Harter atheistischer Determinismus

Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Di 31. Dez 2013, 19:05

Hallo,

ich frage mich, ob nicht trotz Quantentheorie (die ich nicht wirklich "verstehe" - zB den objektiven Zufall) ein harter atheistischer Determinismus auch im 21. Jh. eine plausible philosophische Weltanschauung ist.

Meine Vermutung ist folgende:
Die komplexe dynamische Lebenswelt, die wir um uns beobachten können, ist kausal geordnet und vollkommen festgelegt. Alles ist Folge von Vorangegangenem. Jedes einzelne Ereignis in der Lebenswelt hat also natürliche Ursachen, Vorbedingungen und eine Vorgeschichte, die für uns zugänglich und erforschbar ist. Es gibt in unserer Umwelt nur unausweichliche Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. In jedem einzelnen Moment ist uns nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt dieser Kausalketten bewusst. Dazu kommen die unzähligen komplexen Wechselwirkungen und dynamischen Regelkreise in der Natur, die ein Erkennen des kompromisslosen strengen Determinismus erschweren.

Die Welt erscheint deshalb offen und „zufällig“, weil wir die zahllosen komplexen natürlichen Wirkzusammenhänge nicht überblicken und nicht durchschauen können. Die scheinbare Offenheit der Welt ist meiner Ansicht nach eine Illusion, die wir Menschen uns machen, weil wir die Komplexität der Welt ausblenden. Dieses selektive Ausblenden der Komplexität ist aber notwendig, um sich überhaupt in der Welt orientieren zu können. Wir wären einfach überfordert, wenn wir ständig die komplizierten Zusammenhänge und die unzähligen miteinander verflochtenen Ursachen, Vorbedingungen, Vorgeschichten und Kausalketten in der natürlichen, kulturellen und technischen Umgebung bei unseren Entscheidungen und Handlungen bewusst berücksichtigen müssten.

Eine weitere Vermutung ist:
Die Evolution dieser komplexen dynamischen Lebenswelt beruht auf keinem Plan und keiner Absicht, hat keinen übergeordneten Zweck und kein endgültiges Ziel. Sie hat keine tiefere Bedeutung und keinen höheren Sinn. Sie läuft einfach determiniert ab. Gleichzeitig, unausweichlich und überall auf dem Planeten Erde.

Und meine letzte Vermutung:
Dieser komplexe dynamische Lebensprozess ist fast immer unberechenbar und unvorhersehbar - also für den Einzelnen neu und oft überraschend. Diese Vermutung der Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit schließt jede Art von Fatalismus und Prädestination aus. Die Determiniertheit der Lebenswelt heißt nicht, dass unser Schicksal von irgendjemand oder irgendetwas irgendwie vorprogrammiert wurde.

Mich würde interessieren, ob diese Art von deterministischer Weltsicht hier irgendwer teilt und wenn nicht, warum er es nicht tut. Außerdem wäre ich dankbar für Links oder Literaturhinweise auf Bücher, die sich mit dieser allgemeinen Art von atheistischem Determinismus beziehen (ich habe bei meinen Recherchen wenig bis gar nichts Aktuelles darüber gefunden - außer Literatur von Neurobiologen wie Roth, Singer und anderer, die den freien Willen auf Grund neuester Erkenntnisse der Hirnforschung in Frage stellen, was ja diese Art von deterministischer Weltsicht nur bestätigt...)

Liebe Grüße aus Wien.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Vollbreit » Mi 1. Jan 2014, 13:54

Hallo Ice.

Willkommen im Forum und frohes neues Jahr.

ice hat geschrieben:Hallo,

ich frage mich, ob nicht trotz Quantentheorie (die ich nicht wirklich "verstehe" - zB den objektiven Zufall) ein harter atheistischer Determinismus auch im 21. Jh. eine plausible philosophische Weltanschauung ist.

Meine Vermutung ist folgende:
Die komplexe dynamische Lebenswelt, die wir um uns beobachten können, ist kausal geordnet und vollkommen festgelegt. Alles ist Folge von Vorangegangenem. Jedes einzelne Ereignis in der Lebenswelt hat also natürliche Ursachen, Vorbedingungen und eine Vorgeschichte, die für uns zugänglich und erforschbar ist. Es gibt in unserer Umwelt nur unausweichliche Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. In jedem einzelnen Moment ist uns nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt dieser Kausalketten bewusst. Dazu kommen die unzähligen komplexen Wechselwirkungen und dynamischen Regelkreise in der Natur, die ein Erkennen des kompromisslosen strengen Determinismus erschweren.

Was Du hier beschreibst sind glaube ich ohnehin die impliziten Hintergrundannahmen gegenwärtig praktizierter Wissenschaft Quantenphysik mal ausgeblendet.

ice hat geschrieben:Die Welt erscheint deshalb offen und „zufällig“, weil wir die zahllosen komplexen natürlichen Wirkzusammenhänge nicht überblicken und nicht durchschauen können. Die scheinbare Offenheit der Welt ist meiner Ansicht nach eine Illusion, die wir Menschen uns machen, weil wir die Komplexität der Welt ausblenden. Dieses selektive Ausblenden der Komplexität ist aber notwendig, um sich überhaupt in der Welt orientieren zu können. Wir wären einfach überfordert, wenn wir ständig die komplizierten Zusammenhänge und die unzähligen miteinander verflochtenen Ursachen, Vorbedingungen, Vorgeschichten und Kausalketten in der natürlichen, kulturellen und technischen Umgebung bei unseren Entscheidungen und Handlungen bewusst berücksichtigen müssten.
Ja, bei Luhmann heißt das Reduktion von Komplexität und meint das, was Du sagst: Wir müssen Vereinfachen um uns zurechtzufinden.

ice hat geschrieben:Eine weitere Vermutung ist:
Die Evolution dieser komplexen dynamischen Lebenswelt beruht auf keinem Plan und keiner Absicht, hat keinen übergeordneten Zweck und kein endgültiges Ziel. Sie hat keine tiefere Bedeutung und keinen höheren Sinn. Sie läuft einfach determiniert ab. Gleichzeitig, unausweichlich und überall auf dem Planeten Erde.

Schwierig, weil das mehrere Fäden verknüpft. Zum einen die Frage nach Notwendigkeit – und was das überhaupt ist – und einem freien Fließen zufälliger Abläufe, die zwar determiniert sind, aber letztlich einfach so passieren.
Du musst Dich vermutlich entscheiden, ob hinter dem Zufall doch ein echtes Muster steht oder ob tatsächlich alles kontingent (zufällig) in dem Sinne ist, dass es im Grunde auch ganz anders hätte kommen können.
Dann gibt es regelmäßig sich wiederholende Muster, aber ohne tiefere Notwendigkeit.

ice hat geschrieben:Und meine letzte Vermutung:
Dieser komplexe dynamische Lebensprozess ist fast immer unberechenbar und unvorhersehbar - also für den Einzelnen neu und oft überraschend. Diese Vermutung der Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit schließt jede Art von Fatalismus und Prädestination aus. Die Determiniertheit der Lebenswelt heißt nicht, dass unser Schicksal von irgendjemand oder irgendetwas irgendwie vorprogrammiert wurde.
Determinismus könnte mit Fatalismus einhergehen, muss aber nicht.
Eine Prädestination könnte „göttlich“ oder supernaturlaistisch gedacht werden, muss aber nicht, nämlich dann, wenn es naturgesetzlich festgezurrte Abläufe gibt, nach denen im Grunde mit dem Urknall alles weitere bereits feststeht.
Es kann auch sein, dass alles feststeht und so kommen wird, wie es kommt, ohne, dass dies notwendigerweise geschieht, dann nämlich, wenn die Abläufe in der Natur laufen, wie sie nun mal laufen – und Regelmäßigkeiten oder Regularitäten aufweisen -, ohne, dass sie notwendigerweise so laufen mussten, es hätte auch alles ganz anders ablaufen können, das wäre Determinismus ohne Notwendigkeit.

ice hat geschrieben:Mich würde interessieren, ob diese Art von deterministischer Weltsicht hier irgendwer teilt und wenn nicht, warum er es nicht tut.
Ich habe mich da nicht so tief reingekniet, weil für mich die Positionen verschwimmen (aber vielleicht erscheint mir das auch nur so, weil ich mich nicht genug reinknie) und am Ende die Frage nach dem was theoretisch denkbar wäre, m.E. wenig Erkenntnisse darüber vermittelt, was tatsächlich der Fall ist.

ice hat geschrieben:Außerdem wäre ich dankbar für Links oder Literaturhinweise auf Bücher, die sich mit dieser allgemeinen Art von atheistischem Determinismus beziehen (ich habe bei meinen Recherchen wenig bis gar nichts Aktuelles darüber gefunden - außer Literatur von Neurobiologen wie Roth, Singer und anderer, die den freien Willen auf Grund neuester Erkenntnisse der Hirnforschung in Frage stellen, was ja diese Art von deterministischer Weltsicht nur bestätigt...)

Die Ansichten der Hirnforscher Roth und Singer sind eher schwach und selbstwidersprüchlich, aber Beckermann ist da eine gute und reiche Adresse:
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Darth Nefarius » Mi 1. Jan 2014, 14:40

Sei gegrüßt, ice!
Ich persönlich bin selbst ein Vertreter dieses radikalen, atheistischen Determinismus - auch trotz Quantentheorie. Der Witz ist ja an dieser, dass sie offensichtlich doch Gesetzesmäßigkeiten folgt, andernfalls könnte man sich sie nicht zunutze machen wie man es aktuell tut. Ich bin zwar kein Physiker, verstehe aber dennoch genug von der Materie, um sagen zu können, dass die Verwendung des Begriffes "Zufall" in Naturwissenschaften keinen echten Zufall meint, sondern nur Platzhalter ist für noch nicht verstandene Gesetzesmäßigkeiten oder Unwägbarkeiten (die sich aus den von dir genannten Gründen ergeben). Das gilt auch für die Quantenphysik. Ein Beispiel für eine weitere Eigenheit und mangelnde Logik in dem Denkschema der Physiker ist Schrödingers Gleichnis - Die Schlussfolgerung ist einfach unsinnig und resultiert aus dem Verlangen, etwas Unbekanntes und noch nicht Erfasstes beschreiben zu wollen - dadurch kommt es zur Benennung von "Zufällen". Auch die Unschärferelation, mit der sich jeder Naturwissenschftler rumschlagen muss (gerade aufgrund des Determinismus), trägt aufgrund des Verlangens, alles benennen zu wollen, zu einer falschen Benennung und paradoxerweise zum Zweifel an diese Art des Determinismus, wo es doch nur diesen ein weiteres mal bestätigt.
ice hat geschrieben:Meine Vermutung ist folgende:
Die komplexe dynamische Lebenswelt, die wir um uns beobachten können, ist kausal geordnet und vollkommen festgelegt. Alles ist Folge von Vorangegangenem. Jedes einzelne Ereignis in der Lebenswelt hat also natürliche Ursachen, Vorbedingungen und eine Vorgeschichte, die für uns zugänglich und erforschbar ist. Es gibt in unserer Umwelt nur unausweichliche Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. In jedem einzelnen Moment ist uns nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt dieser Kausalketten bewusst. Dazu kommen die unzähligen komplexen Wechselwirkungen und dynamischen Regelkreise in der Natur, die ein Erkennen des kompromisslosen strengen Determinismus erschweren.

Das sehe ich auch so - und ich betrachte es nicht nur als Vermutung, sondern erwiesen. Andernfalls könnten wir Gleichförmigkeit nicht beobachten, könnten nicht schlussfolgern, könnten nicht wissenschaftlich arbeiten und Theorien aufstellen und sie prüfen....
ice hat geschrieben:Die Welt erscheint deshalb offen und „zufällig“, weil wir die zahllosen komplexen natürlichen Wirkzusammenhänge nicht überblicken und nicht durchschauen können. Die scheinbare Offenheit der Welt ist meiner Ansicht nach eine Illusion, die wir Menschen uns machen, weil wir die Komplexität der Welt ausblenden. Dieses selektive Ausblenden der Komplexität ist aber notwendig, um sich überhaupt in der Welt orientieren zu können. Wir wären einfach überfordert, wenn wir ständig die komplizierten Zusammenhänge und die unzähligen miteinander verflochtenen Ursachen, Vorbedingungen, Vorgeschichten und Kausalketten in der natürlichen, kulturellen und technischen Umgebung bei unseren Entscheidungen und Handlungen bewusst berücksichtigen müssten.

Man kann nicht alles berücksichtigen, aber dennoch durch Anstrengung genug erfassen, um Entwicklungen vorherzusehen (mit einer guten Trefferquote). Intelligente Wesen antizipieren ständig und machen sich so die Kausalität zunutze. Der Lebensprozess ist also durchaus bis zu einem gewissen Grad berechenbar und vorhersehbar - abhängig davon, wieviel man berücksichtigt. Das tun Naturwissenschaftler ständig und haben auch relativ viel Erfolg damit. Diese Berechenbarkeit weist aber natürlich nicht auf einen Plan oder Schicksal hin, sondern bestätigt die Kausalität, beruht auf Naturgesetzen, die Eigenschaften unseres Universums sind.
Interessant ist, was sich aus dieser Anschauung ergibt - ist Freiheit nicht auch eine Illusion? Das ist nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern auch eine gesellschaftliche Frage, was dadurch zu weiteren Fragen über politische Systeme, die diese allgemeine und undefinierte Freiheit anstreben. Konsequent ist natürlich - sofern man vom harten Determinismus ausgeht - Freiheit als Illusion zu betrachten. Wie viele andere Illusionen ist die Idee der Freiheit nicht ein Resultat aus Beobachtung, Vernunft und Logik, sondern das Ergebnis von Wunschdenken (die ultimative eierlegende Wollmilchsau ist in diesem Zusammenhang eine Gottheit) und der Unfähigkeit mit der Realität umgehen zu können.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Mi 1. Jan 2014, 15:07

Vollbreit hat geschrieben:Hallo Ice.

Willkommen im Forum und frohes neues Jahr.


Danke - ich wünsche dir/euch auch ein schönes neues Jahr.

Vollbreit hat geschrieben:Was Du hier beschreibst sind glaube ich ohnehin die impliziten Hintergrundannahmen gegenwärtig praktizierter Wissenschaft Quantenphysik mal ausgeblendet.


Ja, dass ein konsequentes Kausalitätsdenken die Voraussetzung für jede Art von Wissenschaft ist, nehme ich auch stark an. Deswegen verstehe ich die Quantentheorie auch nicht wirklich, weil da ein "objektiver Zufall" postuliert wird, der in einem streng deterministischen Weltbild keinen Platz hat. Ich glaube an keinen "Zufall" und kann mir unter ihm nichts vorstellen. Er erklärt auch meiner Ansicht nach nichts. Für mich ist der "Zufall" ein noch wenig verstandenes Naturphänomen.

Vollbreit hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Eine weitere Vermutung ist:
Die Evolution dieser komplexen dynamischen Lebenswelt beruht auf keinem Plan und keiner Absicht, hat keinen übergeordneten Zweck und kein endgültiges Ziel. Sie hat keine tiefere Bedeutung und keinen höheren Sinn. Sie läuft einfach determiniert ab. Gleichzeitig, unausweichlich und überall auf dem Planeten Erde.

Schwierig, weil das mehrere Fäden verknüpft. Zum einen die Frage nach Notwendigkeit – und was das überhaupt ist – und einem freien Fließen zufälliger Abläufe, die zwar determiniert sind, aber letztlich einfach so passieren.
Du musst Dich vermutlich entscheiden, ob hinter dem Zufall doch ein echtes Muster steht oder ob tatsächlich alles kontingent (zufällig) in dem Sinne ist, dass es im Grunde auch ganz anders hätte kommen können.
Dann gibt es regelmäßig sich wiederholende Muster, aber ohne tiefere Notwendigkeit.


Ich "glaube" an solche abstrakten Muster, die sich notwendig, geordnet und regelmäßig in der komplexen dynamischen Lebenswelt entwickeln. Woran ich nicht glauben kann, ist, dass in diesem Prozess irgendwo ein "Zufall" das Sagen hat.

Vollbreit hat geschrieben:Determinismus könnte mit Fatalismus einhergehen, muss aber nicht.
Eine Prädestination könnte „göttlich“ oder supernaturlaistisch gedacht werden, muss aber nicht, nämlich dann, wenn es naturgesetzlich festgezurrte Abläufe gibt, nach denen im Grunde mit dem Urknall alles weitere bereits feststeht.
Es kann auch sein, dass alles feststeht und so kommen wird, wie es kommt, ohne, dass dies notwendigerweise geschieht, dann nämlich, wenn die Abläufe in der Natur laufen, wie sie nun mal laufen – und Regelmäßigkeiten oder Regularitäten aufweisen -, ohne, dass sie notwendigerweise so laufen mussten, es hätte auch alles ganz anders ablaufen können, das wäre Determinismus ohne Notwendigkeit.


Der atheistische Determinismus, den ich hier vertrete, darf nicht mit Fatalismus, göttlicher Vorsehung und Fügung verwechselt werden, weil diese immer religiös motiviert sind. Es gibt für mich eben keine Instanz, ob Gottheit, Dämon oder eine andere Schicksalsmacht, die irgendwie in den Lebensprozess eingreifen könnte oder die diesen Lauf der Dinge absichtsvoll geplant, kontrolliert oder in Gang gesetzt hat. Wenn überhaupt, dann haben abstrakte Naturgesetze die „Macht“ – besser die wertneutrale Möglichkeit, diesen Prozess in Gang zu setzen und den Verlauf zu steuern. Der Mensch, selbst Naturgesetzen unterworfen und untrennbarer Teil der Natur, kann die Naturgesetze nicht außer Kraft setzen und ist deshalb stets dieser natürlichen „Macht“ unterlegen.

Vollbreit hat geschrieben:Ich habe mich da nicht so tief reingekniet, weil für mich die Positionen verschwimmen (aber vielleicht erscheint mir das auch nur so, weil ich mich nicht genug reinknie) und am Ende die Frage nach dem was theoretisch denkbar wäre, m.E. wenig Erkenntnisse darüber vermittelt, was tatsächlich der Fall ist.


Für mich ist die Determinismusfrage sehr spannend und interessant, obwohl mir bewusst ist, dass sie - radikal zu Ende gedacht - keine praktischen Erkenntnisse vermitteln und auch zu keinen Konsequenzen führen kann. Das hat damit zu tun, das "wir" untrennbare Teile dieses determinierten Prozesses sind und deswegen jede Erkenntnis/Konsequenz auch schon determiniert sein müsste.
Egal, welche Gedanken wir uns machen, sie sind alle Ergebnis aus unseren bisherigen Gedanken, Eindrücken, Erlebnissen, Erfahrungen, Gesprächen und unzähliger anderer Einflussfaktoren. Der gesamte Lebensprozess ist unausweichlich festgelegt, weil alles Geschehen der Kausalität unterliegt. Auch diese Zeilen, die ich hier schreibe, sind Ergebnis einer langen Kausalkette. Alles, was ich jemals gehört, gelesen und gedacht habe, fließt in die Formulierung von diesen Sätzen. Und die Leser oder Leserinnen hier können auch nicht anders als diese Zeilen jetzt in diesem Augenblick zu lesen, darüber vielleicht nachzudenken, die Inhalte zu übernehmen oder zu kritisieren. Auch das ist bereits unausweichlich festgelegt – so meine Vermutung.

Vollbreit hat geschrieben:Die Ansichten der Hirnforscher Roth und Singer sind eher schwach und selbstwidersprüchlich, aber Beckermann ist da eine gute und reiche Adresse: http://www.philosophieverstaendlich.de/freiheit


Danke für den Tip.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Mi 1. Jan 2014, 15:39

Darth Nefarius hat geschrieben:Man kann nicht alles berücksichtigen, aber dennoch durch Anstrengung genug erfassen, um Entwicklungen vorherzusehen (mit einer guten Trefferquote). Intelligente Wesen antizipieren ständig und machen sich so die Kausalität zunutze. Der Lebensprozess ist also durchaus bis zu einem gewissen Grad berechenbar und vorhersehbar - abhängig davon, wieviel man berücksichtigt. Das tun Naturwissenschaftler ständig und haben auch relativ viel Erfolg damit.


Da bin ich nicht so optimistisch. Nach der "Theorie komplexer Systeme" (früher "Chaostheorie") können wir bei komplexen dynamsichen Systemen prinzipiell nicht exakt die Anfangsbedingungen kennen, um daraus etwas sicher zu prognostizieren oder vorherzusehen. Das geht bei solchen Systemen nur annäherungsweise und sehr kurzfristig (zB Wetterprognose, die nur grob eine Woche gilt).

Darth Nefarius hat geschrieben:Interessant ist, was sich aus dieser Anschauung ergibt - ist Freiheit nicht auch eine Illusion? Das ist nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern auch eine gesellschaftliche Frage, was dadurch zu weiteren Fragen über politische Systeme, die diese allgemeine und undefinierte Freiheit anstreben. Konsequent ist natürlich - sofern man vom harten Determinismus ausgeht - Freiheit als Illusion zu betrachten. Wie viele andere Illusionen ist die Idee der Freiheit nicht ein Resultat aus Beobachtung, Vernunft und Logik, sondern das Ergebnis von Wunschdenken (die ultimative eierlegende Wollmilchsau ist in diesem Zusammenhang eine Gottheit) und der Unfähigkeit mit der Realität umgehen zu können.


Ja, jeder kennt das Gefühl von "Freiheit" - obwohl es vielleicht nur eine Illusion ist. Das gehört für mich mit zu den Paradoxa, die sich aus einem harten Determinismus ergeben. Radikal zu Ende gedacht, folgen aus dem strengen kausalen Determinismus einige sonderbare Erkenntnisse. Wir können uns beim Leben wach, distanziert und reflektiert zuschauen. Klingt seltsam - ist es auch. Wir können gar nicht anders als einfach zu leben. Auch wenn ich mir den Determinismus wirklich bewusst machen will, ändert diese Einsicht nichts an meinem weiteren Leben. Und wenn, dann ist diese Änderung auch schon längst unausweichlich festgelegt, so meine Vermutung.
Wie lebt man als menschliches Wesen mit der Erkenntnis, dass die Lebenswelt unausweichlich festgelegt ist? Es gibt offensichtlich eine paradoxe Doppelnatur des Bewusstseins. Einerseits erlebe ich mich in der Lebenswelt als individuelles freies „Teilchen“, das bewusst fühlt, denkt, handelt und beobachtet. Andererseits habe ich oft das Gefühl oder die Ahnung einer deterministischen Einheit der gesamten Natur, in der alles ein abstraktes, zusammenhängendes, sich dynamisch veränderndes komplexes „Muster“ ist. Dieses Gefühl hat für mich aber nichts mit einem religiösen Glauben zu tun.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Vollbreit » Mi 1. Jan 2014, 15:57

ice hat geschrieben:Ja, dass ein konsequentes Kausalitätsdenken die Voraussetzung für jede Art von Wissenschaft ist, nehme ich auch stark an. Deswegen verstehe ich die Quantentheorie auch nicht wirklich, weil da ein "objektiver Zufall" postuliert wird, der in einem streng deterministischen Weltbild keinen Platz hat. Ich glaube an keinen "Zufall" und kann mir unter ihm nichts vorstellen. Er erklärt auch meiner Ansicht nach nichts. Für mich ist der "Zufall" ein noch wenig verstandenes Naturphänomen.

Womit wir schon wieder bei einer Glaubensfrage wären.
Die aktuelle Lösung sieht derzeit so aus, dass die Quanteneffekte offenbar als räumlich begrenzt angesehen werden, so dass zwar es zwar aufgeht, dass es kein relaitisches Universum gibt, was sich als mesokosmischer Effekt aber sofort verliert, weil sie statistischen Näherungen exakt und verlässlich genug sind, um weiter klassisch kausal zu denken und zu argumentieren.

ice hat geschrieben:Ich "glaube" an solche abstrakten Muster, die sich notwendig, geordnet und regelmäßig in der komplexen dynamischen Lebenswelt entwickeln. Woran ich nicht glauben kann, ist, dass in diesem Prozess irgendwo ein "Zufall" das Sagen hat.
Keine Ahnung, ich finde die Idee karmischer Muster halbwegs plausibel, aber ich weiß nicht, woran man wirklich erkennen kann, was davon mehr als eine Zuschreibung ist.

ice hat geschrieben:Der atheistische Determinismus, den ich hier vertrete, darf nicht mit Fatalismus, göttlicher Vorsehung und Fügung verwechselt werden, weil diese immer religiös motiviert sind.
Ob Du das möchtest, oder es logisch folgt, sind ja zwei Paar Schuhe.

ice hat geschrieben:Es gibt für mich eben keine Instanz, ob Gottheit, Dämon oder eine andere Schicksalsmacht, die irgendwie in den Lebensprozess eingreifen könnte oder die diesen Lauf der Dinge absichtsvoll geplant, kontrolliert oder in Gang gesetzt hat. Wenn überhaupt, dann haben abstrakte Naturgesetze die „Macht“ – besser die wertneutrale Möglichkeit, diesen Prozess in Gang zu setzen und den Verlauf zu steuern. Der Mensch, selbst Naturgesetzen unterworfen und untrennbarer Teil der Natur, kann die Naturgesetze nicht außer Kraft setzen und ist deshalb stets dieser natürlichen „Macht“ unterlegen.

So hat jeder sein Glaubensgebäude, blöd nur, wenn man nicht erkennt, dass es sich um ein solches handelt.

ice hat geschrieben:Für mich ist die Determinismusfrage sehr spannend und interessant, obwohl mir bewusst ist, dass sie - radikal zu Ende gedacht - keine praktischen Erkenntnisse vermitteln und auch zu keinen Konsequenzen führen kann. Das hat damit zu tun, das "wir" untrennbare Teile dieses determinierten Prozesses sind und deswegen jede Erkenntnis/Konsequenz auch schon determiniert sein müsste.
Es spricht aber nichts dagegen, dass ein determinierter Teil nicht umfassende Erkenntnisse haben könnte.
Determiniert zu sein, heißt ja nicht blöd zu sein.

ice hat geschrieben:Egal, welche Gedanken wir uns machen, sie sind alle Ergebnis aus unseren bisherigen Gedanken, Eindrücken, Erlebnissen, Erfahrungen, Gesprächen und unzähliger anderer Einflussfaktoren.
Aber Du hast die Möglichkeit zu Reflexionen. Warum denke ich eigentlich, was ich denke? Muss ich so denken? Gibt es prinzipiellen Denkgrenzen? Wer sagt, dass das „Ganze“ (sofern es das gibt) überhaupt denkend zu erfassen ist oder denkend erfasst werden müsste?

ice hat geschrieben:Der gesamte Lebensprozess ist unausweichlich festgelegt, weil alles Geschehen der Kausalität unterliegt.
Das weiß kein Mensch, viele halten Kausalität für einen plausiblen Irrtum.

ice hat geschrieben:Auch diese Zeilen, die ich hier schreibe, sind Ergebnis einer langen Kausalkette. Alles, was ich jemals gehört, gelesen und gedacht habe, fließt in die Formulierung von diesen Sätzen.
Und das kreative Element?

ice hat geschrieben:Und die Leser oder Leserinnen hier können auch nicht anders als diese Zeilen jetzt in diesem Augenblick zu lesen, darüber vielleicht nachzudenken, die Inhalte zu übernehmen oder zu kritisieren. Auch das ist bereits unausweichlich festgelegt – so meine Vermutung.
Hängt davon ab, welche metaphysischen Grundbedingungen man unterstellt. Es sein denn man kann sicher nachweisen, welcher Kandidat ausscheidet.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Darth Nefarius » Mi 1. Jan 2014, 16:03

ice hat geschrieben:Da bin ich nicht so optimistisch. Nach der "Theorie komplexer Systeme" (früher "Chaostheorie") können wir bei komplexen dynamsichen Systemen prinzipiell nicht exakt die Anfangsbedingungen kennen, um daraus etwas sicher zu prognostizieren oder vorherzusehen. Das geht bei solchen Systemen nur annäherungsweise und sehr kurzfristig (zB Wetterprognose, die nur grob eine Woche gilt).

Es ist auch gar nicht nötig, etwas exakt zu beschreiben, um eine begründete Theorie aufzustellen, die allgemein anerkannt wird. Deswegen gibt es Statistiker, die deine Ergebnisse permanent überprüfen - Messfehler, Abweichungen gibt es immer und die werden auch geduldet. Naturwissenschaftler sind keine Philosophen, sondern Pragmatiker und haben damit Erfolg und sagen sich nicht "verdammt, dieses Modell/diese Untersuchungsmethode ist wertlos, da es nur zu 99,999999 % zutreffend ist". Das ist nicht Optimismus, sondern Pragmatismus.
ice hat geschrieben:Ja, jeder kennt das Gefühl von "Freiheit" - obwohl es vielleicht nur eine Illusion ist. Das gehört für mich mit zu den Paradoxa, die sich aus einem harten Determinismus ergeben. Radikal zu Ende gedacht, folgen aus dem strengen kausalen Determinismus einige sonderbare Erkenntnisse. Wir können uns beim Leben wach, distanziert und reflektiert zuschauen. Klingt seltsam - ist es auch. Wir können gar nicht anders als einfach zu leben. Auch wenn ich mir den Determinismus wirklich bewusst machen will, ändert diese Einsicht nichts an meinem weiteren Leben. Und wenn, dann ist diese Änderung auch schon längst unausweichlich festgelegt, so meine Vermutung.

Was meinst du mit "bewusst-machen"? So wie ich das sehe, kann man kaum mehr Determinist sein als du: Du verstehst die Theorie, du hast die entspechenden Schlussfolgerungen und nimmst sie an, hast sie in Worte gekleidet - ein "bewusst-machen" im Sinne von "fühlen" ist wohl nur Gemütern vergönnt, die ihre Wahrheiten nach Befinden wählen und nicht nach Denken.
ice hat geschrieben:Wie lebt man als menschliches Wesen mit der Erkenntnis, dass die Lebenswelt unausweichlich festgelegt ist? Es gibt offensichtlich eine paradoxe Doppelnatur des Bewusstseins. Einerseits erlebe ich mich in der Lebenswelt als individuelles freies „Teilchen“, das bewusst fühlt, denkt, handelt und beobachtet. Andererseits habe ich oft das Gefühl oder die Ahnung einer deterministischen Einheit der gesamten Natur, in der alles ein abstraktes, zusammenhängendes, sich dynamisch veränderndes komplexes „Muster“ ist. Dieses Gefühl hat für mich aber nichts mit einem religiösen Glauben zu tun.

Für mich auch nicht. Ich sehe auch keinen Widerspruch in dem Empfinden, "frei" zu beobachten und zu "wissen", dass man es nicht ist. Wie gesagt halte ich die Kausalität nicht für etwas, das man "spüren" kann - unser Sinnesorgen dafür - wenn man so will - ist wohl das Gehirn selbst. Mit diesem Eindruck versuchst du wohl auszudrücken, dass du eigentlich im voraus wissen müsstest, dass du dieses und jenes im nächsten Moment beobachten würdest - aber aus den von dir genannten Gründen ist das wohl nur bis zu einem bestimmten Grad möglich. Es bleibt nur Antizipation - Wissen (wie es sich auch aus dieser Haltung ergibt) ist somit auch nur eine Illusion. Damit relativiert sich einiges und ich persönlich betrachte mich dadurch auch als eine Art Nihilist.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Mi 1. Jan 2014, 16:36

Vollbreit hat geschrieben:Womit wir schon wieder bei einer Glaubensfrage wären.


Ja, an den harten/strengen Determinismus ohne "Zufall" kann man glauben - oder auch nicht.

Vollbreit hat geschrieben:Die aktuelle Lösung sieht derzeit so aus, dass die Quanteneffekte offenbar als räumlich begrenzt angesehen werden, so dass zwar es zwar aufgeht, dass es kein relaitisches Universum gibt, was sich als mesokosmischer Effekt aber sofort verliert, weil sie statistischen Näherungen exakt und verlässlich genug sind, um weiter klassisch kausal zu denken und zu argumentieren.


Manche sprechen hier von einem stochastischen Determinismus, der in der mesokosmischen Lebenswelt trotz Quantentheorie gültig ist.


Vollbreit hat geschrieben:Es spricht aber nichts dagegen, dass ein determinierter Teil nicht umfassende Erkenntnisse haben könnte.
Determiniert zu sein, heißt ja nicht blöd zu sein.


Meinst du damit so eine Art "Laplaceschen Dämon" oder einen Menschen, der umfassende Erkenntnisse haben könnte?

Vollbreit hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Egal, welche Gedanken wir uns machen, sie sind alle Ergebnis aus unseren bisherigen Gedanken, Eindrücken, Erlebnissen, Erfahrungen, Gesprächen und unzähliger anderer Einflussfaktoren.
Aber Du hast die Möglichkeit zu Reflexionen. Warum denke ich eigentlich, was ich denke? Muss ich so denken? Gibt es prinzipiellen Denkgrenzen? Wer sagt, dass das „Ganze“ (sofern es das gibt) überhaupt denkend zu erfassen ist oder denkend erfasst werden müsste?


Reflexionen gehören für mich auch zum Denken ganz allgemein. Und solche Denkprozesse sind für mich neurobiologisch im Gehirn kodiert und unterliegen den gleichen (determinierenden) Naturgesetzen wie alles andere auch.

Vollbreit hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Der gesamte Lebensprozess ist unausweichlich festgelegt, weil alles Geschehen der Kausalität unterliegt.
Das weiß kein Mensch, viele halten Kausalität für einen plausiblen Irrtum.


Mag sein. Ich maße mir nicht an, hier die endgültige Antwort gefunden zu haben.

Vollbreit hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Auch diese Zeilen, die ich hier schreibe, sind Ergebnis einer langen Kausalkette. Alles, was ich jemals gehört, gelesen und gedacht habe, fließt in die Formulierung von diesen Sätzen.
Und das kreative Element?


Ja, Kreativität ist in der Tat etwas, das ich in mein deterministisches Denken noch nicht ganz integriert habe. Wie kommt das "Neue" in die Welt? Kann es sein, dass das "kreative Element" auf Grund der Komplexität des Gehirns einfach entsteht? Möglich wäre es, denk ich.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Mi 1. Jan 2014, 17:10

Darth Nefarius hat geschrieben:Es ist auch gar nicht nötig, etwas exakt zu beschreiben, um eine begründete Theorie aufzustellen, die allgemein anerkannt wird. Deswegen gibt es Statistiker, die deine Ergebnisse permanent überprüfen - Messfehler, Abweichungen gibt es immer und die werden auch geduldet. Naturwissenschaftler sind keine Philosophen, sondern Pragmatiker und haben damit Erfolg und sagen sich nicht "verdammt, dieses Modell/diese Untersuchungsmethode ist wertlos, da es nur zu 99,999999 % zutreffend ist". Das ist nicht Optimismus, sondern Pragmatismus.


Ich verstehe, was du meinst. Aber ich meinte den so genannten "Schmetterlingseffekt" bei nicht-linearen komplexen Systemen. Der besagt, dass schon bei minimalsten kleinen Abweichungen unvoraussagbare große Effekte auftreten können. Das gilt schon bei relativ einfachen komplexen Systemen.

Darth Nefarius hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Ja, jeder kennt das Gefühl von "Freiheit" - obwohl es vielleicht nur eine Illusion ist. Das gehört für mich mit zu den Paradoxa, die sich aus einem harten Determinismus ergeben. Radikal zu Ende gedacht, folgen aus dem strengen kausalen Determinismus einige sonderbare Erkenntnisse. Wir können uns beim Leben wach, distanziert und reflektiert zuschauen. Klingt seltsam - ist es auch. Wir können gar nicht anders als einfach zu leben. Auch wenn ich mir den Determinismus wirklich bewusst machen will, ändert diese Einsicht nichts an meinem weiteren Leben. Und wenn, dann ist diese Änderung auch schon längst unausweichlich festgelegt, so meine Vermutung.

Was meinst du mit "bewusst-machen"? So wie ich das sehe, kann man kaum mehr Determinist sein als du: Du verstehst die Theorie, du hast die entspechenden Schlussfolgerungen und nimmst sie an, hast sie in Worte gekleidet - ein "bewusst-machen" im Sinne von "fühlen" ist wohl nur Gemütern vergönnt, die ihre Wahrheiten nach Befinden wählen und nicht nach Denken.


Ich meine mit "bewusst-machen" nicht "fühlen", sondern ein ständiges reflektiertes Denken - nicht nur in Diskussionen, sondern auch im Alltag in jedem Moment. Wer das eine Zeit lang versucht, der kommt zu der oben beschriebenen Einsicht, dass der konsequente Determinismus nichts am Leben ändert. Es gibt auch keine wirklich praktischen Konsequenzen daraus, außer vielleicht die alte problematische Frage nach der "Schuld" im individuellen Leben, die es meiner Ansicht nach nicht geben kann, wenn alles determiniert ist - also auch das eigene Denken und Handeln.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Darth Nefarius » Mi 1. Jan 2014, 19:10

ice hat geschrieben:Ich verstehe, was du meinst. Aber ich meinte den so genannten "Schmetterlingseffekt" bei nicht-linearen komplexen Systemen. Der besagt, dass schon bei minimalsten kleinen Abweichungen unvoraussagbare große Effekte auftreten können. Das gilt schon bei relativ einfachen komplexen Systemen.

Das habe ich schon verstanden - dieser Effekt kann natürlich immer auftreten, das nimmt man inkauf in der Forschung und hofft quasi auf sein Glück - wobei man dennoch seine Chancen durch die exakte Beobachtung und Sicherstellung der immer gleichen Bedingungen (soweit möglich) zu bessern versucht. Natürlich kann es sein, dass dennoch eine eigentlich richtige Theorie doch nicht bestätigt wird, weil irgendeine dumme Unwägbarkeit die Forschung unterwandert hat. Wie gesagt, man "hofft" auf sein Glück, tut jedoch sein bestes, um es zu begünstigen. Mehr geht nicht und ich finde, dass es doch ausreicht, um handlungsfähig zu bleiben - denn durch die Unwägbarkeiten gleich zu resignieren scheint mir auch keine Alternative zu sein.
ice hat geschrieben:Ich meine mit "bewusst-machen" nicht "fühlen", sondern ein ständiges reflektiertes Denken - nicht nur in Diskussionen, sondern auch im Alltag in jedem Moment. Wer das eine Zeit lang versucht, der kommt zu der oben beschriebenen Einsicht, dass der konsequente Determinismus nichts am Leben ändert. Es gibt auch keine wirklich praktischen Konsequenzen daraus, außer vielleicht die alte problematische Frage nach der "Schuld" im individuellen Leben, die es meiner Ansicht nach nicht geben kann, wenn alles determiniert ist - also auch das eigene Denken und Handeln.

Verstehe - ja, dem stimme ich weitestgehend zu. Natürlich beeinflusst aber auch diese Philosophie wie jede andere dein Leben - von hartem Determinismus auszugehen, bedeutet auch an alltägliche Situationen doch mit einem anderen Blick heranzutreten: Wie gehst du mit einem schlechten Tag um, an dem dir nichts gelingt? Glaubst du, es sei die Strafe Gottes, oder ist dir klar, dass einige Unwägbakeiten zusammengekommen sind und morgen schon alles anders aussehen kann? Wie sieht deine Lebensplanung aus? Meinst du, dass sich alles schon zum Besten wenden wird, oder ist dir klar, dass hinter Wohlstand und Glück auch Arbeit stecken muss? Viele andere Beispele könnten genannt werden - je konkreter die Situation, desto gravierender kann diese Einstellung die Entscheidungen und die Einschätzungen der Situationen beeinflussen.
Die Frage nach der Schuld wirft da ein besonderes Kapitel auf, welches auch stark den Alltag beeinflusst: Ethik und Moral. Jedes dieser Konzepte setzt den freien Willen voraus, aber existiert dieser, wenn alles determiniert ist? Sind Ethik und Moral nicht auch Illusionen, wenn diese eine Prämisse nicht existiert? Auch von dieser Seite findet sich kein Hinweis auf eine Existenz von Gut und Böse (neben der Leugnung einer transzendenten, moralischen Instanz wie einer Gottheit oder einer übergeordneten Gerechtigkeit, die auch ein metaphysisches Gebilde ist).
Aber ich denke, dass wohl wir beide nicht sonderlich durch diese doch seltenen Positionen auf den ersten Blick auffallen oder uns asozialer benehmen - es gibt schließlich noch andere (wesentlich bessere) Gründe, um sich nicht wie die Axt im Walde zu verhalten.
Ein Zusatz zur Kreativität: Ich denke nicht, dass sie bedeutet, man würde etwas völlig neues erschaffen - oft ist es ein unorthodoxer Umgang mit bereits gestehenden Informationen - eine verfeinerte Art zu abstrahieren, Gesetzesmäßigkeiten, Probleme, Lösungen, ungewöhnliche Assoziationen und anderes so verallgemeinern und neu anwenden zu können, dass tatsächlich etwas neues entsteht. Erwähnenswert ist hierbei natürlich die Evolution (obgleich sie nicht aus einem solchen Denkprozess entstammt) erwähnenswert, bei der neue Gliedmaßen, Organe, Enzyme durch leichte Variation des bereits Bestehenden entstanden - insofern wäre dieser Prozess vergleichbar mit kreativem Denken.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ujmp » Mi 1. Jan 2014, 20:16

ice hat geschrieben:Mich würde interessieren, ob diese Art von deterministischer Weltsicht hier irgendwer teilt und wenn nicht, warum er es nicht tut. Außerdem wäre ich dankbar für Links oder Literaturhinweise auf Bücher, die sich mit dieser allgemeinen Art von atheistischem Determinismus beziehen (ich habe bei meinen Recherchen wenig bis gar nichts Aktuelles darüber gefunden - außer Literatur von Neurobiologen wie Roth, Singer und anderer, die den freien Willen auf Grund neuester Erkenntnisse der Hirnforschung in Frage stellen, was ja diese Art von deterministischer Weltsicht nur bestätigt...)

Eine Alternative wären Karl Poppers "Popensitäten", eine Idee die er in "Eine Welt der Propensitäten" leicht verdaulich darstellt. Das ist so eine Art Indeterminsimus. Ein Gegenstand fällt nicht, weil dies durch die Gravitation determiniert ist, sondern weil er in der speziellen Anordnung zur Erde die Neigung (=Propensität) hat dies zu tun. In diesem Fall - wie bei allen Naturgesetzen der klassischen Mechanik - ist diese Propensität=1. Das ist so etwas ähnliches wie Wahrscheinlichkeit. Die wird aber nicht geschätzt, sondern gemessen (gezählt), hat also nichts mit Bayesianismus zu tun. Es ist eine "objektive Wahrscheinlichkeit". Interessant wird das Konzept, wo die Propensität <1 ist. Z.B. wenn man eine Münze wirft. Ein Determinist würde sagen, dass der Fall der Münze zu jedem Zeitpunkt feststeht, also determiniert ist. Popper würde - vorausgesetzt ich hab's richtig verstanden- sagen: Die Münze hat in der Versuchsanordnung "Münzwurf- Gravitation-Tischplatte" die Neigung von 0.5 auf "Kopf" zu landen. Wenn man statt Tischplatte z.B. "Butter bei Zimmertemperatur" hernimmt, würde die Propensität von "Kopf" < 0.5 sein, da die Münze ja auch Senkrecht in der Butter steckenbleiben könnte. Wirft man die Münze dagegen im Weltall in der Schwerelosigkeit, sieht es wieder anders aus. Das betont, dass eine Propensität von ihrem physikalischen Kontext abhängt (dem "Versuchsaufbau"). Eine Propensität ist in diesem Sinne so fast etwas wie ein "Kraft". Das klingt erst mal komisch, weil wir uns unter Kraft in der Physik gewohnheitsmäßig etwas anderes vorstellen. Man muss sich aber vergegenwärtigen, dass das Wort "Kraft" eigentlich auch nur eine anthropomorphe Metapher für einen simplen mathematischen Sachverhalt darstellt, der halt einen intuitiven Namen brauchte - so hat ihn Newton (oder wer) "Force" genannt. Wenn ich es korrekt erinnere, war das Poppers Lösungsvorschlag für einige quantenmechanische Effekte, die sich ansonsten nur noch in Begriffen der Statistik beschreiben lassen. Er weicht damit irgendwie der deterministischen Frage nach dem "Warum" aus und begnügt sich damit, Fragen zu beantworten "wie" etwas ist.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Mi 1. Jan 2014, 21:35

Darth Nefarius hat geschrieben:...Wie gesagt, man "hofft" auf sein Glück, tut jedoch sein bestes, um es zu begünstigen. Mehr geht nicht und ich finde, dass es doch ausreicht, um handlungsfähig zu bleiben - denn durch die Unwägbarkeiten gleich zu resignieren scheint mir auch keine Alternative zu sein.


Nein, ich resigniere nicht, sondern stelle nur fest, dass es (dynamische und komplexe) Systeme gibt, wo es prinzipiell (theoretisch) und praktisch unmöglich ist, mathematische Modelle zu erstellen und eine sinnvolle Datenbasis zu generieren. Um beim Beispiel "Wetter" zu bleiben: es ist sinnlos, noch mehr Messstationen aufzustellen, weil die Prognose deshalb nicht langfristiger werden kann. Beim "System Mensch" und den menschlichen "Großsystemen" wie Politik, Wirtschaft und Technik ist es geradezu aussichtslos, irgendetwas mittel- bis langfristig auf Grund von mathematischen Berechnungen vorhersagen zu wollen. Das geht einfach nicht - hat aber nichts mit Resignation zu tun.

Darth Nefarius hat geschrieben:Natürlich beeinflusst aber auch diese Philosophie wie jede andere dein Leben - von hartem Determinismus auszugehen, bedeutet auch an alltägliche Situationen doch mit einem anderen Blick heranzutreten:...


Ja, wobei der "andere Blick" auch wieder determiniert ist auf Grund der eigenen Lebensgeschichte, die ja auch eine lange unüberschaubare Kausalkette ist. Es gibt für jede bewusste Entscheidung, ob richtig/falsch, gut/böse oder moralisch/unmoralisch, bestimmte Beweggründe, also Motive, Wünsche, Überzeugungen, Neigungen und Umstände, die alle natürlichen Gesetzen gehorchen - auch wenn wir scheinbar inne halten, wohl überlegt beurteilen, reflektieren und abwägen vor einer Entscheidung. Denn auch bewusste Gedanken, Überlegungen und Reflexionen spielen sich nicht irgendwo im luftleeren Raum ab, sondern sind im Gehirn neurobiologisch kodiert und festgelegt durch unzählige Einflussfaktoren: Gene, frühkindliche Prägung, Erziehung, Ausbildung, Charakter, Gedächtnis, Unbewusstes, soziales Umfeld, kulturelle Normen, Traditionen, Gespräche, Diskussionen, Medienkonsum und viele andere.
Daraus folgt für mich, dass es keinen freien Willen geben kann, weil jeder Mensch untrennbarer Teil der determinierten Welt ist und nicht außerhalb stehen kann.

Darth Nefarius hat geschrieben:Die Frage nach der Schuld wirft da ein besonderes Kapitel auf, welches auch stark den Alltag beeinflusst: Ethik und Moral. Jedes dieser Konzepte setzt den freien Willen voraus, aber existiert dieser, wenn alles determiniert ist? Sind Ethik und Moral nicht auch Illusionen, wenn diese eine Prämisse nicht existiert?


Ja, Ethik und Moral sind stark abhängig von der eigenen Lebensgeschichte (wie oben beschrieben). Manche Menschen beschäftigen sich in ihrem Leben mit ethischen Fragen und bemühen sich danach zu handeln, weil das durch unzählige Einflussfaktoren eben in ihrer Lebensgeschichte festgelegt ist. Manche tun das nicht. In letzter Konsequenz kann keiner etwas dafür, wie er lebt, denkt, fühlt und handelt.

Das gilt natürlich folgerichtig auch für Mörder, Vergewaltiger, Diebe, Einbrecher, Betrüger, Erpresser, Entführer und andere Straftäter. Wie geht man am besten mit diesen Menschen in der Gesellschaft um? Die einzige Lösung kann nur sein, dass man die Mitglieder einer Gesellschaft vor diesen Straftäter schützt, weil selbstverständlich keiner ermordet, vergewaltigt, bestohlen, betrogen, erpresst oder entführt werden will. Gefängnis und Therapie für den Straftäter sind die nahe liegende „Strafe“. Aber auf keinen Fall dürfen sie „schuldig“ gesprochen werden im herkömmlichen moralischen Sinn, weil sie im Moment der Straftat nicht frei entscheiden konnten, sondern von unzähligen Einflussfaktoren determiniert waren und ihre Lebensgeschichte eine lange Kausalkette ist, die genau zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Straftat geführt hat. Sie können daher nicht moralisch verantwortlich gemacht werden für ihre Tat. Die gesellschaftliche Verantwortung bleibt allerdings, weil es gemeinsam geschaffene ethische Regeln und Gesetze geben muss, die ein gutes und friedvolles Zusammenleben zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglichen sollen.

Darth Nefarius hat geschrieben:Ein Zusatz zur Kreativität: Ich denke nicht, dass sie bedeutet, man würde etwas völlig neues erschaffen - oft ist es ein unorthodoxer Umgang mit bereits gestehenden Informationen - eine verfeinerte Art zu abstrahieren, Gesetzesmäßigkeiten, Probleme, Lösungen, ungewöhnliche Assoziationen und anderes so verallgemeinern und neu anwenden zu können, dass tatsächlich etwas neues entsteht. Erwähnenswert ist hierbei natürlich die Evolution (obgleich sie nicht aus einem solchen Denkprozess entstammt) erwähnenswert, bei der neue Gliedmaßen, Organe, Enzyme durch leichte Variation des bereits Bestehenden entstanden - insofern wäre dieser Prozess vergleichbar mit kreativem Denken.


Ja, so sehe ich das auch.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Darth Nefarius » Mi 1. Jan 2014, 21:48

ujmp hat geschrieben:Eine Alternative wären Karl Poppers "Popensitäten", eine Idee die er in "Eine Welt der Propensitäten" leicht verdaulich darstellt. Das ist so eine Art Indeterminsimus. Ein Gegenstand fällt nicht, weil dies durch die Gravitation determiniert ist, sondern weil er in der speziellen Anordnung zur Erde die Neigung (=Propensität) hat dies zu tun. In diesem Fall - wie bei allen Naturgesetzen der klassischen Mechanik - ist diese Propensität=1. Das ist so etwas ähnliches wie Wahrscheinlichkeit. [...] Wenn ich es korrekt erinnere, war das Poppers Lösungsvorschlag für einige quantenmechanische Effekte, die sich ansonsten nur noch in Begriffen der Statistik beschreiben lassen. Er weicht damit irgendwie der deterministischen Frage nach dem "Warum" aus und begnügt sich damit, Fragen zu beantworten "wie" etwas ist.

Die Semantik der Physik aufgrund von philosophischen Animositäten zu revidieren, wird sich nie durchsetzen. Für jedes physikalische Modell wird eine Wahrscheinlichkeit von 100 % für die entsprechend angewandte Formel (also die dadurch beschriebene Bewegung oder das Ergeignis oder den Zustand) vorausgesetzt. Man unterscheidet zwischen der als gesetzesmäßig erkannten Situation und der Wahrscheinlichkeit, dass diese eintritt sowieso - aber in anderen Kontexten. Einem Philosophen sollte man keine Physik überlassen - mich überrascht auch, dass sich einer seit den Griechen überhaupt getraut hat, einen "Beitrag" zu leisten (die konnten es damals wenigstens).
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Mi 1. Jan 2014, 22:05

ujmp hat geschrieben:Eine Alternative wären Karl Poppers "Propensitäten", eine Idee die er in "Eine Welt der Propensitäten" leicht verdaulich darstellt. Das ist so eine Art Indeterminsimus.


Ich kenne Karl Popper einwenig und bin mit dem Großteil seiner Theorien vertraut. Nur in dieser Angelegenheit bin ich anderer Ansicht als er. Er hat zwar den wissenschaftlichen Determinismus zu Recht widerlegt, der besagt, dass es einen "Laplaceschen Dämon" geben kann. Aber ich trete für einen philosophischen Determinismus ein, den man zwar nicht beweisen/widerlegen kann, aber der für mich plausibel ist, wenn man die Kausalität ernst nimmt.

ujmp hat geschrieben:...Wenn ich es korrekt erinnere, war das Poppers Lösungsvorschlag für einige quantenmechanische Effekte, die sich ansonsten nur noch in Begriffen der Statistik beschreiben lassen. Er weicht damit irgendwie der deterministischen Frage nach dem "Warum" aus und begnügt sich damit, Fragen zu beantworten "wie" etwas ist.


Ich halte sehr viel von Karl Popper (er war einer der ersten Philosophen, mit denen ich mich näher beschäftigte und habe ihn sogar noch live in Wien bei einem Symposium erlebt) - stehe aber dem Determinismus näher als dem Indeterminismus. Nur der quantenmechanische objektive "Zufall" weicht meinen harten Determinismus etwas auf...
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Darth Nefarius » Mi 1. Jan 2014, 22:20

ice hat geschrieben:Nein, ich resigniere nicht, sondern stelle nur fest, dass es (dynamische und komplexe) Systeme gibt, wo es prinzipiell (theoretisch) und praktisch unmöglich ist, mathematische Modelle zu erstellen und eine sinnvolle Datenbasis zu generieren. Um beim Beispiel "Wetter" zu bleiben: es ist sinnlos, noch mehr Messstationen aufzustellen, weil die Prognose deshalb nicht langfristiger werden kann. Beim "System Mensch" und den menschlichen "Großsystemen" wie Politik, Wirtschaft und Technik ist es geradezu aussichtslos, irgendetwas mittel- bis langfristig auf Grund von mathematischen Berechnungen vorhersagen zu wollen. Das geht einfach nicht - hat aber nichts mit Resignation zu tun.

Diese Systeme sind tatsächlich sehr komplex - aber keineswegs die einzigen, die Betrachtung verdienen. In den Naturwissenschaften gibt es praktisch und theoretisch mathematische Modelle, die eine sinnvolle Datenbasis generieren, auch wenn sie stets verfeinert werden und auch von den Messgeräten abhängen. Auch diese dynamischen und komplexen Systeme sind nicht fehlerfrei beschrieben und setzen abgeschlossene Systeme voraus, die nicht existieren. Ich arbeite z.Bsp. gerade an Messdaten aus einem Praktikum, die die Konzentration von Calcium in einer bestimmten Zelllinie beschreiben, die sich durch Zugabe von verschiedenen Substanzen beeinflussen lässt - das klingt auch nicht gerade simpel, oder? Und wenn doch, kann ich dir ja die Eckpunkte der Theorie des CICR und SOCE erklären, sowie die Signaltransduktionswege. Dennoch wird die biologische Aktivität der Substanzen untersucht und kann vielleicht sogar irgendwann in der Medizin Verwendung finden. Und obwohl die biologische Aktivität eine vergleichsweise schlechte Annäherung an die Wirklichkeit ist und man relative Faktoren dem Molekulargewischt und der Löslichkeit in einer Formel zuordnet, ist das die gängige Methode, um Wirkstoffe zu beschreiben oder ihre Wirkung vorherzusagen. Es ist also sehr wohl möglich, mathematische Modelle zu erstellen, die eine sinnvolle Datenbasis generieren (auch wenn sie nicht unbedingt exakt sind).
ice hat geschrieben:[...]
Daraus folgt für mich, dass es keinen freien Willen geben kann, weil jeder Mensch untrennbarer Teil der determinierten Welt ist und nicht außerhalb stehen kann.

Stimme zu.
ice hat geschrieben:Ja, Ethik und Moral sind stark abhängig von der eigenen Lebensgeschichte (wie oben beschrieben). Manche Menschen beschäftigen sich in ihrem Leben mit ethischen Fragen und bemühen sich danach zu handeln, weil das durch unzählige Einflussfaktoren eben in ihrer Lebensgeschichte festgelegt ist. Manche tun das nicht. In letzter Konsequenz kann keiner etwas dafür, wie er lebt, denkt, fühlt und handelt.

Das gilt natürlich folgerichtig auch für Mörder, Vergewaltiger, Diebe, Einbrecher, Betrüger, Erpresser, Entführer und andere Straftäter. Wie geht man am besten mit diesen Menschen in der Gesellschaft um? Die einzige Lösung kann nur sein, dass man die Mitglieder einer Gesellschaft vor diesen Straftäter schützt, weil selbstverständlich keiner ermordet, vergewaltigt, bestohlen, betrogen, erpresst oder entführt werden will. Gefängnis und Therapie für den Straftäter sind die nahe liegende „Strafe“. Aber auf keinen Fall dürfen sie „schuldig“ gesprochen werden im herkömmlichen moralischen Sinn, weil sie im Moment der Straftat nicht frei entscheiden konnten, sondern von unzähligen Einflussfaktoren determiniert waren und ihre Lebensgeschichte eine lange Kausalkette ist, die genau zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Straftat geführt hat. Sie können daher nicht moralisch verantwortlich gemacht werden für ihre Tat. Die gesellschaftliche Verantwortung bleibt allerdings, weil es gemeinsam geschaffene ethische Regeln und Gesetze geben muss, die ein gutes und friedvolles Zusammenleben zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglichen sollen.

Die Bestrafung der Verbrecher ist jedoch ein Handeln aus Eigennutz, aus dem Verlangen, sich zu schützen oder Verbrecher zu bestrafen- das scheint mir keine moralische Motivation zu sein. Notwendig und angebracht ist eine gesellschaftliche Ordnung allemal, sie erfolgt jedoch nur aufgrund von Nützlichkeitserwägungen des Kollektivs und/oder des Individuums - Ein Verlangen wird durch die Moralisierung zum "Recht" geadelt, das ist völlig unnötig und hat nichts mit Moral oder Ethik zu tun. Keiner hat irgendein Recht, bis er es nicht verlangt, es sich nimmt und zum Recht erklärt. Du wirst hier im Forum auf Leute stoßen, die behaupten, dass sie das "Recht" hätten, keine Steuern zu zahlen oder den Staat zu stützen, du wirst wieder andere finden, die dem Staat jedes Recht absprechen usw.. Ein "Sollen" existiert nur durch die Naturgesetze, nicht durch normative Entscheidungen.
Regeln und Gesetze sind eigentlich nur Vorschläge; sie sind zwar oft nützlich, aber nicht bindend, da sie nicht die einzige oder vielleicht sogar wichtigste Ursache einer Wirkung/Handlung innerhalb darstellen. Ihr Konzept ist fehlerhaft, da es die relevanten Ursachen für Entscheidungen - die Triebe und die egoistische Natur des Menschen - ignoriert, von der menschlichen Entscheidungsfindung trennt oder sogar verbietet (besonders bei Kant und seinen "Handlungen aus Pflicht" zu beobachten - der Wille scheint eine sphärische Eigenheit zu sein, die keinen natürlichen Ursprung bei ihm hat - für jeden Biologen, der ein bisschen was von Verhaltensforschung versteht, Unsinn ist).
Fakt ist, dass die meisten nicht ihre Gesetzestreue aufgrund ihrer Moral und Ethik befolgen, sondern einfach nicht die Strafe für Zuwiderhandlung provozieren wollen, oder keine Motivation zum Gesetzesbruch haben. Diejenigen, die tun wollen, was dem Gesetz widerspricht, tun es auch mit der Überhöhung durch Moral und Ethik, diejenigen, die harmlos sind, werden nicht dadurch schädlich, dass Gesetze und Regeln als das bezeichnet werden, was sie sind: Vorschläge.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Dissidenkt » Mi 1. Jan 2014, 23:52

Hallo Ice,

im Großen und Ganzen sehe ich das genau wie du. Aus philosophischen, wissenschaftlichen und logischen Gründen, kann unsere Existenz nur auf hartem Determinismus beruhen.
viewtopic.php?f=5&t=3362

In 2 Punkten möchte ich aber widersprechen!

Der Erste ist die Frage nach dem Sinn des Lebens, die sich automatisch stellt, wenn man sich bewusst wird, dass alles determiniert ist:

ice hat geschrieben:Eine weitere Vermutung ist:
Die Evolution dieser komplexen dynamischen Lebenswelt beruht auf keinem Plan und keiner Absicht, hat keinen übergeordneten Zweck und kein endgültiges Ziel. Sie hat keine tiefere Bedeutung und keinen höheren Sinn. Sie läuft einfach determiniert ab. Gleichzeitig, unausweichlich und überall auf dem Planeten Erde.



Aus der Erkenntnis, dass unsere Existenz determiniert ist, kann man nicht ableiten, dass diese Existenz keinen höheren Sinn hat, dass ihr kein Plan zugrunde liegt oder dass sie nicht auf ein Ziel hinaus läuft. Ich denke du kommst zu deiner Ansicht, weil du die Existenz eines Schöpfers ausschliessen möchtest, dadurch beschränkst du dich aber in deiner gedanklichen Freiheit, denn Sinn oder "Plan" kann es auch ohne einen Schöpfer hinter den Dingen geben.

Ich vermute die Abneigung gegen einen Sinn kommt daher, weil du dich als Atheist siehst. Wer sich als Atheist sieht, bezieht sich aber paradoxerweise dezidiert in seiner Selbsteinschätzung auf Gottesglauben und Religion, auch wenn er das in der Form der Negation tut. Der Atheist definiert sich also als etwas, was er nicht ist. Das impliziert die Gefahr einer Einschränkung der eigenen Gedanken, aus denen er alles Religiöse zu verdrängen sucht - bewusst oder unbewusst.
Ich würde dir raten dich nicht darüber zu definieren, was du nicht bist (Atheist, Nichtgläubiger), sondern - wenn übehaupt - eher darüber was du bist, also zB Naturalist. Allerdings wird auch diese selbstgegebene Schublade möglicherweise deine Gedanken einschränken.

Gibt es einen Sinn unserer Existenz?

Die Antwort steht und fällt nicht mit dem für unsere Existenz unausweichlichen Determinismus.
Um die Frage nach dem Sinn zu beantworten, sollte man sich andere Aspekte unserer Existenz anschauen.
1. Was ist Raum?
2. Was ist Zeit?
3. Was geschieht in Zeit und Raum?

Wenn du die Geschichte des Universums, die Geschichte unseres Planeten und deine eigene Geschichte betrachtest, wirst du überall ein grundlegendes Schema erkennen und das ist: Entwicklung. Das Universum hat eine Genese, die zur Entstehung der Erde führte, die Erde hatte eine Genese, die zur Entstehung des Lebens führte, das Leben hat eine Genese, die zu einem die Genese reflektierenden Bewusstsein führte und du hast eine persönliche Genese, die zu deinem hier und jetzt führte.

Wenn man also auf all diese Entwicklungen schaut, ist es doch nur naheliegend, Entwicklung als Sinn der Existenz zu begreifen.
Natürlich muss man das nicht tun. Die meisten tun es sicherlich nicht, sondern suchen sich aus Unwissenheit und fehlender Refektion anderen Lebensssinn, wie Familie, Erfolg, Selbstverwirklichung, Sport,etc. Aber beim Blick auf das große Ganze, wenn man sich von der Bedeutung der eigenen Existenz lösen kann, dann ist die Erkenntnis, dass Entwicklung ein Grundprinzip aller Existenz ist, durchaus plausibel und es ist deshalb nur folgerichtig, diese als eigentlichen Sinn des großen Ganzen zu erkennen.

Warum es sinnvoll ist, Entwicklung als Sinn der Existenz anzunehmen, erkläre ich im zweiten Punkt, in dem ich dir widersprechen möchte:

ice hat geschrieben:Für mich ist die Determinismusfrage sehr spannend und interessant, obwohl mir bewusst ist, dass sie - radikal zu Ende gedacht - keine praktischen Erkenntnisse vermitteln und auch zu keinen Konsequenzen führen kann.


Die Erkenntnis, dass alles determiniert ist, kann durchaus zu neuen Erkenntnissen und damit zu Konsequenzen führen.
Zum einen ist da die Frage, wie wir anderen Menschen gegenüber treten. Wer an die "Freiheit" des Menschen glaubt, sich jederzeit bewusst für dies und das (und damit auch für das sogenannte "Gute") entscheiden zu können, hat ein vollkommen anderes Menschenbild, als jemand, dem klar ist, dass wir alle nur so handeln können, wie wir tatsächlich handeln.

Beispiel:
A bezeichnet B als Idiot.
B wird sich beleidigt und angegriffen fühlen, weil er A eine bösartige Intention unterstellt.
Es kommt zur Konfrontation/Eskalation. Einer oder beide nehmen Schaden.

Anders wäre es, wenn B genau weiss, dass A gar nicht anders kann, als so etwas zu sagen, zB. weil A selbst ein primitiver Mensch ist, der sich nicht kultiviert ausdrücken kann oder weil er eine zwanghafte Veranlagung hat, weil er gerade gereizt ist, weil seine Frau weggelaufen ist oder weil er einen Tumor hat. In jedem dieser Fälle wird B über die "Beleidigung" hinwegschauen können, weil A eine Entschuldigung hat.
Genauso ist es, wenn ich generell weiss, dass Menschen determiniert sind und gar nicht anders können, als sie es gerade tun.
Hätten alle Menschen diese Sichtweise tatsächlich verinnerlicht, würde das den Umgang der Menschen untereinander erheblich verändern - und zwar positiv.

Zur Frage, warum es sinnvoll ist, Entwicklung als Sinn der Existenz anzunehmen, möchte ich, dass du dir vorstellst, was wäre, wenn alle Menschen, die heutzutage viel Zeit in andere Dinge investieren, ihre Zeit in die persönliche Entwicklung investieren würden, weil sie darin den Sinn von Existenz im Ganzen erkannt haben und deshalb Entwicklung auch zum Sinn ihrer persönlichen Existenz gemacht haben.

Ich denke, in der Erkenntnis der Determiniertheit und damit unserer Unfreiheit, steckt tatsächlich sogar eine große Chance, nämlich die, eines neues Menschen- und Weltbilds, frei von religiösen Mythen und ihren negativen Folgeerscheinungen.
Die Erkenntnis der eigenen Unfreiheit kann sogar zu mehr persönlicher Freiheit führen, nämlich dadurch, dass ich mir meine eigenen Unfreiheiten bewusst mache und gezielt daran arbeite. Das können sowohl psychische Zwänge sein, als auch physische oder gesellschaftliche. Die Erkenntnis der eigenen Unfreiheit ist somit der erste Schritt zur eigenen Befreiung.
Wer das verstanden hat, dem ist auch klar, dass ein undeterminiertes Selbst alles andere, als erstrebenswert wäre.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Do 2. Jan 2014, 11:03

Darth Nefarius hat geschrieben:In den Naturwissenschaften gibt es praktisch und theoretisch mathematische Modelle, die eine sinnvolle Datenbasis generieren, auch wenn sie stets verfeinert werden und auch von den Messgeräten abhängen. ... Es ist also sehr wohl möglich, mathematische Modelle zu erstellen, die eine sinnvolle Datenbasis generieren (auch wenn sie nicht unbedingt exakt sind).


Okay, stimme zu. Die naturwissenschaftliche Methode ist die beste Methode, die wir haben, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Darth Nefarius hat geschrieben:Die Bestrafung der Verbrecher ist jedoch ein Handeln aus Eigennutz, aus dem Verlangen, sich zu schützen oder Verbrecher zu bestrafen- das scheint mir keine moralische Motivation zu sein. Notwendig und angebracht ist eine gesellschaftliche Ordnung allemal, sie erfolgt jedoch nur aufgrund von Nützlichkeitserwägungen des Kollektivs und/oder des Individuums -


Ja, das wollte ich ausdrücken. Eigennutzdenken ist ein sehr starker Antrieb für unser individuelles/kollektives Handeln und wird sehr oft unterschätzt. Wir können gar nicht anders, als so zu handeln, weil wir diese Verhaltensmuster evolutionsbiologisch mitbekommen haben. Andererseits haben wir auch so Fähigkeiten wie Empathie entwickelt, die das Zusammenleben in Gruppen bereichern können. Manche Menschen können aus sehr starken Motiven heraus ihren natürlichen Egoismus irgendwie überwinden. Aber auch diese Motive sind aus ihrer determinierten Lebensgeschichte verständlich und erklärbar.

Darth Nefarius hat geschrieben:Fakt ist, dass die meisten nicht ihre Gesetzestreue aufgrund ihrer Moral und Ethik befolgen, sondern einfach nicht die Strafe für Zuwiderhandlung provozieren wollen, oder keine Motivation zum Gesetzesbruch haben. Diejenigen, die tun wollen, was dem Gesetz widerspricht, tun es auch mit der Überhöhung durch Moral und Ethik, diejenigen, die harmlos sind, werden nicht dadurch schädlich, dass Gesetze und Regeln als das bezeichnet werden, was sie sind: Vorschläge.


Ja, stimme zu - wobei die Gesetze und Regeln - also diese Vorschläge - immer wieder neu verhandelt werden (müssen).
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Vollbreit » Do 2. Jan 2014, 11:05

ice hat geschrieben:Manche sprechen hier von einem stochastischen Determinismus, der in der mesokosmischen Lebenswelt trotz Quantentheorie gültig ist.

Ja, da meine wir wohl beide dasselbe.


ice hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Es spricht aber nichts dagegen, dass ein determinierter Teil nicht umfassende Erkenntnisse haben könnte.
Determiniert zu sein, heißt ja nicht blöd zu sein.


Meinst du damit so eine Art "Laplaceschen Dämon" oder einen Menschen, der umfassende Erkenntnisse haben könnte?

Nein, das sind wieder zwei getrennte Dinge. Den Laplaceschen Dämon kann es prinzipiell nicht geben.
Determinismus und Erkenntnis schränken sich nicht in der Weise ein, dass man sagen könnte, je determinierter desto weniger erkennisfähig.
Und was es überhaupt bedeutet determiniert zu sein, ist seit längerem auch eine Frage, der u.a. Brigitte Falkenburg nachgegangen ist.

ice hat geschrieben:Reflexionen gehören für mich auch zum Denken ganz allgemein. Und solche Denkprozesse sind für mich neurobiologisch im Gehirn kodiert und unterliegen den gleichen (determinierenden) Naturgesetzen wie alles andere auch.
Und warum soll das einschränken? Das wir zur Kreativität fähig sind steht nun außer Zweifel, sogar empirisch:
Robert Brandom hat geschrieben:„Frege beginnt eine seiner späteren Arbeiten mit folgender Antwort: „Erstaunlich ist, was die Sprache leistet, indem sie mit wenigen Silben unübersehbar viele Gedanken ausdrückt, dass sie sogar für einen Gedanken, den nun zum ersten Male ein Erdenbürger gefasst hat, eine Einkleidung findet, in der ihn ein anderer erkennen kann, dem er ganz neu ist. Dies wäre nicht möglich, wenn wir in dem Gedanken nicht Teile unterscheiden könnten, denen Satzteile entsprächen.“ Die Fähigkeit, eine unbegrenzte Zahl neuer Sätze zu bilden und zu verstehen, ist ein verblüffendes und wesentliches Merkmal sprachlicher Praxis. Chomsky hat darauf hingewiesen, dass eine solche Kreativität die Regel und nicht die Ausnahme ist. Fast jeder Satz, den ein Erwachsener in seiner Muttersprache äußert, wird zum ersten Mal geäußert – nicht bloß von diesem Sprecher, sondern zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit. Dieser hohe Anteil von sentential Neuem zeigt sich in Untersuchungen empirisch aufgezeichneter Gespräche und wird auf Grundlage von Statistiken evident, wenn man die Anzahl der Sätze von bis zu 30 Wörtern mit der Anzahl vergleicht, die deutsche Sprecher bisher äußern konnten, selbst wenn sie ständig nur redeten. „Bitte reich mir das Salz“ kommt wohl häufig dran, aber es ist außerordentlich unwahrscheinlich, dass z.B. ein zufällig aus dem vorliegenden Buch ausgewählter Satz schon einmal niedergeschrieben oder sonstwie geäußert worden ist. Es wird oft darauf hingewiesen, dass der einzelne Sprecher beim Einüben mit richtigen Verwendungen verhätnismäßig weniger Sätze konfrontiert wird und auf dieser Grundlage irgendwie zur praktischen responsiven und produktiven Beherrschung der Richtigkeiten der Praxis für eine viel größere (unbeschränkte) Anzahl gelangen muss. Die Möglichkeit, den richtigen Gebrauch vieler Sätze aus dem einiger weniger zu extrapolieren, muss aber nicht nur von Theorien des Sprachlernens der Individuen erklärt werden. Denn es geht nicht bloß darum, wie man das Kunststück fertigbringt (praktische linguistische Kompetenz zu erwerben), sondern auch, worin das Kunststück eigentlich besteht, was als Vollführen des Kunststücks gilt. Wie schon bemerkt, hat die gesamte Sprachgemeinschaft – im Sinne maximal inklusiver, nichtzeitlicher Kriterien der Mitgliedschaft – erst eine Menge von Sätzen (als richtig) gebildet oder (als richtig) beurteilt, die im Vergleich zu der Menge der Sätze, für die sich schon den richtigen Gebrauch irgendwie bestimmt haben muss, relativ klein ist. Wenn es richtige und unrichtige Verwendungsweisen von Sätzen gibt, die noch nie jemand gebraucht hat, muss es eine Art Extrapolation geben.“
(Brandom, Expressive Vernunft, 1994, dt. Suhrkamp 2000, S.518f)


ice hat geschrieben:Ja, Kreativität ist in der Tat etwas, das ich in mein deterministisches Denken noch nicht ganz integriert habe. Wie kommt das "Neue" in die Welt? Kann es sein, dass das "kreative Element" auf Grund der Komplexität des Gehirns einfach entsteht? Möglich wäre es, denk ich.
Klar, Kreativität ist nicht methodisch zu erzwingen. Man weiß im Grunde gar nicht was da passiert, außer, dass man aus gewohnten Mustern ausbricht. Warum manches genial und manches ein Rohrkrepier ist, das weiß keiner.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Do 2. Jan 2014, 12:00

Dissidenkt hat geschrieben:Aus der Erkenntnis, dass unsere Existenz determiniert ist, kann man nicht ableiten, dass diese Existenz keinen höheren Sinn hat, dass ihr kein Plan zugrunde liegt oder dass sie nicht auf ein Ziel hinaus läuft. Ich denke du kommst zu deiner Ansicht, weil du die Existenz eines Schöpfers ausschliessen möchtest, dadurch beschränkst du dich aber in deiner gedanklichen Freiheit, denn Sinn oder "Plan" kann es auch ohne einen Schöpfer hinter den Dingen geben.


Nur individuelle Menschen und Gruppen von Menschen - und andere höhere Lebewesen - haben Pläne, Absichten, Ziele und machen Fortschritte - und produzieren Dinge, die für sie einen Zweck oder Sinn haben. Wir sind in unserem Alltag umgeben mit Dingen, die alle einen Zweck und meist auch einen Sinn haben.
Ich wohne zum Beispiel in einem Haus, trage Kleidung, sitze auf einem Stuhl, schreibe auf einem Computer, telefoniere mit einem Handy und fahre mit einem Fahrrad, Zug oder Auto. Die Natur selbst haben wir in dicht besiedelten Gebieten für unsere Zwecke nutzbar gemacht. Wir legen Äcker, Parks und Gärten an. Einige Gebiete erklären wir zu schützenswerten Erholungsgebiete und Naturdenkmälern. Andere Gebiete beuten wir aus. Alles Dinge, die von Menschen gemacht werden für einen bestimmten Zweck. Das ist offensichtlich - ja fast trivial.

Dieses menschliche Zweckdenken verleitet aber viele dazu, auch diesem determinierten Lebensprozess, also der Evolution oder der Welt als Ganzes einen Zweck zu unterstellen. Das geht meiner Ansicht nach zu weit.
Ein Haus wird vor dem Bau geplant, Kleidung mit der Absicht hergestellt, uns zu schützen, zu wärmen oder zu schmücken. Ein Stuhl wird mit dem Ziel produziert, darauf bequem sitzen zu können. Computer, Handy, Fahrrad, Zug und Auto sind Produkte des technischen Fortschritts. Diese Beispiele zeigen, dass wir von Plänen, Absichten, Zielen und Fortschritt umgeben sind. Die absichtliche Planung mit dem Ziel eines Fortschritts in einer Sache ist uns seit sehr langer Zeit so vertraut, dass es nahe liegt, dass auch die Evolution als Ganzes so vorgeht. Dabei ist es nur der Mensch, der in seiner langen Entwicklungsgeschichte gelernt hat, Werkzeuge und Dinge herzustellen, die ihm nützen.
Es gibt in der Evolution aber sehr wahrscheinlich keinen Plan, keine Absicht, kein Ziel und keinen Fortschritt. Das ist zugegeben schwer zu verstehen, weil es unserem alltäglichen praktischen Denken widerspricht. Wir hätten als Mensch gerne einen übergeordneten Zweck. Wir sehen uns als hoch entwickeltes Lebewesen gerne als endgültiges Ziel der Evolution. Wir wünschen uns vielleicht, dass wir geplant wurden mit der Absicht, die Krone der Schöpfung zu sein. Der Mensch ist aber nicht die Krone der Schöpfung oder das Endprodukt der Evolution. Der Mensch ist auch nicht das Maß aller Dinge. Der Mensch wird wahrscheinlich als biologische Art genauso aussterben wie Millionen Arten vor ihm. Der Mensch ist auf dem Planeten Erde ein Teil der Evolution, die auch ohne Menschen weitergehen wird.

Dissidenkt hat geschrieben:Gibt es einen Sinn unserer Existenz?
...
Wenn du die Geschichte des Universums, die Geschichte unseres Planeten und deine eigene Geschichte betrachtest, wirst du überall ein grundlegendes Schema erkennen und das ist: Entwicklung. Das Universum hat eine Genese, die zur Entstehung der Erde führte, die Erde hatte eine Genese, die zur Entstehung des Lebens führte, das Leben hat eine Genese, die zu einem die Genese reflektierenden Bewusstsein führte und du hast eine persönliche Genese, die zu deinem hier und jetzt führte.

Wenn man also auf all diese Entwicklungen schaut, ist es doch nur naheliegend, Entwicklung als Sinn der Existenz zu begreifen.
Natürlich muss man das nicht tun. Die meisten tun es sicherlich nicht, sondern suchen sich aus Unwissenheit und fehlender Refektion anderen Lebensssinn, wie Familie, Erfolg, Selbstverwirklichung, Sport,etc. Aber beim Blick auf das große Ganze, wenn man sich von der Bedeutung der eigenen Existenz lösen kann, dann ist die Erkenntnis, dass Entwicklung ein Grundprinzip aller Existenz ist, durchaus plausibel und es ist deshalb nur folgerichtig, diese als eigentlichen Sinn des großen Ganzen zu erkennen.


Es ist vielleicht naheliegend, aber nicht zwingend, diesem Entwicklungsschema einen Sinn zu unterstellen. Ich persönlich tue es nicht, akzeptiere aber, wenn andere so einen übergeordneten Sinn sehen wollen.

Dissidenkt hat geschrieben:Warum es sinnvoll ist, Entwicklung als Sinn der Existenz anzunehmen, erkläre ich im zweiten Punkt, in dem ich dir widersprechen möchte:

ice hat geschrieben:Für mich ist die Determinismusfrage sehr spannend und interessant, obwohl mir bewusst ist, dass sie - radikal zu Ende gedacht - keine praktischen Erkenntnisse vermitteln und auch zu keinen Konsequenzen führen kann.


Die Erkenntnis, dass alles determiniert ist, kann durchaus zu neuen Erkenntnissen und damit zu Konsequenzen führen.


Nur sind diese neuen Erkenntnisse und Konsequenzen ja ebenfalls bereits determiniert! Das führt unweigerlich zu einer "Seltsamen Schleife" im Gehirn, aus der man nur "herausspringen" kann, wenn man sich dem determinierten Leben hingibt und einfach lebt, ohne an den radikalen Determinismus ständig zu denken.

Dissidenkt hat geschrieben:Hätten alle Menschen diese Sichtweise tatsächlich verinnerlicht, würde das den Umgang der Menschen untereinander erheblich verändern - und zwar positiv.


Mag sein - ich sehe das genauso, weil ich denke, dass ich den Determinismus bereits verinnerlicht habe und bei mir beobachte, dass er zu mehr Toleranz und Empathie führt. Aber "erzwingen" läßt sich so eine Sichtweise nicht, weil jeder eine andere determinierte Lebensgeschichte hat.

Dissidenkt hat geschrieben:Zur Frage, warum es sinnvoll ist, Entwicklung als Sinn der Existenz anzunehmen, möchte ich, dass du dir vorstellst, was wäre, wenn alle Menschen, die heutzutage viel Zeit in andere Dinge investieren, ihre Zeit in die persönliche Entwicklung investieren würden, weil sie darin den Sinn von Existenz im Ganzen erkannt haben und deshalb Entwicklung auch zum Sinn ihrer persönlichen Existenz gemacht haben.

Ich denke, in der Erkenntnis der Determiniertheit und damit unserer Unfreiheit, steckt tatsächlich sogar eine große Chance, nämlich die, eines neues Menschen- und Weltbilds, frei von religiösen Mythen und ihren negativen Folgeerscheinungen.
Die Erkenntnis der eigenen Unfreiheit kann sogar zu mehr persönlicher Freiheit führen, nämlich dadurch, dass ich mir meine eigenen Unfreiheiten bewusst mache und gezielt daran arbeite. Das können sowohl psychische Zwänge sein, als auch physische oder gesellschaftliche. Die Erkenntnis der eigenen Unfreiheit ist somit der erste Schritt zur eigenen Befreiung.
Wer das verstanden hat, dem ist auch klar, dass ein undeterminiertes Selbst alles andere, als erstrebenswert wäre.


Auch da stimme ich dir weitgehend zu - obwohl ich deinen Optimismus nicht ganz teilen kann, weil der Ausgang dieses natürlichen Prozesses für uns offen und ungewiss bleibt. Der determinierte Lebensprozess ist zwar unausweichlich und unabänderlich, aber es gibt nichts, wovor wir Angst haben müssten. Es gibt aber auch keinen Grund auf einen guten Ausgang des einzelnen individuellen Lebens oder der menschlichen Kulturgeschichte zu hoffen. Nachdem es für mich keine personale Instanz gibt, die hinter dem Schicksal steht, sind alle hineinprojizierten Eigenschaften nichtssagend. Der Verlauf ist weder gut noch böse. Das Ende ist weder erlösend noch bedrohlich. Der naturgesetzliche Prozess ist wertneutral und letztendlich gleichgültig gegenüber der menschlichen Existenz – obwohl „gleichgültig“ auch schon wieder eine negative Wertung ist. Und Wertungen haben meiner Ansicht nach in diesem festgelegten Naturverlauf nichts verloren.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Do 2. Jan 2014, 13:15

Vollbreit hat geschrieben:Determinismus und Erkenntnis schränken sich nicht in der Weise ein, dass man sagen könnte, je determinierter desto weniger erkenntnisfähig.


Ja, klar.

Vollbreit hat geschrieben:Und was es überhaupt bedeutet determiniert zu sein, ist seit längerem auch eine Frage, der u.a. Brigitte Falkenburg nachgegangen ist.


Ihr Buch "Mythos Determinismus: Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?" steht auf meiner Bücherliste ganz weit oben. Ich habe es noch nicht gekauft/gelesen.

Vollbreit hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Reflexionen gehören für mich auch zum Denken ganz allgemein. Und solche Denkprozesse sind für mich neurobiologisch im Gehirn kodiert und unterliegen den gleichen (determinierenden) Naturgesetzen wie alles andere auch.
Und warum soll das einschränken?


Ich habe nichts von Einschränken geschrieben. Meine Vermutung ist nur, dass bewusstes Reflektieren, Inne-halten und wohl-überlegtes Beurteilen nicht irgendwo im luftleeren Raum stattfindet, sondern auch eine "Leistung" des Gehirns ist - und das Gehirn untrennbarer Teil des determinierten Naturgeschehens ist. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass auch (kreatives) Denken, Sprechen und Schreiben ein prinzipiell determinierter Prozess ist.

Vollbreit hat geschrieben:Das wir zur Kreativität fähig sind steht nun außer Zweifel, sogar empirisch:
Robert Brandom hat geschrieben:„...Chomsky hat darauf hingewiesen, dass eine solche Kreativität die Regel und nicht die Ausnahme ist. Fast jeder Satz, den ein Erwachsener in seiner Muttersprache äußert, wird zum ersten Mal geäußert – nicht bloß von diesem Sprecher, sondern zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit. ...


Ja, ein faszinierender Gedanke, dass Kreativität in der Sprache nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Wir treiben fast ständig kreative Sprachspiele...

Vollbreit hat geschrieben:Klar, Kreativität ist nicht methodisch zu erzwingen. Man weiß im Grunde gar nicht was da passiert, außer, dass man aus gewohnten Mustern ausbricht. Warum manches genial und manches ein Rohrkrepier ist, das weiß keiner.


Das wird meiner Ansicht nach auch so bleiben, weil ein "kreativer Prozess" aus so vielen unbekannten Einflussfaktoren besteht, dass es mir unmöglich erscheint, jemals tiefere Erkenntnis von diesem Prozess zu erlangen.
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