beurteilen, ob einen eine bestimmte Regel tatsächlich einer bestimmten regulativen
Idee näherbingt. Das Testen ist also unter Umständen schwieriger. Das Schema ist aber m.E. das
Gleiche.

Hier (Abschnitt "Antipositivismus") wird das mit der "Prüfinstanz" anhand einiger Beispiele
erläutert. Vielleicht wird dadurch die Idee deutlich, die dahintersteckt.

Nehmen wir mal die von dir erwähnte regulative Idee "gottgefälliges Zusammenleben". Wir
können Regeln zum Erreichen dieses Ideals finden. Inwiefern scheitert dieses Ideal dann an der
"Prüfinstanz" Realität/Natur? (oder tut es das nicht?)

Das mit dem "gottgefälligen Zusammenleben" war wohl kein besonders verständliches Beispiel von
mir, da in diesem Fall ja extrem schwierig zu bestimmen ist, was damit auch nur ännähernd
gemeint sein soll. Es wird ja impliziert, dass "Gott" tatsächlich einen Willen hat und dass man
diesen Willen kennt. Den kennt man aber nicht, weil es Gott nicht gibt.

Ich finde das Beispiel "Leidminimierung" für eine regulative Idee einfacher, weil die schon
etwas besser erfassbar ist. Also, gehen wir davon aus, dass eine Gruppe von Menschen diese
regulative Idee akzeptiert hat. Sie stellen dann auf dieser Basis die konkrete Norm auf: "Wir
verprügeln uns nicht." Die Norm wird dann praktisch angewandt und die Menschen halten sich
daran. Sie merken, dass die Norm tatsächlich dazu beiträgt, ihr Leid zu minimieren, weil durch
sie Prügeleien (die ja Leid verursachen würden) vermieden werden. Die Norm ist also der
Annäherung an die regulative Idee dienlich; sie hat sich bewährt.

Gleichzeitig einigt sich eine andere Gruppe von Menschen, die sich ebenfalls auf die regulative
Idee der Leidminimierung geeinigt hat, auf die konkrete Regel "Prügeleien in der Kneipe sind
erlaubt". Sie sehen aber, nachdem die Norm einige Zeit angewendet wurde, dass die Prügeleien in
der Kneipe viel Leid verursachen. Die Norm trägt also nicht dazu bei, sich der reg. Idee
der Leidminierung anzunähern. Sie hat sich also nicht bewährt. Sie hat die Prüfung in
der Realität nicht bestanden und wird deswegen fallengelassen. Die Gruppe denkt sich nun neue
Regeln aus und überprüft abermals, ob diese sich vielleicht besser in der Realität bewähren als die
fallengelassene Regel usw.
Tapuak
 
Beiträge: 139
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:34
Wohnort: Bremen

Beitragvon taotne » Di 30. Jan 2007, 19:40

Tapuak hat geschrieben:Mein Anliegen beschränkte sich darauf, zu zeigen, dass man "induktiv" aus der Natur keine wahren/richtigen Moralnormen gewinnen kann.
Wie kann man denn wahre/richtige Moralnormen gewinnen??
Ich stimme dir zu, dass das "induktiv" aus der Natur nicht möglich ist, aber woher kommen denn diese regulativen Ideen???
Meine Vermutung ist, dass Moral schlussendlich eigentlich völlig willkürlich festgelegt wird. Die Vorstellungen wie Moral auszusehen hat bildet sich je nach der eigenen Kultur, Erziehung, Erfahrungen, Nöten, Schmerzen,ect... mit denen das Individuum aufgewachsen ist. Somit gibt es "wahre" Moral per se nicht. Es geht also einzig und alleine darum, wie wir leben wollen!!

...oder irre ich mich da?
Benutzeravatar
taotne
 
Beiträge: 281
Registriert: Sa 9. Dez 2006, 22:01

Beitragvon Tapuak » Mi 31. Jan 2007, 00:02

taotne hat geschrieben:Ich stimme dir zu, dass das "induktiv" aus der Natur nicht möglich ist, aber woher kommen denn diese regulativen Ideen???
Meine Vermutung ist, dass Moral schlussendlich eigentlich völlig willkürlich festgelegt wird. Die Vorstellungen wie Moral auszusehen hat bildet sich je nach der eigenen Kultur, Erziehung, Erfahrungen, Nöten, Schmerzen,ect... mit denen das Individuum aufgewachsen ist. Somit gibt es "wahre" Moral per se nicht. Es geht also einzig und alleine darum, wie wir leben wollen!!

...oder irre ich mich da?

Ich stimme dir teilweise zu. Ich bin der Meinung, dass regulative Ideen vor allem das widerspiegeln, was wir uns wünschen: Zum Beispiel Freiheit, wenig Leid, Genuss, oder was auch immer - es gibt da ja zahllose Möglichkeiten. Welche Ideale wir für wichtig erachten, dürfte einerseits abhängen von unseren Veranlagungen (also unserer biologischen Beschaffenheit inklusive unserer Psyche) sowie von äußeren Einflüssen (sehr weitgefasst von kulturellen Einflüssen bis zur Erziehung).

Es gibt natürlich keine objektiven Werte in dem Sinne, dass bestimmte Werte ewigen Gültigkeitsanspruch haben. Das wird daran ersichtlich, dass verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten ganz anderen Dinge als wichtig erachtet haben, und daran, dass sich die Problemsituationen ständig ändern (etwa durch technische oder soziale Innovationen, die neue moralische Probleme hervorrufen). Aber aus diesen Beobachtungen die resignative Konsequenz des völligen Relativismus zu ziehen - und damit alle Werte für "gleichwertig" zu erklären -, halte ich für falsch.

Man kann ja, obwohl die jeweiligen Ideale zu einem großen Teil von der Biologie und vom äußeren Umfeld abhängig sind, trotzdem rational darüber diskutieren, zu welchen Konsequenzen bestimmte regulative Ideen führen. Dadurch wird es dann möglich, sie miteinander zu vergleichen und so ihre Vor- und Nachteile sichtbar zu machen. Man kann mit einer solchen rationalen Argumentation natürlich niemanden zwingen bestimmte regulative Ideen anzunehmen. Aber man kann immerhin versuchen plausibel zu machen, unter welchen Gesichtspunkten man sie für wichtig erachtet und in welcher Hinsicht man sie für besser hält als andere Ideale.

Ich würde also sagen, dass unsere Wünsche sehr stark biologisch und sozial determiniert sind, aber die Ideale, die sich daraus ergeben, dennoch rational diskutiert werden können (und somit nicht völlig beliebig sein müssen).
Tapuak
 
Beiträge: 139
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:34
Wohnort: Bremen

Beitragvon [C]Arrowman » Mi 31. Jan 2007, 22:43

Benutzeravatar
[C]Arrowman
 
Beiträge: 961
Registriert: Mo 1. Jan 2007, 16:18
Wohnort: Fuldabrück

Beitragvon Liberto » Fr 2. Feb 2007, 18:53

Und wer sagt das ein Beethoven wünschenswerter wäre als andere Kinder?
Ohne Bauer kein Brot.
Eliteres denken bei The Brights?
Eine Gesellschaft die solche Fragen diskutiert zeigt ihre ethische Armut.
Liberto
 
Beiträge: 13
Registriert: Mi 15. Nov 2006, 20:19

Beitragvon Klaus » Fr 2. Feb 2007, 19:11

Liberto hat geschrieben:Eine Gesellschaft die solche Fragen diskutiert zeigt ihre ethische Armut.


danke, für den Beitrag.
Benutzeravatar
Klaus
 
Beiträge: 4704
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:43
Wohnort: get off the Net, I´ll meet you in the Streets

Beitragvon Max » Mo 5. Feb 2007, 13:30

Max
 
Beiträge: 2038
Registriert: So 10. Sep 2006, 09:55

VorherigeNächste

Zurück zu Philosophie

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 7 Gäste

cron