Was haltet ihr von MBSR?

Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon spade » Mi 25. Jul 2007, 22:08

Guten Tag,

hat hier jemand Erfahrung mit MBSR (Mindfulness-based Stress Reduction, eine Art Meditation ohne Rituale oder Tradition) und kann dazu etwas sagen?

Herzlichen Gruß

Frank
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Ingo-Wolf Kittel » Sa 1. Sep 2007, 11:08

spade hat geschrieben:hat hier jemand Erfahrung mit MBSR (Mindfulness-based Stress Reduction, eine Art Meditation ohne Rituale oder Tradition) und kann dazu etwas sagen? - Frank

Ja, was willst Du wissen? Es gäbe irre viel dazu zu sagen; denn

MBSR steht für Einmaliges:

- historisch für eine Synthese von Medizin und Buddhismus
ohne, wie du ganz richtig schon angedeutet hast, irgendeine
der unterschiedlichen, im Laufe von 2500 Jahren entwickelten
ä u ß e r e n Formen der praktischen Umsetzung von Buddhas
Kernlehre
. (Leider wird DER Buddhismus mit diesen z.T. sogar
landeskulturspezifisch gewordenen Formen meist gleichgesetzt,
leider deswegen, weil nämlich mit ihnen im Laufe der Zeit ganz
wesensfremde, ja sogar gegensätzliche Elemente in die "Lehre"
in anderem Sinn gekommen sind: in die 25-jahrhundertelange
individuelle Vermittlung, Erklärung und Erläuterung von Buddhas
"Vier edlen Wahrheiten" - s. z.B. die Diskussion hier) und

- sachlich für die Vermittlung eines "Geistestrainings", dessen
einzigartige psychische (fast psycho-'therapeutische' oder besser
noch psychohygienische) Potenz dieser indische Herrschersohn
offenbar als erster erkannt hat: das Erlernen und Ein-Üben von
Achtsamkeit! Damit kann eine echte Bewusstseinserweiterung
im psychologisch genau angebbaren Sinn erreicht werden: sie
besteht in der Erlernen einer nur nur bewusst, also absichtlich
und vor allem gezielt herbeiführbaren Aufmerksamkeitsweitung,
die bis zu einer Panoramabewusstheit führen kann, so der höchst
treffende Ausdruck des buddhistischen Autors Chögyam Trungpa
für die maximal erreichbare Bewusstserweiterung.

(Der psychologische und vor allem psychohistorische Hintergrund
dafür ist hochinteressant; der Princeton-Psychologe Julian Jaynes
hat vor drei Jahrzehnten einen Rekonstruktionsversuch dazu
vorgelegt; Erläuterungen dazu hier.)
Zuletzt geändert von Ingo-Wolf Kittel am Di 4. Sep 2007, 21:38, insgesamt 3-mal geändert.
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Sisyphos » So 2. Sep 2007, 16:05

Dazu fällt mir dieses Interview aus der ZEIT ein:

Buddhismus im Labortest

Lässt sich Bewusstsein mittels Training verändern? Um das herauszufinden, meditiert der Physiker und Buddhist Alan Wallace drei Monate lang unter wissenschaftlicher Kontrolle mit 37 Probanden [...]


http://www.zeit.de/2007/12/Meditation-Interview (15.03.2007 Nr. 12)
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Ingo-Wolf Kittel » So 2. Sep 2007, 21:34

Sisyphos hat geschrieben:
Buddhismus im Labortest - Lässt sich Bewusstsein mittels Training verändern?


Aber sicher: schon das Bewustsein, wie wir es kennen - das reflexive Bewusstsein (wg. dem wir auch zu bewusstem, aktiven und selbstbestimmten Erinnern in Form eines situationsunabhängigen und vor allem gewollten Vorstellens fähig sind und deswegen auch zu den sog. "höheren kognitiven Funktionen" bis hin zum Nachdenken und Überlegen... ) - musste historisch erst entwickelt werden oder besser gesagt: ES musste sich zunächst 'irgendwie' von selbst entwickeln.
Der erwähnte Julian Jaynes hat in seinem epochalen Werk zur Entstehung des Bewusstseins Art und Ablauf dieser zunächst unwillkürlichen und entspr. "zufälligen" Entwicklung zu rekonstruieren versucht. Reste davon schleppen wir übrigens in Volksgebräuchen, Religionen und vor allem in unserer Umgangs- oder Alltagssprache bis heute zu Hauf alle mit uns herum...
Trotz des Aufsehens, das sein Buch anfangs fand, ist anscheineund unerkannt oder unbeachtet geblieben, dass Jaynes mit ihm eine Evolutionspsychologie vorgelegt hat. Genau diesen Anspruch nämlich erhebt er ganz offensichtlich bereits im Titel, der im Original lautet: "The Origin of Consciousness..."
Dabei ist das, was Jaynes zu schildern versucht, nichts unbekanntes: jeder Mensch wiederholt individuell bis heute immer wieder dieselbe Entwicklung und wird dies auch in Zukunft immer tun, wenn auch im Schnelldurchgang! Säuglinge und Kleinkinder in den ersten Lebensjahren haben einen Bewusstseinszustand wie Tiere, in dem sie jahrelang ausschließlich und vollständig auf Wahrnehmung ausgerichtet sind. Das uns als Erwachsene dagegen selbstverständliche Vorstellungsvermögen entwickelt sich erst lange nach der Geburt, und zwar normalerweise etwa im vierten/fünften Lebensjahr. Die meisten Menschen können sich deswegen an Erlebnisse vor dem vierten Geburtstag nur schlecht oder gar nicht erinnern (bei sog. Hochbegabten verläuft die Entwicklung z.T. sehr viel schneller).
Dieser Schritt der Bewusstseinsentwicklung hängt mit der Frontalhirnreifung zusammen, wie von der Hirnforschung her bekannt ist; die weitere geistige Entwicklung hängt dagegen von einer Unmenge weiterer und vor allem sozialer Faktoren ab, denen seit der Einrichtung einer allgemeinen Schulplicht im 19.Jh. nur eine einheitlichere Grundlage und Ausrichtung zu geben versucht wird. Jeder kann seine "geistigen" Fähigkeiten jedoch bekanntlich auch selbst üben...
Eine der wichtigsten, wenn auch kaum beachteten und noch weniger genutzten psychologischen Entdeckungen dabei ist, dass wir auch die Weite des Fokus unserer Aufmerksamkeit ständig variieren, und zwar von sozusagen "Null" im Schlaf, über "extrem wenig" in Tiefentrancen oder "ein wenig mehr" in Tagträumen oder hochgradiger Konzentration bis hin zu jener Weite, die jeder für sich entwickelt hat und im Alltag so braucht. Der amerikanische Bewusstseinsforscher Charles Tart nennt sogar diese individuell entwickelte Weite des eigenen Aufmerksamkeitsfocus' Trance, und zwar Alltagstrance (weil er sozusagen vom anderen Ende her denkt, nämlich von der maximal möglichen Bewusstseinsweite: ihr gegenüber ist jeder andere Bewusstseinszustand mehr oder weniger begrenzt oder eingeschränkt und damit eine wie immer weite oder engere Trance - hierzu gäbe es eine Unmenge zu sagen... )
Buddha scheint dies gemerkt oder 'entdeckt' zu haben und hat offenbar deswegen empfohlen, eine über die normale, mehr oder weniger konzentrierte Aufmerksamkeit hinausgehende, möglichst weite, wenn möglich maximale Achtsamkeit zu entwickeln und zu pflegen.
Dass die Achtsamkeitsmeditation im Buddhismus auch Einsichtsmeditation genannt wird, deutet an, dass im Zustand permanenter weit offener Achtsamkeit Leistungen möglich sind, die auf andere Weise zustande kommen als durch diskursives Denken, das wir normalerweise verwenden und systematisch z.B. in der Wissenschaft anwenden. Unsere akademische Psychologie ist just auf dieses festgelegt; was im Buddhismus seit 2500 Jahren bereits bekannt ist und systematisch geübt wird, ist von ihr noch gar nicht 'entdeckt', geschweige denn untersucht worden (was davon unsere Hirnforschern kennen, sei hier aussen vor gelassen... ) - Ausnahmen wie Charles Tart bestätigen das leider, sind aber natürlich ein vielversprechender Anfang.
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon ostfriese » So 2. Sep 2007, 22:05

Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben:Dass die Achtsamkeitsmeditation im Buddhismus auch Einsichtsmeditation genannt wird, deutet an, dass im Zustand permanenter weit offener Achtsamkeit Leistungen möglich sind, die auf andere Weise zustande kommen als durch diskursives Denken, das wir normalerweise verwenden und systematisch z.B. in der Wissenschaft anwenden.

Welche Leistungen zum Beispiel?
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Ingo-Wolf Kittel » Mo 3. Sep 2007, 11:02

ostfriese hat geschrieben:
Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben:Dass die Achtsamkeitsmeditation im Buddhismus auch Einsichtsmeditation genannt wird, deutet an, dass im Zustand permanenter weit offener Achtsamkeit Leistungen möglich sind, die auf andere Weise zustande kommen als durch diskursives Denken, das wir normalerweise verwenden und systematisch z.B. in der Wissenschaft anwenden.

Welche Leistungen zum Beispiel?


ich hab in erster linie auf die 'art und weise', wie diese leistungen zustande kommen, hinweisen wollen (und mir deswegen erlaubt, dies im zitat durch unterstreichen hervorzuheben).
als 'leistung' handelt es sich dabei, wie schon der begriff 'einsichtsmeditation' besagt, um erkenntnisleistungen, etwa wissen (nicht auf diskursives 'denken' hin zustande gekommenes also), um 'unmittelbares' verstehen insb. von zusammenhängen (eine art beobachtendes erfassen) und jene art von einsicht, die man umgangssprachlich vielleicht als 'intuitiv' bezeichnen würde, was aber sachlich leider nicht weiter hilft; denn der begriff 'intuition' ist so schillernd, das allein daraus nicht deutlich wird, was gemeint ist. hier müsste ich weiter ausholen, wofür ich jedenfalls im moment keine zeit habe. würde auch ziemlich weit führen, sich da rein zu vertiefen; belastbare 'wissenschaftliche' erkenntnisse gibt es dazu ja leider noch nicht, auf die ich einfach verweisen könnte.
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon ostfriese » Mo 3. Sep 2007, 14:14

Wenn wissenschaftlich untersucht werden soll, welche Methoden welche Erfolge versprechen, dann müsste aber vorher mindestens klar sein, was man unter Erfolgen verstehen will, wie man die zu untersuchenden Variablen operationalisieren und messen will.

Deshalb hab ich nach den Leistungen gefragt.

Wie messe ich z.B. die Aufmerksamkeit eines Schülers? Zähle ich, wie oft er pro Stunde aus dem Fenster guckt und bilde das Reziproke?

Mich würde sehr interessieren, welche Variablen es sind, zu deren (hoffentlich positiver) Veränderung sich die MBSR-Begeisterten wissenschaftliche Untersuchungen wünschen. Und ob sie selber Vorstellungen davon haben, wie entsprechende Experimente aussehen könnten.
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Ingo-Wolf Kittel » Mo 3. Sep 2007, 22:13

ostfriese hat geschrieben:Wenn wissenschaftlich untersucht werden soll, welche Methoden welche Erfolge versprechen, dann müsste aber vorher mindestens klar sein, was man unter Erfolgen verstehen will, wie man die zu untersuchenden Variablen operationalisieren und messen will.

Deshalb hab ich nach den Leistungen gefragt.

Wie messe ich z.B. die Aufmerksamkeit eines Schülers? Zähle ich, wie oft er pro Stunde aus dem Fenster guckt und bilde das Reziproke?

Mich würde sehr interessieren, welche Variablen es sind, zu deren (hoffentlich positiver) Veränderung sich die MBSR-Begeisterten wissenschaftliche Untersuchungen wünschen. Und ob sie selber Vorstellungen davon haben, wie entsprechende Experimente aussehen könnten.

mit deinen fragen bitte ich dich an personen zu wenden, die die von dir gemeinte forschung betreiben. ich habe deine frage als solche nach den leistungen aufgefasst, nicht als frage nach der art ihrer 'messung' und damit ihrer quantitativen erfassung. und was du mit 'mbsr-begeisterten' meinst, weiss ich echt nicht; mbsr(!) ist 'harte arbeit', in der von jon kabat-zinn etablierten form ein achtwöchiges training mit verschiedenen methoden. er hat es selbst vielfach ausführlich dargestellt, auch mit seinen folgen - zb. in seinem fischer-TB 'gesund durch meditation': vielleicht findest du dort, nach was du suchst.
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Sisyphos » So 30. Sep 2007, 19:01

Ingo-Wolf Kittel hat geschrieben: [...] mbsr(!) ist 'harte arbeit', in der von jon kabat-zinn etablierten form ein achtwöchiges training mit verschiedenen methoden. er hat es selbst vielfach ausführlich dargestellt, auch mit seinen folgen - zb. in seinem fischer-TB 'gesund durch meditation': vielleicht findest du dort, nach was du suchst.


Ich habe das Buch gelesen und mich schon ein paar Tage auf das konzentrierte Nichtstun eingelassen. :^^:
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon spade » So 30. Sep 2007, 19:12

Danke Sisyphos,

ich habe mich für ein Achtwochentraining angemeldet. Melde mich wieder, wenn ich schlauer bin ...

Herzlichen Gruß

Frank
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon ernst.eiswuerfel » So 30. Sep 2007, 21:43

Also ich wäre sehr vorsichtig mit irgend welchen Maßnahmen die angeblich eine "Bewusstseinserweiterung" bewirken sollen. Ohne Not in der Psyche rum pfuschen kann auch ganz schön ins Auge gehen.

Nachtrag:
Was mich z.B. schon mal stutzig macht, ist dass kein einziger "MBSR-Lehrer " in BW ein studierter Psychologe / Psychater ist:

http://www.mbsr-verband.org/ausbilder.php?plz=7

Die Ausbildung eines solchen Lehrers dauert "mindestens 1 Jahr" ...
Ein Psychologie Studium dauert dagegen durchschnittlich 6 Jahre bevor so jemand auf die Menschen los gelassen wird.
http://www.bdp-verband.org/psychologie/faq_titelanerkennung.shtml
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon spade » So 30. Sep 2007, 22:20

Lieber Ernst Eiswürfel,

wenn ein ständig sinnlos vor sich hinplappernder Geist keine Not ist, dann weiss ich nicht, was Not ist. Meiner Einschätziung nach sind viele unserer Nöte darauf zurück zu führen.

Sich dessen bewusst zu werden und diesen Automatismus anhalten zu lernen, halte ich nicht für "rum pfuschen". Wo siehst du da die Gefahr?

Für eine Anleitung seinen eigenen Geist zu beobachten, glaube ich nicht, dass ein sechsjähriges Studium von nöten ist. Ich vergleiche das mit einer Anleitung zum autogenen Training.

Wenn ein MBSR-Lehrer daneben noch etwas Differenzialdiagnostik lernt, um Psychosen erkennen und an geeignete Therapeuten verweisen zu können, dürften doch wohl die größten Gefahren gebannt sein, oder?

Herzlichen Gruß

Frank
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon ernst.eiswuerfel » So 30. Sep 2007, 22:25

Wenn ein MBSR-Lehrer daneben noch etwas Differenzialdiagnostik lernt, um Psychosen erkennen und an geeignete Therapeuten verweisen zu können, dürften doch wohl die größten Gefahren gebannt sein, oder?


Wieso sollte er das können ? Treten Psychosen bei MBSR Kursen auf ?
Was verstehst Du unter "etwas Differenzialdiagnostik" ? Ist das sowas wie ein bischen Psychologie ? Ein bischen seelische Krankheiten erkennen von denen der Teilnehmer vielleicht selber garnichts wusste und die im Kurs erst richtig ausgelöst werden ???

wenn ein ständig sinnlos vor sich hinplappernder Geist keine Not ist, dann weiss ich nicht, was Not ist. Meiner Einschätziung nach sind viele unserer Nöte darauf zurück zu führen.


Ich verstehe nicht, was Du damit meinst ?
Zuletzt geändert von ernst.eiswuerfel am Mo 1. Okt 2007, 00:01, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon ernst.eiswuerfel » So 30. Sep 2007, 23:02

Sich dessen bewusst zu werden und diesen Automatismus anhalten zu lernen, halte ich nicht für "rum pfuschen". Wo siehst du da die Gefahr?


Hmm, einen "Automatismus" in meiner Psyche anhalten, der aus der Evolution herraus in Jahr tausenden so entstanden ist und vielleicht einen Zweck erfüllt ? Also die Wahrnehmung bzw. Aufmerksamkeit erweitern und Filter welche meine Wahrnehmung "einschränken" abschwächen. Das ist es doch was MBSR erreichen will.

Ich bin ja kein Psychologe, aber mir fällt dabei ein, dass niedrige latente Inhibition - das heisst gerine Filter Funktion bei der Wahrnehmung - ein Symptom bei Schizophrenie ist. Dieser Zustand soll künstlich hergestellt werden ? Na dann viel Spaß bei der Reha nach dem Kurs ....

http://en.wikipedia.org/wiki/Latent_inhibition
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Sisyphos » Mo 1. Okt 2007, 06:52

ernst.eiswuerfel hat geschrieben: Ein bischen seelische Krankheiten erkennen von denen der Teilnehmer vielleicht selber garnichts wusste und die im Kurs erst richtig ausgelöst werden ???


MBSR, so wie ich es verstanden habe, ist völlig ungefährlich. Das einzige, was man tut, ist sich ruhig hinzusetzen oder zu legen und auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Dabei wird nichts verdrängt oder unterdrückt. Man wird sich nur leichter der ständigen Aktivität des Gehirns bewusst, d.h. durch die Konzentration auf den Atem nimmt man wahr, was diese Konzentration stört: das diskursive Denken, das Rückblicken oder Antizipieren, das Planen und Problembewältigen, Sich-Sorgen-Machen etc.. Man kann sozusagen aus einer ruhigen Position heraus diese Aktivitäten beobachten und lernen, sich bewusst auf ein einfaches Sein zu konzentrieren.

Viele Menschen leiden daran, nicht "abschalten" zu können, wälzen ihre Probleme im Schlaf und finden keine Ruhe. Das ist oftmals auf Leistungsdruck, Perfektionismus oder häufige zwischenmenschliche Konflikte zurückzuführen. MBSR kann da helfen, einfach wieder Ruhe zu finden.
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Sisyphos » Mo 1. Okt 2007, 07:06

ernst.eiswuerfel hat geschrieben:Hmm, einen "Automatismus" in meiner Psyche anhalten, der aus der Evolution herraus in Jahr tausenden so entstanden ist und vielleicht einen Zweck erfüllt ?


Dass unser Gehirn so arbeitet, wie es arbeitet, ist sicherlich Ergebniss der Evolution. Wir haben aber in relativ kurzer Zeit gelernt, dieses Potential noch stärker zu nutzen (kulturelle Evolution) und möglicherweise überzustrapazieren. Die Anforderung an die Verarbeitungskapazität unseres Gehirns hat sich in wenigen Jahrhunderten exponentiell erhöht (umfassende Bildung, komplexe Gesellschaften, protestantische Arbeitsmoral...). Die individuelle Anpassung durch Lernprozesse kann also gegebenenfalls Probleme hervorrufen.

In China beispielsweise ist im Zeitraffer zu beobachten, wie seit dem rasanten Wirtschaftsaufschwung und der Zunahme urbanen Lebens auch die psychische Überforderung ansteigt: Immer mehr Menschen leiden an den Folgen von Stress und suchen die Hilfe von Therapeuten auf, weshalb dieser Berufszweig enorm wächst.

ernst.eiswuerfel hat geschrieben:Ich bin ja kein Psychologe, aber mir fällt dabei ein, dass niedrige latente Inhibition - das heisst gerine Filter Funktion bei der Wahrnehmung - ein Symptom bei Schizophrenie ist. Dieser Zustand soll künstlich hergestellt werden ? Na dann viel Spaß bei der Reha nach dem Kurs ....


Du solltest etwas unvoreingenommener an die Sache herangehen. Niemand wird schizophren durch Konzentration und Entspannung. =)
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon ernst.eiswuerfel » Mo 1. Okt 2007, 08:10

Niemand wird schizophren durch Konzentration und Entspannung.


Wieso bist Du Dir da so sicher ? Würdest Du es wirklich darauf ankommen lassen wollen ?
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Sisyphos » Mo 1. Okt 2007, 08:59

ernst.eiswuerfel hat geschrieben:Wieso bist Du Dir da so sicher ?


Es ist meine Beurteilung der Sache, nachdem ich mich damit beschäftigt habe. Außerdem würden Ärzte und Therapeuten ihre Patienten nicht in solche Kurse schicken, wenn es Fälle von Schizophrenie gäbe, die auf auf MBSR, Yoga oder autogenes Training zurückzuführen sind. Wenn sich - im Gegenteil - das subjektive Wohlbefinden verbessert, sehe ich keinen Grund, davor zu warnen.

MBSR-Praktiken gehen zwar auf den Buddhismus zurück, werden aber ohne den religiösen/spirituellen Kontext durchgeführt. Man sollte sie also auch nicht mit Esoterik oder Gehirnwäsche a la Scientology assoziieren.
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon stine » Mo 1. Okt 2007, 09:29

Die Palette der eigenen Wahrnehmungen kann in der Tat sehr belastend sein. Ca. 20% der Bevölkerung sind sogenannte HSP. (HighSensitivPerson) Die diversen Test´s um dies festzustellen, braucht ein echter HSP m.E gar nicht, weil er von Kindheit an merkt, dass etwas mit ihm nicht "stimmt" im Verhältnis zu anderen. Ein Test kann allerhöchstens Erleichterung bringen, da die Erkenntnis helfen kann, besser damit umzugehen. Ein ratterndes Gehirn, welches nächtlings den Schlaf raubt, ist eins von den verschiedenen Merkmalen.

HSP geht sehr oft mit Hochbegabung Hand in Hand.

LG stine
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Re: Was haltet ihr von MBSR?

Beitragvon Ingo-Wolf Kittel » Mo 1. Okt 2007, 11:31

ernst.eiswuerfel hat geschrieben:Also ich wäre sehr vorsichtig mit irgend welchen Maßnahmen die angeblich eine "Bewusstseinserweiterung" bewirken sollen. Ohne Not in der Psyche rum pfuschen kann auch ganz schön ins Auge gehen.

Ganz richtig! Was wird ja nicht alles unter "Bewusstseinserweiterung" verstanden?!

Harmlos ist noch, wenn es dabei lediglich um ungewöhnliche Erlebnisse geht, die einfach nur unser - immer begrenztes - Wissen "erweitern", beispielsweise durch Extremsport, bei dem allenfalls die eigene Gesundheit belastet oder höchstens das eigene Leben riskiert wird...

Dem gegenüber nehmen sich Drogenerfahrungen geradezu harmlos aus: sie führen ja "nur", wenn auch immer zu (im besten Fall vorübergehenden) pathologischen Bewusstseinsstörungen, etwa zu Halluzinationen, um mich hier ausschließlich auf die psychischen Auswirkungen angeblicher Bewusstseinserweiterung durch Drogen zu beschränken. Schlimmer ist zwar, wenn daraus eine schizophrenen Psychose entsteht; aber gefährlich kann das allenfalls dann werden, wenn man am offenen Fenster hoch oben in einem Haus im Wahn, sich als Adler in die Luft erheben zu können, losfliegt... (s. zum Thema das Postskript hier, S. 13ff)

Bei der Achtsamkeits- oder auch Einsichtsmeditation genannten Methode des Vipassana und der davon abgeleiteten MBSR geht es um völlig anderes, nämlich um die Ausweitung des Umfangs und die Aufrechterhaltung des dabei jeweils erreichten Ausmaßes von Aufmerksamkeit über die Grenze hinaus, bis zu der man persönlich seine Achtsamkeit (oder wie oft auch gesagt wird: sein Gewahrsein, seine Präsenz oder Bewußtheit, also seine Wahrnehmungsbereitschaft und -fähigkeit) bisher entwickelt hat. Eine derartige Bewusstseinserweiterung, die sachlich genau besehen in einer über das Gewöhnte und Gewöhnliche hinaus gehenden Weitung aufmerksamer Wahrnehmung besteht, führt zu einer Art Breitwand- oder Panoramabewusstheit, wie der geniale Ausdruck des psychologisch wohl interessantesten buddhistischen Gelehrten Chögyam Trungpa lautet.

ernst.eiswuerfel hat geschrieben:Hmm, einen "Automatismus" in meiner Psyche anhalten, der aus der Evolution herraus in Jahr tausenden so entstanden ist und vielleicht einen Zweck erfüllt ? Also die Wahrnehmung bzw. Aufmerksamkeit erweitern und Filter welche meine Wahrnehmung "einschränken" abschwächen. Das ist es doch was MBSR erreichen will.

Ganz und gar nicht. Bei den gemeinten "Automatismen" sind schlicht Wahrnehmungsgewohnheiten gemeint, die jeder Mensch unwissentlich und unwillentlich ausbildet, sobald ein Sinnesbereich voll ausgebildet und Sinneswahrnehmungen möglich sind - teilweise bereits im Mutterleib; in der vorgeburtlichen oder pränatalen Psychologie ist dies seit langem bekannt.
Gefiltert wird dabei weniger als vielmehr ausgeblendet. Erweitert oder überwunden werden soll bei dem "Geistestraining", das Buddha vor zweieinahlb Jahrtausenden in den Mittelpunkt seiner Lehre gestellt hat, und Buddhisten seitdem perfektioniert haben, diese gewöhnliche, gewohnheitsmäßig eingenommene Begrenzung, die sich ja in der Folge auch in einer Einschränkung oder Beschränkung der eigenen Erfahrungen auswirkt: durch Weitstellung der Wahrnehmung und schrittweise Integration von immer mehr, ja letztlich aller Wahrnehmungs- oder Sinnesbereiche, so dass auch immer mehr und schließlich alles von dem erfasst wird, was unsere Sinne - wie 'scharf' oder ungenau auch immer - sowieso die ganze Zeit über, genau gesagt sogar ununterbrochen 24 Std. lang registrieren (und was ohne geübte Achtsamkeit zum größten Teil "unbewusst" verarbeitet wird). Auf diesem Weg kann im maximalen Fall schließlich etwas erreicht werden, was als situative All-Wissenheit bezeichnet werden kann.

ernst.eiswuerfel hat geschrieben:Ich bin ja kein Psychologe, aber mir fällt dabei ein, dass niedrige latente Inhibition - das heisst gerine Filter Funktion bei der Wahrnehmung - ein Symptom bei Schizophrenie ist. Dieser Zustand soll künstlich hergestellt werden ?

Oh, hier liegt definitiv ein Mißverständnis vor. Achtsamkeitsentwicklung besteht im Gegenteil in der Übung und damit in gezielter "Stärkung" der Fähigkeit zu bewusster und achtsamer und dabei von selbst immer genauer werdenden Wahrnehmung! Dabei wird das gewählte jeweilige Wahrnehmungsfeld mit der Zeit, also mit zunehmender Übung immer detaillierter und nuancierter erfasst, wobei gleichzeitig der Umfang des Wahrnehmungsfokus immer weiter, breiter oder offener werden kann.

Normalerweise verschieben wir zur Erfassung von Situationen den Aufmerksamkeitsfokus ja nur, ganz so, wie wir bei der Betrachtung einer Landschaft den Bereich des Scharfsehens durch Augenbewegungen hin und her 'schieben'. Man kann deswegen mit dem sog. "weichen Blick" üben, sich einen eigenen Eindruck von derjenigen Bewusstseinserweiterung zu verschafffen, die in dieser Art von Aufmerksamkeitsweitung besteht: indem man die Fokussierung aufgibt, den Blick entspannt "in die Ferne" richtet und dabei auf das achtet, was dann zwar mehr oder weniger unscharf, interessanterweise aber gleichzeitig vom Gesichtsfeld der Augen erfasst wird - übrigens: je entspannter man dabei ist, umso mehr kann gleichzeitig wahrgenommen werden...

Dazu ist an sich nicht viel nötig; es ist nur der ständigen "Versuchung" zu widerstehen oder besser gesagt, der natürlichen Tendenz, sich unablässig auf den Bereich des Scharfsehens zu konzentrieren (und damit seine visuelle Wahrnehmung zu beschränken). Diese subtile Tendenz zu erkennen und sie zu beherrschen statt von ihr beherrscht zu werden ist sogar recht "bequem" erreichbar: durch achtsames Nichttun (OHNE 's'!). Damit ist ein vollstänig bewegungsloses oder "stilles" Beobachten gemeint, das selbst allerdings alles andere als nichts tun ist, im Gegenteil! Es besteht in reinem Wahrnehmen, vollkommenem Gewahrsein, also höchstmöglicher Achtsamkeit.

Was in einem derartigen Zustand alles möglich ist, dazu gibt es allerdings auch reichlich phantasievolle Vorstellungen...

Sich etwas auszudenken ist ja sehr viel leichter möglich als genau und achtsam die Wirklichkeit zu erforschen. Die Evolution des menschlichen Bewusstseins ist ein beredtes Zeugnis für unsere Phantasiefähigkeit, wie der verstorbene amerikanische Bewusstseinspsychologe Julian Jaynes vor Jahren detailliert gezeigt hat. Wissenschaftlich kontrolliertes Denken und empirisch begründetes Forschen ist dagegen sehr viel jüngeren Datums - und wie mühevoll ist es gegenüber unserem Träumen, das mit Enstehen unserer Erinnerungs- und damit unserer Vorstellungsfähigkeit ganz von selbst in Gang gekommen ist, und jeden Moment wieder in Gang kommen kann, wenn man nicht aufpasst, also acht gibt...
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