Harter atheistischer Determinismus

Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon fopa » Mi 8. Jan 2014, 10:05

Wir müssen erstmal wieder Begriffe klären:
AgentProvocateur hat geschrieben:5. Der Gegensatz zu Determinismus ist nicht: frei, d.h. Determinismus schließt nicht Freiheit per se aus, meinte man dieses jedoch dennoch, wäre das gesondert zu begründen.
Was meinst du mit Freiheit? Welcher Prozess wäre in einem vollständig determinierten Weltgeschehen als frei bzw. ohne Zwang (von was?) zu bezeichnen?

Zur Verantwortung: Ich übernehme dasselbe Zitat von ice, hebe aber anders hervor.
ice hat geschrieben:Gefängnis und Therapie für den Straftäter sind die nahe liegende „Strafe“. Aber auf keinen Fall dürfen sie „schuldig“ gesprochen werden im herkömmlichen moralischen Sinn, weil sie im Moment der Straftat nicht frei entscheiden konnten, sondern von unzähligen Einflussfaktoren determiniert waren und ihre Lebensgeschichte eine lange Kausalkette ist, die genau zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Straftat geführt hat. Sie können daher nicht moralisch verantwortlich gemacht werden für ihre Tat. Die gesellschaftliche Verantwortung bleibt allerdings, weil es gemeinsam geschaffene ethische Regeln und Gesetze geben muss, die ein gutes und friedvolles Zusammenleben zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglichen sollen.
Wir beide (@Agent) hatten diese Diskussion ja schon mal.

Ich hatte damals versucht, zwischen Verantwortung ("Schuld") eines Individuums gegenüber einer supernaturalistischen moralischen Instanz einerseits und der Verantwortung eines Individuums gegenüber seinen Mitmenschen (der Gesellschaft) andererseits zu differenzieren. Eine solche (hypothetische) Instanz hat keine Eigeninteressen und kann ihrerseits den "Schuldigen" nicht zur Verantwortung ziehen, ihn also ggf. bestrafen. Die Mitmenschen haben aber (in einer determinierten Welt determinierte) Eigeninteressen (oder moralische Vorstellungen) und können diejenigen Menschen, die diese Interessen verletzen (bspw. Straftäter), zur Verantwortung ziehen.

Die Ausbildung und die Umsetzung der Eigeninteressen aller Menschen kann als vollständig determinierter Prozess aufgefasst werden. Der Punkt von @ice (und meiner in der alten Diskussion) betrifft das Selbstverständnis der Menschen: Sehen sie ihren Willen und den Willen ihrer Mitmenschen und damit die resultierenden Handlungen als determiniert oder nicht-determiniert an?
Die deterministische Sichtweise führt mitnichten dazu, Straftäter "von einer Verantwortung ihrer Taten freizusprechen" (so hattest du es ausgedrückt, @Agent). Sie können lediglich nicht mehr als "schuldig" in dem Sinne bezeichnet werden, dass sie sich für ihre Handlungen frei entschieden hätten. Sie waren ja determiniert. Nichtsdestoweniger bleiben die individuellen Eigeninteressen aller Mitmenschen und damit eine gesellschaftliche "Ethik" bestehen, die solche Handlungen nicht dulden und Straftäter im Sinne des gesellschaftlichen Interesses wegsperren, therapieren oder sonstwie mit ihnen verfahren, sie also zur Verantwortung ziehen.

Eine solche Auffassung von Ethik und Verantwortung ist zwar (vermutlich) prinzipiell auch möglich, wenn man von einem "wirklich freien", also in irgendeiner Weise indeterminierten Willen ausgeht. Es bleibt aber die Frage, warum sich ein Mensch so oder anders entscheidet. Ist ein Mensch (z.B. ein Mörder) nicht aufgrund seiner inneren und der äußeren Umstände dazu gezwungen (determiniert), einen Mord auszuführen, so hat er sich frei entschieden. Das wird dann normalerweise damit begründet, dass dieser Mensch "böse" ist oder "böse Absichten" verfolgt. In diesem Sinne ist er also "schuldig" bezogen auf die Moralvorstellung der Gesellschaft. (Es war also nicht nur seine Handlung, die die Interessen oder Moralvorstellungen der Gesellschaft verletzt hat, sondern auch sein "freier Wille" oder seine "freie Entscheidung".)

Der Unterschied zwischen den beiden Sichtweisen ist der, dass im deterministischen Fall die Gesellschaft darauf bedacht sein wird, die äußeren Umstände so zu gestalten, dass ihre Interessen gewahrt bleiben - also den Straftäter im Interesse der Gesellschaft möglichst therapiert (seine inneren Umstände verändert) oder schlimmstenfalls wegsperrt oder eliminiert. Zusätzlich würde sie versuchen, Rahmenbedingungen herzustellen, die Menschen gar nicht erst zu Straftätern werden lassen.
Im Gegensatz dazu müsste man bei der indeterministischen Sichtweise immer davon ausgehen, dass ein Mensch (aus "Bösartigkeit") trotz bester äußerer Rahmenbedingungen die Interessen der Gesellschaft verletzen könnte. Wie würde man dann ein solches Vergehen bewerten, und wie wäre dann mit diesem Menschen zu verfahren? Da sein Vergehen ja nicht auf determinierte Abläufe zurückzuführen ist, müsste man ihn letzten Endes schlicht ohne weitere Begründung für "schuldig" oder "böse" erklären. Eine Bestrafung hätte dann auch nicht das Ziel, ihn wieder zu einem Mitglied der Gesellschaft zu machen, sondern wäre nur noch eine Genugtuung für die Geschädigten.

Also: Sieht man Handlungen als vollständig determiniert an, wird sich eine Gesellschaft zum Ziel setzen, die Rahmenbedingungen möglichst so zu gestalten, dass ihre Interessen gewahrt bleiben. Sollte ein Mensch dennoch straffällig werden, läge das nicht an ihm (seiner Gut- oder Bösartigkeit), sondern an sämtlichen Umständen, die zwangsläufig zu seiner Tat geführt haben.
Geht man von einem nicht-determinierten freien Willen aus, muss man einem Straftäter ab einem gewissen Punkt eine freie Entscheidung unterstellen, also eine "böse Absicht" - denn er hätte sich ja auch anders entscheiden können. Damit wäre dies ein grundsätzlich anderes Menschenbild, was auch einen anderen Umgang mit Straftätern zur Folge haben kann (aber vermutlich nicht zwangsläufig muss).
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon fopa » Mi 8. Jan 2014, 10:23

AgentProvocateur hat geschrieben:1. das gesamte Weltgeschehen läuft determiniert (gesetzmäßig) ab
2. jegliches Weltgeschehen ist (zumindest hypothetisch) naturalistisch/physikalisch erklärbar
3. Überlegungen, Entscheidungen und Handlungen von Menschen spielen keine Rolle im Weltgeschehen, sind auf das Weltgeschehen bezogen auswirkungslose Epiphänomene

Diese 3 Prämissen können nicht gleichzeitig angenommen werden.
Man muss also entweder annehmen, dass [...] Handlungen von Menschen übernatürliche und nicht erklärbare Phänomene in unserer Welt seien, [...] oder aber die Annahme der Machtlosigkeit [...] von Handlungen von Menschen muss fallen gelassen werden
Diese Schlussfolgerung erschließt sich mir noch nicht. Könntest du das näher begründen?

AgentProvocateur hat geschrieben:Dann aber fällt auch die Behauptung, Menschen seien lediglich von außerhalb ihres Einflussbereiches (weil dieser von der Welt irgendwie geheimnisvollerweise getrennt sei) ferngesteuerte Marionetten eines von ihnen nicht beeinflussbaren Weltgeschehens schlicht flach.
Von einer Trennung der Welt hat niemand gesprochen, und das impliziert ein determinierter Wille auch nicht. Wenn sämtliche Prozesse des Universums dessen eigenen, deterministischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen, dann gilt das auch für alle Prozesse, die im Menschen und seiner Umgebung ablaufen. Diese Prozesse führen (deterministisch) zu Überlegungen, Entscheidungen oder Handlungen des Menschen, die ihrerseits selbstverständlich etwas bewirken, aber wie alle anderen Prozesse determiniert sind. Sie haben eine konkrete Ursache, nämlich in Form der determinierten und determinierenden Prozesse, die zu ihnen geführt haben.

Mit dem Begriff Epiphänomen tue ich mich schwer. Wenn man eine Überlegung anstellt oder eine Entscheidung trifft, hat ja allein das Bewusstwerden dessen eine Wirkung auf weitere Überlegungen und Entscheidungen und letztlich in der Außenwelt wirksame Handlungen.
In der deterministischen Sichtweise bleibt die Kausalkette aber erhalten, weil die Überlegungen und das Bewusstwerden ihrer bereits kausale, determinierte Folge von determinierenden und determinierten Ursachen sind.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Mi 8. Jan 2014, 10:30

AgentProvocateur hat geschrieben:1. Mir ist nicht klar, was atheistischer Determinismus bedeuten soll. Das Attribut "atheistisch" ergibt mE in Verbindung mit "Determinismus" keinen rechten Sinn. Man kann zwischen ethischem, logischem, theologischem, physikalischem und psychologischem Determinismus unterscheiden, aber was bitte soll "atheistischer" Determinismus sein?


Mit dem Attribut "atheistisch" will ich mich vom theologischen Determinismus (göttliche Vorsehung, Fügung, Prädestination - auch Fatalismus, der religiös motiviert ist) abgrenzen. Vielleicht reicht es auch, sich auf den physikalischen Determinismus zu beziehen, obwohl da die mögliche mathematische Berechenbarkeit der Welt im Vordergrund steht - die ich aber anzweifle. Für mich ist die komplexe dynamische Lebenswelt fast nie berechenbar und vorhersehbar, obwohl ich sie für vollständig und unausweichlich festgelegt halte.

AgentProvocateur hat geschrieben:2. "Determinismus" bedeutet mE, dass - zumindest hypothetisch - eindeutige (d.h. nicht stochastische) Gesetzmäßigkeiten für alle Vorkommnisse in einer Welt gefunden werden können.


Ja, stimme ich zu.

AgentProvocateur hat geschrieben:3. Aus einem solchen Determinismus folgt keine (metaphysische) Notwendigkeit für die Abläufe in einer solchen Welt, (das wäre eine - mE metaphysisch ziemlich starke, daher zusätzlich begründungsbedürftige - Zusatzannahme, die mE mitnichten schon in Determinismus enthalten ist).


Diesen Satz verstehe ich nicht ganz. Wo liegt das Problem? Was ist die Frage?

AgentProvocateur hat geschrieben:4. Der Gegensatz zu determiniert ist nicht-determiniert (oder auch - normalerweise: indeterminiert, falls man unter "indeterminiert" nicht totales Chaos, bzw. das Fehlen jeglicher Gesetzmäßigkeit verstehen will. Falls doch, dann bräuchte man einen zusätzlichen Begriff für: "weder völlig gesetzmäßig noch völlig ungesetzmäßig").


Auch dem scheinbaren "Chaos" liegen sehr wahrscheinlich Gesetzmäßigkeiten zu Grunde. Das wissen wir seit der Chaostheorie (heute: "Theorie komplexer Systeme"). Man spricht auch vom "determinierten Chaos".

AgentProvocateur hat geschrieben:5. Der Gegensatz zu Determinismus ist nicht: frei, d.h. Determinismus schließt nicht Freiheit per se aus, meinte man dieses jedoch dennoch, wäre das gesondert zu begründen.


Naja, wirklich begründen kann ich meine Vermutung(en) nicht. Es ist eine metaphysische Hypothese, die ich für plausibel halte. Mir ist aber bewusst, dass sie letztendlich ein "Glaube" ist.

AgentProvocateur hat geschrieben:6. Der Gegensatz zu Freiheit ist Zwang.


Ja.

AgentProvocateur hat geschrieben:7. Die - metaphysische - Annahme, unsere Welt sei determiniert, sieht im Lichte der Erkenntnisse der Physik im letzten Jahrhundert momentan wie eine unhaltbare Annahme aus.


Ja zugegeben, wobei es verschiedene Interpretationen der Quantentheorie gibt. Vor allem der Physiker David Bohm (1917-1992) beschäftigte sich mit einer nichtlinearen deterministischen Theorie mit verborgenen Variablen. Da ich kein Physiker bin, kann ich diese Theorien nicht mathematisch nachvollziehen, aber sie zeigen mir, dass es Alternativen gibt zur gängigen indeterministischen Sicht der meisten Physiker. Außerdem glaube ich, dass der objektive QM-Zufall noch ein sehr unverstandenes Naturphänomen ist.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Mi 8. Jan 2014, 11:35

AgentProvocateur hat geschrieben:Wieso darf jemand morden, vergewaltigen, stehlen, einbrechen, betrügen, erpressen, entführen, aber niemand Andere schuldig sprechen? Entweder oder: entweder ist alles das ein unabänderlicher Ablauf im Weltgeschehen, für den niemand etwas kann, ..., und so auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann oder aber der moralische Anspruch ist auch gegenüber Mördern, Vergewaltigern, Einbrechern, Betrügern, Erpressern und Entführer berechtigt. Es ist aber prima facie sehr merkwürdig, nur Mörder, Vergewaltiger, Einbrecher, Betrüger, Erpresser und Entführer von einer Verantwortung für ihre Taten freizusprechen ("die können ja nichts dafür"), anderen aber eine solche Verantwortung zuzusprechen ("die aber können etwas für ihre Vorwürfe"). Wieso, woraus folgt das? Weil Erstere determiniert sind, (und daraus geheimnisvollerweise Nicht-Verantwortung für die eigenen Taten folgt?), Zweitere aber nicht determiniert sind? Oder wie jetzt?


Ich halte alle Menschen für determiniert in dem Sinne, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht anders können, als so zu denken und zu handeln, wie sie eben denken und handeln. Das gilt für Mörder und andere Straftäter genauso wie für jemanden, der solche Straftäter dafür schuldig im moralischen Sinn spricht. Ich habe mich da wahrscheinlich missverständlich ausgedrückt. Was ich meine - und was @fopa in seinem Beitrag schon beschrieben hat - ist, dass aus einer deterministischen Weltsicht heraus es möglich ist, auf die moralischen Begriffe "Gut" und "Böse" zu verzichten und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass eine gemeinsame Diskussion von ethischen Regeln möglich wird.

AgentProvocateur hat geschrieben:Und außerdem ist es prima facie unlogisch, eine persönliche Verantwortung zu leugnen, aber eine gesellschaftliche Verantwortung zu fordern. Die Gesellschaft ist kein (Mega)-Akteur für sich, sie besteht aus einzelnen Individuen. Wenn das einzelne Individuum nicht verantwortlich sein kann, dann kann auch die Gesellschaft nicht verantwortlich sein.


Ja, da hast du wohl recht. Die gesellschaftliche Entwicklung ist genau so determiniert, wie die einzelnen Individuen - wobei "Verantwortung" ein schwieriger und vielschichtiger Begriff ist. Ich bin da noch nicht am Ende meiner Überlegungen, was den strengen Determinismus anbelangt...
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Mi 8. Jan 2014, 11:54

stine hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Es ist aber prima facie sehr merkwürdig, nur Mörder, Vergewaltiger, Einbrecher, Betrüger, Erpresser und Entführer von einer Verantwortung für ihre Taten freizusprechen ("die können ja nichts dafür"), anderen aber eine solche Verantwortung zuzusprechen ("die aber können etwas für ihre Vorwürfe"). Wieso, woraus folgt das? Weil Erstere determiniert sind, (und daraus geheimnisvollerweise Nicht-Verantwortung für die eigenen Taten folgt?), Zweitere aber nicht determiniert sind? Oder wie jetzt?

Ja das wundert, bei der ganzen Diskussion.
Aber diese Denke entspricht 1:1 dem geforderten Mainstream. Wer nichts kann, kann nichts dafür und wer was kann, der soll sich gefälligts anstrengen!


Nein, so würde ich das keinesfalls formulieren. Was jemand kann oder nicht kann, hängt von seiner Lebensgeschichte (eine lange Kausalkette) und seinen Lebensbedingungen ab. Genauso, ob sich jemand jetzt anstrengt oder nicht - hat seine Ursache in seiner Lebensgeschichte. D.h. es gilt für beide Möglichkeiten der Satz: In letzter Konsequenz kann keiner etwas dafür, wie er lebt, denkt, fühlt und handelt. Ich behaupte nun, dass eine deterministische Weltsicht zu mehr Empathie und Toleranz führt!
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Dissidenkt » Mi 8. Jan 2014, 17:11

ice hat geschrieben:
stine hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Es ist aber prima facie sehr merkwürdig, nur Mörder, Vergewaltiger, Einbrecher, Betrüger, Erpresser und Entführer von einer Verantwortung für ihre Taten freizusprechen ("die können ja nichts dafür"), anderen aber eine solche Verantwortung zuzusprechen ("die aber können etwas für ihre Vorwürfe"). Wieso, woraus folgt das? Weil Erstere determiniert sind, (und daraus geheimnisvollerweise Nicht-Verantwortung für die eigenen Taten folgt?), Zweitere aber nicht determiniert sind? Oder wie jetzt?

Ja das wundert, bei der ganzen Diskussion.
Aber diese Denke entspricht 1:1 dem geforderten Mainstream. Wer nichts kann, kann nichts dafür und wer was kann, der soll sich gefälligts anstrengen!


Niemand spricht einen Kriminellen von Verantwortung frei, nur weil er nicht "frei" entscheiden konnte. Selbstverständlich ist jeder für seine Taten verantwortlich, nur darf es in einer juristischen Bewertung nicht primär um die Zuweisung von "Schuld" gehen, sondern um das Maß der Verantwortung und darum zukünftige Taten zu verhindern.

ice hat geschrieben:Nein, so würde ich das keinesfalls formulieren. Was jemand kann oder nicht kann, hängt von seiner Lebensgeschichte (eine lange Kausalkette) und seinen Lebensbedingungen ab. Genauso, ob sich jemand jetzt anstrengt oder nicht - hat seine Ursache in seiner Lebensgeschichte. D.h. es gilt für beide Möglichkeiten der Satz: In letzter Konsequenz kann keiner etwas dafür, wie er lebt, denkt, fühlt und handelt.


Da muss ich dir widersprechen und im letzten Satz widersprichst du dieser Aussage auch selbst.
Wer erkannt hat, dass er nur relative Freiheit besitzt, aber Verantwortung für sein Handeln übernehmen muss, der ist auch dafür mitverantwortlich, wie er denkt, lebt und handelt, denn er kann es beeinflussen.

Wer weiss, dass er Alkoholiker ist, kann aktiv dagegen vorgehen und sich weiter entwickeln! Tut er das nicht und verursacht einen Unfall oder stürzt er seine Familie durch die Sauferei ins Unglück, ist er voll verantwortlich. Da gibts keine Ausrede mehr.
Deshalb sage ich ja: Die Erkenntnis der eigenen Unfreiheit ist der Schlüssel zur eigenen Befreiung und einem verantwortlichen Leben.

ice hat geschrieben:Ich behaupte nun, dass eine deterministische Weltsicht zu mehr Empathie und Toleranz führt!


Schön, dass du deine Ansicht diesbezüglich revidiert hast! :2thumbs:
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Nanna » Do 9. Jan 2014, 00:13

ice hat geschrieben:Was jemand kann oder nicht kann, hängt von seiner Lebensgeschichte (eine lange Kausalkette) und seinen Lebensbedingungen ab. Genauso, ob sich jemand jetzt anstrengt oder nicht - hat seine Ursache in seiner Lebensgeschichte. D.h. es gilt für beide Möglichkeiten der Satz: In letzter Konsequenz kann keiner etwas dafür, wie er lebt, denkt, fühlt und handelt. Ich behaupte nun, dass eine deterministische Weltsicht zu mehr Empathie und Toleranz führt!

Du vermischt hier mit großer Konsequenz Subjekt- und Objektperspektive.

Man kann in der Retrospektive immer eine "objektive" Darstellung der Kausalkette versuchen, die zu einem bestimmten Ergebnis, etwa einer bestimmten Tat, geführt hat. Mit "objektiv" meine ich hier nicht "letztgültig" oder "absolut neutral", sondern nur, dass ein Mensch von einer Außenperspektive aus als Objekt behandelt wird, also als Gegenstand, der nicht am Diskurs der Forscher beteiligt ist. Mit statistischen und heuristischen Methoden kann man davon ausgehend auch wahrscheinliche Handlungsverläufe mit einer gewissen Sicherheit in die Zukunft extrapolieren.

Aus der Subjektperspektive sieht die ganze Geschichte aber radikal anders aus. Denn da beobachtet man nicht distanziert ein Zusammenspiel verschiedener Kräfte, sondern ist aktiv an der Herausbildung des Geschehens beteiligt. Hier in diesem Thread beispielsweise verfolgst du, ice, relativ klar das Ziel, Andere von deiner Meinung zu überzeugen. Ich verstehe aber gar nicht, wie du im Einklang mit deinem Weltbild überhaupt für etwas plädieren kannst oder etwas ändern möchtest. Es ist ein performativer Selbstwiderspruch, die Meinungen von Menschen als vorherbestimmt anzusehen und dann zu versuchen, sie aktiv und initiativ zu ändern.

Wenn es wirklich so ist, dass alles determiniert ist und niemand etwas für seine Einstellungen kann (ich sehe nicht, dass das eine das andere impliziert, weil die jeweiligen Zuschreibungen "determiniert" und "verantwortlich" verschiedenen Perspektiven auf die Welt entlehnt sind und daher nur einen Scheinwiderspruch erzeugen), dann ist dein Glaube an den Determinismus kontingent, d.h. dass du vom Determinismus überzeugt bist, hat nichts damit zu tun, dass es gute Gründe für den Determinismus gäbe, sondern ist einfach so, weil dein Leben eben gerade diesen Weg genommen hat. Gründe und ihre Qualität sind in einer unabänderlichen Welt irrelevant, weil Gründe nur im Kontext von Entscheidungen Relevanz entfalten. In einer Welt der reinen Pfadfolge gibt es aber keine Alternativen und ergo auch keine Entscheidungen. Im Kontext einer radikalen deterministischen Auffassung ist es alles egal, warum jemand etwas tut - er tut es ja sowieso und Gründe werden sein Verhalten nicht ändern (deshalb haben radikale Deterministen ja auch kein Problem, die Entscheidung eines Mörders zu bagatellisieren).
Letztlich folgt aus den Prämissen des radikalen Determinismus: Es ist sinnlos, an eine determinierte Person zu appellieren. Komischerweise sind es aber dann genau die radikalen Deterministen, die mit Erlösungsfantasien durch die Welt ziehen und das Heil durch Determinismus verkünden. "Entscheidet euch für den Determinismus, auch wenn ihr euch nicht entscheiden könnt!" In welcher Welt ergibt das irgendeinen Sinn?

Du kannst jetzt natürlich kontern (ich hoffe für dich, dass du es nicht tust): "Ich bin aber determiniert, den Determinismus zu verkünden und deterministisch zu denken." Das ist in dieser Weltsicht konsequent und richtig und erinnert mich an Schopenhauers Kommentar über den Solipsisten, den er mit einem Irren vergleicht, der sich in einem uneinnehmbaren Blockhaus verschanzt hat. Diese ganze Diskussion ist dann aber sinnlos, denn "ich bin so determiniert, ich muss so denken" ist ja letztlich eine Verweigerung gegenüber dem Kern von Diskussionen, nämlich dem wechselseitigen Geben von Gründen und dem Entscheiden zwischen Gründen (wie schon gesagt: der Determinierte kann gar nicht entscheiden!).

Es stellt sich weiterhin die Frage, warum der Determinismus ausgerechnet dahin führen sollte, dass man allgemein an ihn glaubt oder dass der Glaube an ihn uns empathischer und toleranter machen sollte. Der Determinismus hat ja keine Präferenzen. Ob wir empathisch und tolerant sind oder nicht, ist schon festgelegt in dieser Interpretation der Welt und die Gründe dafür sind gleichgültig. Ob wir empathisch und tolerant sind, weil wir an Gottes Liebe oder an den Determinismus glauben, macht keinen Unterschied, weil was wir glauben ohnehin vorherbestimmt ist. Relevant sind Gründe für etwas erst dann, wenn wir uns entscheiden können, nach ihnen zu handeln. Wer gezwungen ist, einen bestimmten Weg zu gehen, muss sich über das Warum schließlich keine Gedanken machen, er kann ja eh nichts ändern. Weshalb dein Appell an Andere, Determinismusanhänger zu werden, übrigens genau dann rein gar nichts an irgendwas ändern KANN, falls du recht haben solltest, was ich ziemlich selbstironisch finde.

Zuletzt möchte ich, in nochmaliger Abwandlung der oberen Punkte betonen, wie absurd die Hoffnung ist, determinierte Menschen einerseits als unabänderlich anzusehen ("der Mörder musste so handeln") und sie andererseits mit Hinweis auf den Determinismus von dieser Unabänderlichkeit kurieren zu wollen ("Wenn alle den Determinismus anerkennen, wird die Welt friedlicher"). Tschuldigung, einfach nochmal, weil es gar so schön ist und ich das Gefühl habe, dass die Botschaft noch etwas einsinken muss: Was du unterstellst, ist, dass der Mörder einerseits handeln MUSS, wie er handelt, dass er aber andererseits friedlicher, empathischer und toleranter werden kann, wenn er sich eingesteht, DASS er morden muss. Das ist doch - Verzeihung - albern und grotesk.

Die Lösung wäre, die Objekt- und Subjektperspektive wieder sauber zu trennen bzw. sich nach einer entwickelten Integrationsmöglichkeit wie dem Kompatibilismus umzusehen. Wenn man sich in der subjektiven sozialen Welt aufhält, wo man nach vorne gerichtet sozusagen auf der Spitze des Zeitstrahls sitzt, braucht man die Begriffe von "Entscheidung", "aktivem Ändern", "Selbstbestimmung", "Verantwortung", "Schuld", "Strafe" etc., um in der sozialen Welt navigieren und handeln zu können. Nur mit diesem Vokabular kann ich Alternativen gegeneinander abwägen und mich für eine entscheiden, der ich dann folge.
Die Aufgabe dieses Vokabulars würde dazu führen, dass man nicht mehr handeln und entscheiden könnte. Und hier liegt ein weiteres Missverständnis deinerseits: Zu glauben, dass der Determinismus sich einerseits als Weltanschauung etablieren ließe und dass er gleichzeitig bestimmte Teile der begrifflichen Strukturen der früheren Weltanschauungen intakt ließe, so dass der Determinismus sich derer bedienen könnte. Das ist auch nicht zu Ende gedacht. Du scheinst anzunehmen, dass der Determinismus in der von dir vertretenen Form nur zu mehr Wohlwollen der Menschen untereinander führen würde aber sonst zu nichts. Das ist aus mehreren Gründen schräg:
Erstens erhältst du bestimmte normative Begriffe wie "Toleranz" und wirfst andere wie "Schuld" über Bord, wobei es im wesentlichen dein persönlicher Geschmack zu sein scheint, was an normativen Kategorien erhalten bleibt und was nicht. Was das überhaupt mit dem Determinismus zu tun haben sollte, wird nicht klar, ich finde das alles an der Grenze zum Dadaismus.
Zweitens unterstellst du, Menschen würden ihre gewohnten Entscheidungsmuster beibehalten (die auf undeterministischen Weltbildern beruhen, wobei "undeterministisch" hier lediglich bedeutet, dass diese Weltbilder verantwortliche, entscheidungsfähige Subjekte anerkennen) und gleichzeitig eine Weltanschauung annehmen, die diese Entscheidungsmuster für obsolet erklärt. Es ist, als würde man sagen "Der Motor des Autos funktioniert deterministisch" und dann als Konsequenz (!) alle Zahnräder aus dem Motor ausbauen, in der Hoffnung, dass er dann nicht nur seine gewohnte Funktionalität beibehalten würde, sondern auch noch ohne Sprit laufen würde. In der sozialen Welt ist es genauso: Wenn du "Schuld" als Begriff abschaffst, sind sämtliche (um im Bild zu bleiben:) "Kraftübertragungen" durch diesen Begriff unmöglich geworden, wodurch soziale Sanktionierungen nicht mehr greifen, die aber - das kann dir jeder Sozialpsychologe haarklein auseinandersetzen - extrem wichtig für das Erlernen und Aufrechterhalten der sozialen Ordnung sind. Anstelle von größerer Empathie und Toleranz könnte auch ein Hauen und Stechen einsetzen, schließlich hast du mit voller Absicht die sozialen Sicherungen des Systems ausgebaut. Dein Determinismus sorgt also nicht dafür, dass alles seinen gewohnten Gang weiter geht und nur alle etwas netter zueinander sind, er entkernt das komplette soziale System und sorgt dafür, dass gar nichts mehr geht und anstelle sozialer Interaktion eine Leere bzw. zufallsbedingtes Handeln treten würde, weil das Spiel von Handlung und Feedback (=Verantwortung übernehmen) plötzlich elementarer Teile beraubt wäre. Deshalb akzeptieren intuitiv auch fast keine Menschen diese Sichtweise der Welt, weil sie instinktiv merken, dass das ein stark defizitäres Weltbild ist, was das soziale (Sprach-)Spiel angeht.

Was ich versuche zu verdeutlichen: Der Determinismus ist keine Entscheidungsgrundlage und es ist auch logisch unverständlich, warum man dem Determinismus eine solche Aufgabe zuweisen sollte. Man kann nicht fordern, dass jemand alle seine normativen Annahmen und Gründe, etwas bestimmtes zu denken und sich danach zu entscheiden, über Bord werfen soll, bloß weil man entdeckt zu haben glaubt, dass er sich ja sowieso in einer bestimmten Form entscheiden wird. Das ist, als würde man dem Schreiner seine Werkzeuge wegnehmen und ihm sagen "Wir wussten sowieso schon, dass Sie damit einen Schrank bauen würden, also brauchen Sie die ja nicht mehr. Wir erwarten, dass Sie uns jetzt zum Dank einen besonders schönen Schrank bauen mit den Werkzeugen, die wir ihnen gerade weggenommen haben."

Verstehst du ungefähr, wie krass weit ab vom Schuss du dich hier aufhältst, was jegliche innere Plausibilität angeht?
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Myron » Do 9. Jan 2014, 00:38

ice hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:2. "Determinismus" bedeutet mE, dass - zumindest hypothetisch - eindeutige (d.h. nicht stochastische) Gesetzmäßigkeiten für alle Vorkommnisse in einer Welt gefunden werden können.

Ja, stimme ich zu.


"I shall say that two possible worlds diverge iff they are not duplicates but they do have duplicate initial temporal segments. Thus our world and another might match perfectly up through the year 1945, and go their separate ways thereafter. …
First, a system of laws of nature is Deterministic iff no two divergent worlds both conform perfectly to the laws of that system. Second, a world is Deterministic iff its laws comprise a Deterministic system. Third, Determinism is the thesis that our world is Deterministic."

"Ich werde sagen, dass zwei mögliche Welten genau dann divergieren, wenn sie keine Duplikate sind, sie aber anfängliche zeitliche Abschnitte haben, die Duplikate sind. So könnten unsere Welt und eine andere bis zum Jahr 1945 vollkommen übereinstimmen und danach ihre getrennten Wege gehen. …
Erstens, ein System von Naturgesetzen ist genau dann deterministisch, wenn es keine zwei divergenten Welten gibt, die beide mit den Gesetzen des Systems vollkommen im Einklang stehen. Zweitens, eine Welt ist genau dann deterministisch, wenn ihre Gesetze ein deterministisches System bilden. Drittens, der Determinismus besteht in der These, dass unsere Welt deterministisch ist."

[© meine Übers.]

(Lewis, David. "New Work for a Theory of Universals." 1983. Reprinted in Papers in Metaphysics and Epistemology, 8-55. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. pp. 31+32)

Das heißt, der Determinismus ist genau dann wahr in der wirklichen Welt, wenn jede mögliche Welt, in der die gleichen Naturgesetze herrschen wie in der wirklichen Welt und die bis zum Jahr x ein Duplikat derselben ist, auch in allen darauf folgenden Jahren x+n ein Duplikat (und damit ein Gesamtduplikat) der wirklichen Welt ist.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon AgentProvocateur » Do 9. Jan 2014, 04:24

fopa hat geschrieben:Was meinst du mit Freiheit? Welcher Prozess wäre in einem vollständig determinierten Weltgeschehen als frei bzw. ohne Zwang (von was?) zu bezeichnen?

Zwang ist: etwas tun müssen, was jemand nicht will. Es ist mE absurd, etwas als nur deswegen als "Zwang" zu bezeichnen, weil es determiniert ist. Jedoch wäre es mE Zwang, wenn ich etwas indeterminiert täte, was ich nicht wollte. Du magst einwenden, dass sich das nur auf Handlungsfreiheit, nicht aber auf Willensfreiheit bezöge. Okay: willensfrei ist eine Entscheidung mE dann, wenn sie informiert und unter größtmöglichster Abwägung der daraus erfolgenden Konsequenzen erfolgte. Das aber ist kein Gegensatz zu Determinismus, im Gegenteil: in einem (auch minimalen) Indeterminismus sind solche Abwägungen logischerweise weniger möglich. Also kann Indeterminismus nicht irgendwie Freiheit herstellen und somit keine notwendige Voraussetzung für Freiheit sein.

fopa hat geschrieben:Ich hatte damals versucht, zwischen Verantwortung ("Schuld") eines Individuums gegenüber einer supernaturalistischen moralischen Instanz einerseits und der Verantwortung eines Individuums gegenüber seinen Mitmenschen (der Gesellschaft) andererseits zu differenzieren.

Juristische Schuld bedeutet mE dies: Verantwortung für einen juristischen Normverstoß. Entweder kann es demnach sowohl juristische Schuld als auch juristische Verantwortung geben oder aber keines von Beidem. Du magst zwar vielleicht "Schuld" noch zusätzlich dazu irgendwie metaphysisch aufladen wollen, aber das wäre dann von Dir explizit darzustellen, inwiefern. Da gibt es keine "supernaturalistische Instanz", das ist ein Strohmann.

fopa hat geschrieben:Die Mitmenschen haben aber (in einer determinierten Welt determinierte) Eigeninteressen (oder moralische Vorstellungen) und können diejenigen Menschen, die diese Interessen verletzen (bspw. Straftäter), zur Verantwortung ziehen.

Aber nur, wenn er schuldig ist, d.h. etwas für seine Tat kann, ihm die zurechenbar ist. Wenn nicht, sind die Eigeninteressen oder moralischen Vorstellungen völlig irrelevant.

fopa hat geschrieben:Die Ausbildung und die Umsetzung der Eigeninteressen aller Menschen kann als vollständig determinierter Prozess aufgefasst werden. Der Punkt von @ice (und meiner in der alten Diskussion) betrifft das Selbstverständnis der Menschen: Sehen sie ihren Willen und den Willen ihrer Mitmenschen und damit die resultierenden Handlungen als determiniert oder nicht-determiniert an?

Das kann ich nun insofern nachvollziehen: sähe man die Entscheidungen und Handlungen von Menschen als (vollständig) nicht-determiniert an, dann könnte man mE diesen Menschen ihre Entscheidungen und Handlungen nicht zurechnen, denn dann lägen die nicht unter ihrer Kontrolle, würden ihnen nur zustoßen, diese Menschen wären dann nur Marionetten in einem ihnen unverständlichen und nicht kontrollierbaren Weltablauf. Merkwürdigerweise aber scheint Ihr nun genau das Gegenteil zu meinen: wenn Menschen determinierterweise (und somit abschätzbarerweise) Kontrolle über ihre Handlungen haben, dann dürfte man die ihnen nicht zurechnen.

fopa hat geschrieben:Die deterministische Sichtweise führt mitnichten dazu, Straftäter "von einer Verantwortung ihrer Taten freizusprechen" (so hattest du es ausgedrückt, @Agent). Sie können lediglich nicht mehr als "schuldig" in dem Sinne bezeichnet werden, dass sie sich für ihre Handlungen frei entschieden hätten. Sie waren ja determiniert.

Wie kann eine indeterminierte Handlung, (also logischerweise eine solche, deren Auswirkungen man prinzipiell nicht absehen kann), "frei" sein? Und noch drängender ist wohl diese Frage: wie, bitteschön, kann man für eine prinzipiell im Vornehrein nicht abschätzbare Handlung, aus der irgendwas prinzipiell nicht Wissbares, da indetermiert, erfolgt, verantwortlich gemacht werden?

fopa hat geschrieben:Nichtsdestoweniger bleiben die individuellen Eigeninteressen aller Mitmenschen und damit eine gesellschaftliche "Ethik" bestehen, die solche Handlungen nicht dulden und Straftäter im Sinne des gesellschaftlichen Interesses wegsperren, therapieren oder sonstwie mit ihnen verfahren, sie also zur Verantwortung ziehen.

Nein, das wäre lediglich eine "schöne" neue Welt. Es ist mE absurd, jemandem ohne gute Gründe, nur aus dem mE völlig idiotischen Grunde: "das wollte ich nicht" eine Verantwortung zuweisen zu wollen.

fopa hat geschrieben:Eine solche Auffassung von Ethik und Verantwortung ist zwar (vermutlich) prinzipiell auch möglich, wenn man von einem "wirklich freien", also in irgendeiner Weise indeterminierten Willen ausgeht.

Strohmann.

fopa hat geschrieben:Es bleibt aber die Frage, warum sich ein Mensch so oder anders entscheidet. Ist ein Mensch (z.B. ein Mörder) nicht aufgrund seiner inneren und der äußeren Umstände dazu gezwungen (determiniert), einen Mord auszuführen, so hat er sich frei entschieden.

Nicht ganz, aber so so ungefähr. Ist ja prima facie auch wenig einsichtig, wieso Mörder (oder sonstige Verbrecher) weniger Menschen sein sollen als andere Menschen.

fopa hat geschrieben:Das wird dann normalerweise damit begründet, dass dieser Mensch "böse" ist oder "böse Absichten" verfolgt.

Ja, Letzteres, richtig.

fopa hat geschrieben:In diesem Sinne ist er also "schuldig" bezogen auf die Moralvorstellung der Gesellschaft.

Richtig.

fopa hat geschrieben:(Es war also nicht nur seine Handlung, die die Interessen oder Moralvorstellungen der Gesellschaft verletzt hat, sondern auch sein "freier Wille" oder seine "freie Entscheidung".)

Ja, wiewohl dabei, wie du vielleicht weißt, differenziert wird. Jemand, der unter einem inneren oder äußeren Zwang stand oder gar jemand, der nichts für sein Verhalten konnte, (z.B.: A schubst B auf C, C fällt unter die einfahrende U-Bahn und stirbt), wird anders beurteilt als z.B. A im Beispiel, obgleich A nicht die direkte kausale Ursache für C's Tod war.

fopa hat geschrieben:Der Unterschied zwischen den beiden Sichtweisen ist der, dass im deterministischen Fall die Gesellschaft darauf bedacht sein wird, die äußeren Umstände so zu gestalten, dass ihre Interessen gewahrt bleiben - also den Straftäter im Interesse der Gesellschaft möglichst therapiert (seine inneren Umstände verändert) oder schlimmstenfalls wegsperrt oder eliminiert. Zusätzlich würde sie versuchen, Rahmenbedingungen herzustellen, die Menschen gar nicht erst zu Straftätern werden lassen.

Nein, an der Stelle wäre erst mal zu klären, wer überhaupt für verantwortlich/schuldig gehalten wird. Bzw.: wer für so gehalten werden sollte. Eine Ansicht, die postuliert: "niemand kann etwas für etwas" wäre hier wohl wenig hilfreich, die würde wohl B anstatt A für schuldig sprechen, und B in Gewahrsam nehmen oder eliminieren. Oder? Und wenn nicht: warum nicht?

fopa hat geschrieben:Im Gegensatz dazu müsste man bei der indeterministischen Sichtweise immer davon ausgehen, dass ein Mensch (aus "Bösartigkeit") trotz bester äußerer Rahmenbedingungen die Interessen der Gesellschaft verletzen könnte.

In einer (vollkommen) indeterminierten Welt wären unsere heutigen Konzepte "Schuld" und "Verantwortung" völlig sinnlos. (Und wie eine teilweise indeterminierte Welt bezüglich Freiheit einen unverzichtbaren Vorteil gegenüber einer völlig determinierten Welt haben könnte, ist mir auch noch unersichtlich, wenn Du das mal nachvollziehbar darlegen könntest?)

fopa hat geschrieben:Also: Sieht man Handlungen als vollständig determiniert an, wird sich eine Gesellschaft zum Ziel setzen, die Rahmenbedingungen möglichst so zu gestalten, dass ihre Interessen gewahrt bleiben. Sollte ein Mensch dennoch straffällig werden, läge das nicht an ihm (seiner Gut- oder Bösartigkeit), sondern an sämtlichen Umständen, die zwangsläufig zu seiner Tat geführt haben.

Nein, siehe oben. Ob jemand "straffällig" ist, hat nichts mit kausaler Verantwortung zu tun. Es hat vielmehr etwas mit den Absichten zu tun. B oben aus dem Beispiel ist zwar kausal verantwortlich für den Tod von C, aber B hatte nicht die Absicht, C zu töten. A jedoch hatte diese Absicht und hat sie erfolgreich in die Tat umgesetzt.

fopa hat geschrieben:Geht man von einem nicht-determinierten freien Willen aus, [...]

Was soll nun bitteschön ein "nicht-determinierter Wille" sein? Wenn jemand indeterminiert (also zufällig, ohne sein Zutun) etwas tut, was definitionsgemäß nicht seiner Kontrolle unterliegt, was ihm also nur zustößt, dann wird er wohl kaum dafür verantwortlich gemacht werden können.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon AgentProvocateur » Do 9. Jan 2014, 04:58

fopa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Man muss also entweder annehmen, dass [...] Handlungen von Menschen übernatürliche und nicht erklärbare Phänomene in unserer Welt seien, [...] oder aber die Annahme der Machtlosigkeit [...] von Handlungen von Menschen muss fallen gelassen werden

Diese Schlussfolgerung erschließt sich mir noch nicht. Könntest du das näher begründen?

Entscheidungen und darauf folgende Handlungen von Menschen haben eine Auswirkungen auf die Welt oder sie haben keine Auswirkungen auf die Welt. Erstere Annahme wäre eine nicht-naturalistische Annahme, aus zweiterer Annahme folgt, mithilfe der Annnahme, dass Menschen prinzipiell in der Lage dazu sind, die Auswirkungen ihrer Handlungen abschätzen zu können, dass sie - insofern sie de facto in der Lage sind, die Auswirkungen abschätzen zu können - auch dafür verantwortlich gemacht werden können. Determinismus hin oder her, wobei mE jedoch gilt: je mehr Indeterminismus, desto - logischerweise - weniger Vemögen, die Auswirkungen abschätzen zu können, (falls ansonsten alles gleich bleibt, ceteris paribus).

fopa hat geschrieben:Wenn sämtliche Prozesse des Universums dessen eigenen, deterministischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen, dann gilt das auch für alle Prozesse, die im Menschen und seiner Umgebung ablaufen. Diese Prozesse führen (deterministisch) zu Überlegungen, Entscheidungen oder Handlungen des Menschen, die ihrerseits selbstverständlich etwas bewirken, aber wie alle anderen Prozesse determiniert sind. Sie haben eine konkrete Ursache, nämlich in Form der determinierten und determinierenden Prozesse, die zu ihnen geführt haben.

Fragt sich nun, worin die Ursache jeweils liegt. Wenn sie in den Überlegungen, Ansichten, Entscheidungen und Handlungen des jeweiligen Menschen liegt (und nicht in anderen, von ihm nicht beeinflussbaren Ursachen), dann ist es mE gerechtfertigt, ihm diese Handlung zuzurechnen. Anders jedoch liegt der Fall dann, wenn seine Handlung (welche man dann wohl eher "Verhalten" nennen würde), außerhalb seines Einflussbereiches läge. In dem Falle würde man ihn dafür nicht (oder weniger) verantwortlich/schuldig halten.

fopa hat geschrieben:Mit dem Begriff Epiphänomen tue ich mich schwer. Wenn man eine Überlegung anstellt oder eine Entscheidung trifft, hat ja allein das Bewusstwerden dessen eine Wirkung auf weitere Überlegungen und Entscheidungen und letztlich in der Außenwelt wirksame Handlungen.

Ja, eben. Und wenn umgekehrt Deine Überlegungen und Absichten keine Auswirkungen auf Deine Handlungen hätten, wenn Dir nur etwas zustieße, was Du nicht wolltest, (siehe mein Beispiel oben mit dem U-Bahn-Schubser, der Dich auf C stößt, der daraufhin zu Tode kommt), dann würdest Du es sicher ungerecht finden, wenn Du dafür verantwortlich gemacht werden würdest. Was aber dann nichts mit Determinismus zu tun hätte, denn kausal wärest Du sehr wohl verantwortlich für C's Tod.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon AgentProvocateur » Do 9. Jan 2014, 05:11

ice hat geschrieben:Vielleicht reicht es auch, sich auf den physikalischen Determinismus zu beziehen, [...]

Ja, das wäre mE der übliche Sprachgebrauch.

ice hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:3. Aus einem solchen Determinismus folgt keine (metaphysische) Notwendigkeit für die Abläufe in einer solchen Welt, (das wäre eine - mE metaphysisch ziemlich starke, daher zusätzlich begründungsbedürftige - Zusatzannahme, die mE mitnichten schon in Determinismus enthalten ist).

Diesen Satz verstehe ich nicht ganz. Wo liegt das Problem? Was ist die Frage?

Die Frage ist die: kann man daraus, dass in unserer Welt aus X regelmäßig Y folgt, schließen, dass aus X Y folgen muss? (Nein, kann man mE nicht, das eine folgt nicht aus dem anderen, für Letzteres wäre daher eine gesonderte Argumentation vorzubringen.)

ice hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:5. Der Gegensatz zu Determinismus ist nicht: frei, d.h. Determinismus schließt nicht Freiheit per se aus, meinte man dieses jedoch dennoch, wäre das gesondert zu begründen.

Naja, wirklich begründen kann ich meine Vermutung(en) nicht. Es ist eine metaphysische Hypothese, die ich für plausibel halte. Mir ist aber bewusst, dass sie letztendlich ein "Glaube" ist.

Aber mein Punkt hier war der: wer behauptet, dass Determinismus Freiheit ausschlösse, muss dafür mindestens ein einziges Argument nennen. Als unbegründete Setzung (= Dogma) ist das nicht akzeptabel, weil nicht nachvollziehbar, weil nicht per se evident.

Mal ganz böse gesagt: das ist für mich ebensowenig nachvollziehbar, als wenn Du einfach so ohne Argument behaupten würdest, dass es einen Gott gäbe, (weil Du das irgendwie gut findest, aber ohne weiteres Argument). Erschwerend kommt hinzu, dass Du aus diesem Dogma moralische Forderungen ableitest, dass z.B. niemand einen Mörder (moralisch oder sonstwie) verurteilen dürfe, weil das moralisch falsch sei. Das unterscheidet sich nun mE nicht von moralischen Forderungen von (bestimmten, einzelnen) Theisten, dass man z.B. Homosexuelle moralisch verdammen müsse.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Myron » Do 9. Jan 2014, 07:21

AgentProvocateur hat geschrieben:2. "Determinismus" bedeutet mE, dass - zumindest hypothetisch - eindeutige (d.h. nicht stochastische) Gesetzmäßigkeiten für alle Vorkommnisse in einer Welt gefunden werden können.
3. Aus einem solchen Determinismus folgt keine (metaphysische) Notwendigkeit für die Abläufe in einer solchen Welt, (das wäre eine - mE metaphysisch ziemlich starke, daher zusätzlich begründungsbedürftige - Zusatzannahme, die mE mitnichten schon in Determinismus enthalten ist).


"Causal determinism is, roughly speaking, the idea that every event is necessitated by antecedent events and conditions together with the laws of nature."

"Der kausale Determinismus besteht, grob gesagt, in der Idee, dass jedes Ereignis von vorangehenden Ereignissen und Bedingungen zusammen mit den Naturgesetzen ernötigt ("nezessitiert") wird."
[© meine Übers.]

http://plato.stanford.edu/entries/determinism-causal/

Ein Determinismus ohne Notwendigkeit ist keiner, wobei zwischen nomologischer/physikalischer Notwendigkeit (Naturnotwendigkeit, naturgesetzlicher Notwendigkeit) und ontologischer/metaphysischer Notwendigkeit ein Unterschied besteht.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon stine » Do 9. Jan 2014, 07:50

Myron hat geschrieben:Das heißt, der Determinismus ist genau dann wahr in der wirklichen Welt, wenn jede mögliche Welt, in der die gleichen Naturgesetze herrschen wie in der wirklichen Welt und die bis zum Jahr x ein Duplikat derselben ist, auch in allen darauf folgenden Jahren x+n ein Duplikat (und damit ein Gesamtduplikat) der wirklichen Welt ist.

Das wäre die theoretische Erklärung. Nur gibt es dafür leider keine Beispiele aus der Praxis, wir kennen ja nur unsere Welt und in der ist mit der modernen Quantentheorie und der Heisenbergschen Unschärferelation die Idee einer umfassend determinierten Natur die naturwissenschaftliche Grundlage verloren gegangen.

LG stine
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon fopa » Do 9. Jan 2014, 08:23

stine hat geschrieben:wir kennen ja nur unsere Welt und in der ist mit der modernen Quantentheorie und der Heisenbergschen Unschärferelation die Idee einer umfassend determinierten Natur die naturwissenschaftliche Grundlage verloren gegangen.
Das sehe ich anders. Man muss unterscheiden zwischen den Geschehnissen an sich und dem, was man über sie wissen kann. Durch das Beobachten und Messen beeinflussen wir ggf. das zu beobachtende Objekt oder System und können deswegen gar keine konkrete Aussage darüber treffen. Erst recht können wir nicht die Handlungen von Menschen vorhersehen, weil wir das System nicht erfassen können.

Das ist der Punkt, der hier wild durcheinander geworfen wird: Es geht nicht darum, Vorhersagen über menschliche Entscheidungen treffen zu können. Es geht darum, zu begreifen, dass Entscheidungen (möglicherweise) nichts anderes sind als die Konsequenz physikalischer, determinierter Prozesse.
Auch wenn wir diese Prozesse nicht im einzelnen oder konkret erfassen können.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Vollbreit » Do 9. Jan 2014, 09:04

fopa hat geschrieben:Das ist der Punkt, der hier wild durcheinander geworfen wird: Es geht nicht darum, Vorhersagen über menschliche Entscheidungen treffen zu können. Es geht darum, zu begreifen, dass Entscheidungen (möglicherweise) nichts anderes sind als die Konsequenz physikalischer, determinierter Prozesse.
Auch wenn wir diese Prozesse nicht im einzelnen oder konkret erfassen können.


Das ist m.E. richtig, aber gerade Kompatibilismusanhängern wie Agent überaus klar, weshalb ich nicht verstehe, wo da die Differenzen liegen.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon fopa » Do 9. Jan 2014, 09:16

@Nanna
Du bist m.E. einem Missversändnis erlegen.
Nanna hat geschrieben:Es ist ein performativer
Selbstwiderspruch, die Meinungen von Menschen als vorherbestimmt
anzusehen und dann zu versuchen, sie aktiv und initiativ zu ändern.
Aus deterministischer Sicht ist die Meinung eines Menschen vorherbestimmt - als Funktion der Zeit! Sie ist also mit fortschreitender Zeit normalerweise nicht konsant bzw. unverändert, sondern ändert sich entsprechend der äußeren Einflüsse und der inneren Überlegungen.
@ice hat als Mensch zu diesem Zeitpunkt eine Meinung und das Bedürfnis, seine Meinung hier im Forum darzulegen und evtl. andere Menschen zu überzeugen. Diese Meinung sowie sein Bedürfnis und die daraus folgenden Handlungen sind aus deterministischer Sichtweise für diesen Zeitpunkt determiniert. Er unternimmt nicht den Versuch, das determinierte Weltgeschehen zu beeinflussen, sondern ist selbst teil dessen und übt (selbst determiniert) Einfluss auf seine Umgebung aus - wie ein Wecker, der morgens determiniert klingelt und den armen Studenten weckt, also Einfluss auf ihn ausübt. Bloß die Ursachen für diese Einflussnahme sind unterschiedlich: beim Wecker ist es der Controller, beim Menschen ist es ein komplexes Zusammenspiel aus Bedürfnissen und Interessen, die eine Entscheidung oder Handlung determinieren.

Nanna hat geschrieben:In einer Welt der reinen Pfadfolge gibt es aber keine Alternativen und ergo auch keine
Entscheidungen.
Das kommt auf die Begrifflichkeiten an. Entscheidet sich ein Handels-Computer an der Börse zu einem bestimmten Zeitpunkt, einen Kauf zu tätigen? Hat er denn eine Alternative? Er wägt gemäß seiner Programmierung verschiedene Alternativen ab und bewertet sie und entscheidet sich nach Abschluss des Bewertungsprozesses für die, die er für die beste hält.
Was macht der Mensch prinzipiell anders?

Nanna hat geschrieben:Im Kontext einer radikalen deterministischen Auffassung ist es alles egal, warum jemand etwas tut - er tut es ja sowieso und Gründe werden sein Verhalten nicht ändern (deshalb haben radikale Deterministen ja auch kein Problem, die Entscheidung eines Mörders zu bagatellisieren).
Letztlich folgt aus den Prämissen des radikalen Determinismus: Es ist sinnlos, an eine determinierte Person zu appellieren.
Das wäre Fatalismus. Aber wie oben geschildert, meint @ice etwas anderes: Selbstverständlich kann alles, was auf einen Menschen einwirkt, ihn potenziell verändern. Also natürlich auch Appelle.
Die Entscheidungen und Taten von Mördern werden keineswegs bagatellisiert. Das hatte ich ja auch schon beschrieben. Immerhin laufen solche Handlungen den Interessen der meisten anderen Menschen zuwider. Letztere werden daraufhin versuchen, mit dem Mörder in einer solchen Weise zu verfahren, dass ihre Interessen künftig nicht mehr verletzt werden. Der Unterschied ist, wie gesagt, das (Selbst-)Verständnis: Wenn der Mörder aufgrund der Umstände und seiner inneren Verfassung gar nicht anders handeln konnte, so ist er nicht böse, sondern hat "lediglich" die Interessen der Gesellschaft verletzt. Seine Handlungen waren eine Art Naturkatastrophe, an der niemand schuld ist. Nichtsdestotrotz können Maßnahmen ergriffen werden, solche Naturkatastrophen künftig zu verhindern. Schließlich machen Menschen das bei Stürmen und Überflutungen auch: Erdrutsche und Lawinen können durch entsprechende Stabilisierungen vermieden werden, gegen unvermeidliche Sturmfluten baut man Deiche, um sich zu schützen.
Nanna hat geschrieben:Was du unterstellst, ist, dass der Mörder einerseits handeln MUSS, wie er handelt, dass er aber andererseits friedlicher, empathischer und toleranter werden kann, wenn er sich eingesteht, DASS er morden muss. Das ist doch - Verzeihung - albern und grotesk.
Das wäre in der Tat grotesk. @ice's Aussage bezog sich aber nicht auf den Mörder, sondern die anderen Menschen und ihre Sicht auf den Mörder. (Siehe vorangegangenen Absatz.)

Nanna hat geschrieben:Die Lösung wäre, die Objekt- und Subjektperspektive wieder sauber zu trennen bzw. sich nach einer entwickelten Integrationsmöglichkeit wie dem Kompatibilismus umzusehen. Wenn man sich in der subjektiven sozialen Welt aufhält, wo man nach vorne gerichtet sozusagen auf der Spitze des Zeitstrahls
sitzt, braucht man die Begriffe von "Entscheidung", "aktivem Ändern", "Selbstbestimmung", "Verantwortung", "Schuld", "Strafe" etc., um in der sozialen Welt navigieren und handeln zu können. Nur mit diesem Vokabular
kann ich Alternativen gegeneinander abwägen und mich für eine entscheiden, der ich dann folge.
Die Aufgabe dieses Vokabulars würde dazu führen, dass man nicht mehr handeln und entscheiden könnte.
Der Kompatibilismus macht es zwar subjektiv leichter, mit den gesellschaftlichen Konsequenzen des Determinismus umzugehen, aber letzten Endes ist er - objektiv gesehen - inkonsequent. Ich gebe zu, dass es schwierig zu durchdenken ist, dass all die Begriffe, die du genannt hast, durch einen "harten" Determinismus nicht entkernt werden. Sie sollen auch nicht aufgegeben werden. Das was sich durch die Abkehr von der Annahme eines nicht-determinierten Willens und damit Entscheidungen ändert, ist das Verständnis für die Handlungen Anderer. (Was nicht heißt, dass diese Handlungen gebilligt werden, wie ich bereits ausgeführt habe.)

Ich gebe dir aber insofern Recht, als auch ich der Meinung bin, dass es wenig Sinn macht, eine deterministische Sichtweise zu propagieren. Die meisten Menschen werden darin als letzte Konsequenz einen totalen Fatalismus sehen und es deswegen ablehnen.
Viel wichtiger für das Zusammenleben ist die Einsicht, dass Menschen nicht böse sind, wenn sie etwas tun, sondern schlicht aufgrund der Umstände so handeln oder ihren Interessen folgen.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon fopa » Do 9. Jan 2014, 09:20

Vollbreit hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Das ist der Punkt, der hier wild durcheinander geworfen wird: Es geht nicht darum, Vorhersagen über menschliche Entscheidungen treffen zu können. Es geht darum, zu begreifen, dass Entscheidungen (möglicherweise) nichts anderes sind als die Konsequenz physikalischer, determinierter Prozesse.
Auch wenn wir diese Prozesse nicht im einzelnen oder konkret erfassen können.


Das ist m.E. richtig, aber gerade Kompatibilismusanhängern wie Agent überaus klar, weshalb ich nicht verstehe, wo da die Differenzen liegen.
Ich sehe die Differenz auch lediglich darin, dass der Kompatibilismus den Entscheidungsprozess noch auf seltsame Weise als "frei" bezeichnet - was auch immer das bedeuten soll. Das mag zwar subjektiv ein besseres Gefühl geben, aber letztlich beschreibt auch der Kompatibilismus einen vollständig determinierten Willen.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon fopa » Do 9. Jan 2014, 09:30

AgentProvocateur hat geschrieben:Zwang ist: etwas tun müssen, was jemand nicht will. Es ist mE absurd, etwas als nur deswegen als "Zwang" zu bezeichnen, weil es determiniert ist. Jedoch wäre es mE Zwang, wenn ich etwas indeterminiert täte, was ich nicht wollte.
Der Punkt sind wirklich die Begrifflichkeiten. Was du als Zwang bezeichnest, würde ich eher mit Gefühl des Gezwungen-Werdens betiteln, was das Gefühl eingeschränkter Freiheit impliziert.
Dagegen würde ich es als Zwang ansehen, wenn eine frei bewegliche elektrische Ladung in einem elektrischen Feld zu einer Bewegung gezwungen wird, seine Bewegung als zwangsläufig stattfindet.

Vielleicht einigen wir uns auf den Begriff der "Notwendigkeit", wenn das weniger Probleme mit sich bringt. :umarmen:

Die ganze restliche Diskussion hatten wir ja schon mal geführt, weswegen ich nicht näher drauf eingehe. Bitte, das zu entschuldigen.
Ich bin aber recht sicher, dass wir (beide) in den meisten Punkten sogar vollkommen derselben Meinung sind und uns lediglich an unterschiedlichen Begrifflichkeiten aufhängen.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Vollbreit » Do 9. Jan 2014, 09:39

fopa hat geschrieben:Ich sehe die Differenz auch lediglich darin, dass der Kompatibilismus den Entscheidungsprozess noch auf seltsame Weise als "frei" bezeichnet - was auch immer das bedeuten soll. Das mag zwar subjektiv ein besseres Gefühl geben, aber letztlich beschreibt auch der Kompatibilismus einen vollständig determinierten Willen.


Frei soll bedeuten, aufgrund eigener Erwägungen und frei von äußeren und inneren Zwängen.
Dass dies sich nicht mit einem harten Determinismus beißt, ist die wesentliche Pointe des Kompatibilismus.
Alles andere wäre dieser zutiefst selbstzwidersprüchliche Hirnfoscherdeterminismus, zu dem Agent eigentlich alles gesagt hat.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Do 9. Jan 2014, 13:00

Nanna hat geschrieben:Du vermischt hier mit großer Konsequenz Subjekt- und Objektperspektive.

Das liegt daran, dass ich den Determinismus auf alles ausweite. Wir sind alle eingebettet in eine komplexe objektive physikalische Realität/Wirklichkeit, von der wir uns abstrakte subjektive (Denk)"Modelle" konstruieren. Über diese "Modelle" (zB stammesgeschichtlich ererbte Verhaltensmuster, Weltanschauungen im weitesten Sinne - also auch Religionen, naturwissenschaftliche Theorien) kann diskutiert werden. Mein "Modell" geht eben davon aus, das sowohl diese physikalische Realität/Wirklichkeit als auch der Prozess, der zu diesen abstrakten subjektiven (Denk)"Modellen" führt, determiniert ist. Wir betrachten die (objektive) Welt scheinbar aus einer Außenperspektive, wie wenn wir ein Bild von außen betrachten - sind aber gleichzeitig untrennbarer Teil dieser Welt bzw. also auch Teil des Bildes, das wir diesmal aus einer Innenperspektive betrachten. M.C.Escher hat das sehr schön in seiner Zeichnung "Bildgalerie" dargestellt.

Nanna hat geschrieben:Hier in diesem Thread beispielsweise verfolgst du, ice, relativ klar das Ziel, Andere von deiner Meinung zu überzeugen. Ich verstehe aber gar nicht, wie du im Einklang mit deinem Weltbild überhaupt für etwas plädieren kannst oder etwas ändern möchtest. Es ist ein performativer Selbstwiderspruch, die Meinungen von Menschen als vorherbestimmt anzusehen und dann zu versuchen, sie aktiv und initiativ zu ändern.

Warum? Ich stelle meine deterministische Weltsicht hier zur Diskussion. Ich habe nicht das Ziel, andere von meiner Meinung zu überzeugen. Wenn jemand, wie du, diese Weltsicht nicht teilt, dann akzeptiere ich das natürlich. Jede Selbst-Reflexion und jeder Kommunikationsprozess mit anderen ändert etwas. Das ist doch klar und kein performativer Selbstwiderspruch. Ich gehe eben davon aus, dass diese Prozesse so wie alle natürlichen Prozesse determiniert sind.

Nanna hat geschrieben:Wenn es wirklich so ist, dass alles determiniert ist und niemand etwas für seine Einstellungen kann (ich sehe nicht, dass das eine das andere impliziert, weil die jeweiligen Zuschreibungen "determiniert" und "verantwortlich" verschiedenen Perspektiven auf die Welt entlehnt sind und daher nur einen Scheinwiderspruch erzeugen), dann ist dein Glaube an den Determinismus kontingent, d.h. dass du vom Determinismus überzeugt bist, hat nichts damit zu tun, dass es gute Gründe für den Determinismus gäbe, sondern ist einfach so, weil dein Leben eben gerade diesen Weg genommen hat. Gründe und ihre Qualität sind in einer unabänderlichen Welt irrelevant, weil Gründe nur im Kontext von Entscheidungen Relevanz entfalten. In einer Welt der reinen Pfadfolge gibt es aber keine Alternativen und ergo auch keine Entscheidungen. Im Kontext einer radikalen deterministischen Auffassung ist es alles egal, warum jemand etwas tut - er tut es ja sowieso und Gründe werden sein Verhalten nicht ändern (deshalb haben radikale Deterministen ja auch kein Problem, die Entscheidung eines Mörders zu bagatellisieren).

Wo habe ich die Entscheidung eines Mörders bagatellisiert? Ich habe nur geschrieben, dass auch für Mörder und andere Straftäter die Tatsache gilt, dass sie zum Zeitpunkt der Straftat determiniert sind und sie nicht im herkömmlichen moralischen Sinn "schuldig" gesprochen werden sollen, weil sie nicht frei entscheiden konnten, sondern von unzähligen Einflussfaktoren festgelegt sind. @fopa hat es mittlerweile auch so formuliert:
fopa hat geschrieben:Wenn der Mörder aufgrund der Umstände und seiner inneren Verfassung gar nicht anders handeln konnte, so ist er nicht böse, sondern hat "lediglich" die Interessen der Gesellschaft verletzt. Seine Handlungen waren eine Art Naturkatastrophe, an der niemand schuld ist. Nichtsdestotrotz können Maßnahmen ergriffen werden, solche Naturkatastrophen künftig zu verhindern.

Genauso sehe ich das auch. Deswegen werden auch Mörder und andere Straftäter, je nach Straftat, eingesperrt.

Nanna hat geschrieben:Letztlich folgt aus den Prämissen des radikalen Determinismus: Es ist sinnlos, an eine determinierte Person zu appellieren. Komischerweise sind es aber dann genau die radikalen Deterministen, die mit Erlösungsfantasien durch die Welt ziehen und das Heil durch Determinismus verkünden. "Entscheidet euch für den Determinismus, auch wenn ihr euch nicht entscheiden könnt!" In welcher Welt ergibt das irgendeinen Sinn?

Noch einmal: ich appelliere an niemanden, meine Weltsicht zu teilen, sondern kommuniziere einfach. Ich habe auch keine Erlösungsfantasien und ziehe auch nicht durch die Welt und verkünde das Heil durch Determinismus.

Nanna hat geschrieben:Du kannst jetzt natürlich kontern (ich hoffe für dich, dass du es nicht tust): "Ich bin aber determiniert, den Determinismus zu verkünden und deterministisch zu denken." Das ist in dieser Weltsicht konsequent und richtig und erinnert mich an Schopenhauers Kommentar über den Solipsisten, den er mit einem Irren vergleicht, der sich in einem uneinnehmbaren Blockhaus verschanzt hat. Diese ganze Diskussion ist dann aber sinnlos, denn "ich bin so determiniert, ich muss so denken" ist ja letztlich eine Verweigerung gegenüber dem Kern von Diskussionen, nämlich dem wechselseitigen Geben von Gründen und dem Entscheiden zwischen Gründen (wie schon gesagt: der Determinierte kann gar nicht entscheiden!).

Ich verschanze mich eben nicht in einem uneinnehmbaren Blockhaus, so wie ein Solipsist, sondern führe ein ziemlich normales Leben mit Familie und sozialen Kontakten - und stelle meine Weltsicht hier im Forum zur Diskussion, weil ich die Frage "Determinismus Ja/Nein?" für interessant und spannend halte.

Nanna hat geschrieben:Es stellt sich weiterhin die Frage, warum der Determinismus ausgerechnet dahin führen sollte, dass man allgemein an ihn glaubt oder dass der Glaube an ihn uns empathischer und toleranter machen sollte.

Ich habe schon bereut, diesen Satz von der Empathie und Toleranz in meiner Antwort an @stine geschrieben zu haben. Aus dem radikalen strengen Determinismus folgt nämlich in Wirklichkeit gar nichts. Ich weiß auch nicht, was mich dazu bewogen hat, diesen Satz zu schreiben...

Nanna hat geschrieben:Die Lösung wäre, die Objekt- und Subjektperspektive wieder sauber zu trennen bzw. sich nach einer entwickelten Integrationsmöglichkeit wie dem Kompatibilismus umzusehen.

Im täglichen Leben trennen wir ganz natürlich die Objekt- und Subjektperspektive, sonst wären wir gar nicht in der Lage, halbwegs konstistent und sinnvoll zu handeln. Aber in der philosophischen Reflexion können wir diese Trennung aufheben und die Welt ganzheitlich denken.

Nanna hat geschrieben:Wenn man sich in der subjektiven sozialen Welt aufhält, wo man nach vorne gerichtet sozusagen auf der Spitze des Zeitstrahls sitzt, braucht man die Begriffe von "Entscheidung", "aktivem Ändern", "Selbstbestimmung", "Verantwortung", "Schuld", "Strafe" etc., um in der sozialen Welt navigieren und handeln zu können. Nur mit diesem Vokabular kann ich Alternativen gegeneinander abwägen und mich für eine entscheiden, der ich dann folge.

Da gebe ich dir Recht. In der sozialen Welt brauchen wir wahrscheinlich diese Begriffe, um handlungsfähig zu bleiben.

Nanna hat geschrieben:Verstehst du ungefähr, wie krass weit ab vom Schuss du dich hier aufhältst, was jegliche innere Plausibilität angeht?

Ja, ich verstehe ungefähr, was du meinst und nehme meinen Satz mit der Empathie und Toleranz ausdrücklich zurück. Er hat nur zu Missverständnissen geführt, die ich auch nachvollziehen kann. Trotzdem bleibe ich, philosophisch gesehen, radikaler Determinist und Inkompatibilist.
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