stine hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Das Verhindern einer möglicherweise massiven Beeinträchtigung des Lebensalltags eines Menschen halte ich dagegen nicht nur für vertretbar, sondern eigentlich für geboten.
Wie gesagt, man kann sich alles schönreden.
Ist ein IQ von 80 denn auch ein schwerer Fehler? Mit solcher Hirnleistung sind die meisten Menschen auch schon sehr beeinträchtigt, sich ihren Lebensalltag selbst zu gestalten.
Ein schwerer Fehler ist eine Erbkrankheit wie das Meckel-Syndrom, das Neugeborene innerhalb weniger Tage dahinrafft. Angeborene Dummheit mit sonst normaler körperlicher Ausstattung ist ein bedauerlicher Schönheitsfehler, aber gehört noch in die Kategorie "life's a bitch and then you die - get used to it". Wenn wir dagegen über sowas wie das Rett-Syndrom sprechen, bei dem das Kind erst kaum Kontakt aufnehmen und sich kaum bewegen kann, dann keinen Kontakt mehr aufnehmen und sich gar nicht mehr bewegen kann, und man im Grunde schon hoffen muss, dass das Kind so dumm geblieben ist, dass es das Elend nicht mitkriegt, dann, ja, wäre "schwerer Fehler" sicherlich keine falsche Vokabel.
Wenn das Kind erstmal da ist, muss man natürlich alles tun, damit es ihm so gut ergeht wie unter den Umständen möglich, aber wenn diese Existenz erspart werden kann, dann ist PID nichts, was irgendjemandem weh tut. Auch dem Kind nicht, denn das existiert schlichtweg nicht. Wer nicht existiert, hat keine Ansprüche.
Gernot Back hat geschrieben:Späte Schwangerschaftsabbrüche finden dagegen auch oft aus sozialer Indikation heraus statt und solche Embryonen hatten mit Sicherheit keine handverlesene Frühphase.
Ja nun, da stimme ich zu, ist aber ein anderes Thema. Späte Schwangerschaftsabbrüche, wo das Kind schon einiges mitkriegt und leidensfähig ist, halte ich auch nur bei Lebensgefahr für vertretbar. Hat aber mit PID erstmal nur peripher zu tun.
stine hat geschrieben:mat-in hat geschrieben:Ich kann schon verstehen das man in einen Konflikt geraten kann, was denn nun Leben ist und was nicht, was man schützen muß, was nicht...
Genau das ist der springende Punkt. Ich denke, dass sich die Grenzen mehr und mehr verschieben werden. Ist das eine erst gang und gäbe, so ist der nächste Schritt vorbereitet. Letztlich ist alles eine Sache der Gewöhnung.
Der Punkt, an dem es meiner Meinung nach kritisch wird, ist der, wo Eltern fashion-Merkmale für ihr Kind haben wollen, eine bestimme Haar- oder Augenfarbe oder Muskulösität beispielsweise. Das Kind als It Bag, das die Erwartungen der Eltern erfüllen muss, das ist meine größere Sorge als der vielbeschworene Massenmord an Zellhaufen.
Der ethische Kompass der Welt, naja, zumindest der westlichen, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten tendentiell immer mehr verfeinert. Wir haben zunehmend mehr Menschen- und Bürgerrechte, die noch dazu auch tatsächlich eingefordert und eingehalten werden. Diskussionen über Schwulenrechte, über die Integration von ethnischen Nichteuropäern, über das Recht eines Kindes nicht geschlagen zu werden und eine pädagogisch ausgefeilte Bildung zu genießen oder über das Recht von Frauen mehr zu dürfen, als vielleicht ein bisschen zu wählen und in der Fabrik zu arbeiten, oder der breiten Trend zur fleischlosen Ernährung, all das wäre noch vor 30 Jahren so nicht möglich gewesen, wie es heute selbstverständlich passiert. Gewöhnungssache, sicherlich, aber doch eindeutig mit positiv-konstruktiver Tendenz! Ich sehe wirklich keinen Grund, vor einer lieblosen Maschinenwelt Angst zu haben, in der gnadenlos jeder aussortiert wird, der nicht 30% Rendite bringt. PID erlauben und Behindertenförderung ausbauen (derzeit z.B. durch die stufenweise Rücknahme der schulischen Diskriminierung von Behinderten und Sonderschülern) geht doch beides zusammen. Ich habe keine Angst vor der Zunahme körperlicher Gewalt, zu der ich auch Abtreibung zähle. Sorge macht mir eher, dass Gewalt in Zukunft mehr und mehr verschleiert werden könnte, etwa eben, indem Eltern ihr Kind zwar lieben, es aber auch vor der Geburt schon nach ihrem Wunsch modelliert haben könnten. Das geht mit der derzeitigen PID noch nicht, aber es kommt irgendwann. Wenn es soweit ist, müssen wir, wie gesagt, diese Debatte erneut führen und uns überlegen, wie wir verhindern können, dass Eltern im wahrsten Sinne des Wortes Kreationisten werden. In der Zufälligkeit des Zeugungsaktes liegt ja nun auch eine gewisse Freiheit für das entstehende Leben, die sollte nur insofern eingeschränkt werden, dass großes Leid verhindert wird. Für sonstige Gestaltungswünsche darf kein Platz sein, da sind wir uns wahrscheinlich einig.