"Kein freier Wille" also neues Selbstbild

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Beitragvon ganimed » Di 30. Sep 2008, 20:45

Bei Wikipedia heißt es zu Wolf Singer, einem Hirnforscher, unter anderem: "Singer argumentiert, das naturwissenschaftliche Kausalmodell, nach dem die Welt als geschlossenes deterministisches Ganzes anzusehen ist, schließe Freiheit aus."

Ich neige dazu, zuzustimmen. Und müsste das nicht laut Definition jeder Bright? Oder enge ich da den Begriff zu sehr ein?

Wenn es keinen Nichtdeterminismus, keinen externen übernatürlichen Funken im Kopf gibt, dann muss in einem kausalen Universum der Wille des Menschen und jede seiner Entscheidungen letztendlich das Ergebnis von neuronalen Prozessen sein, die letztendlich wiederum von externen Faktoren angeregt wurden. Der Mensch hat einen Willen, aber keinen unabhängigen, sondern einen, der von ursächlichen Faktoren abhängt.

Wenn ich also meiner Frau erzähle, dass ich unbedingt das rote Hemd anziehen will, und sie mich fragt: "wieso das denn?", dann ist für einen Bright "weil ich es will" einfach keine adäquate Antwort mehr. Es gibt zweifelsfrei bestimmte Ursachen für jedes Wollen, für jede Entscheidung, die wir treffen. Sie müssen uns aber nicht bewusst sein und sind es meistens auch nicht.

Aaaaalso, wenn das mit der Nichtexistenz eines freien Willen so stimmt, was, so frage ich mich und euch dann sofort, sind daraus die Konsequenzen für mein Selbstbild?

Ein paar Ergebnisse meiner persönlichen Überlegungen:

1) "Kein freier Wille" macht frei. Man kann direkt befreit aufatmen. Wenn ich an mir selber beobachte, dass ich seit Jahr und Tag immer nur rote Hemden anziehe, dann wird das wohl seinen Grund haben. Verständnislose Fragen meiner Frau nach dem "Warum" kann ich zwar immer noch nicht beantworten, aber wenigstens kann ich ihr mitteilen, dass es einen oder mehrere Gründe gibt. Damit bin ich erstmal raus aus der Rechtfertigungsnot. Verantwortung trage ich nur noch für die Handlung, nicht mehr für die Entscheidungsfindung. Ich muss also nicht länger so tun, als wüsste ich immer, wieso ich etwas tue. Sehr befreiend.

2) "Kein freier Wille" macht schlau. Wenn ich an mir selber beobachte, dass ich seit Jahr und Tag immer nur rote Hemden anziehe, dann hat das offenbar seine Gründe, vermutlich irgendwo im Unterbewusstsein zu suchen. Da ich per Definition aber nicht so genau weiß, was im Unterbewusstsein vor sich geht, ist eine indirekte Informationsquelle natürlich sehr willkommen. Durch Rückschlüsse kann ich also vielleicht doch herausfinden, wie ich ticke und wer ich eigentlich bin. Rote Hemden verraten vielleicht eine ganze Menge über den Menschen darin. Und beim Mitmenschen funktioniert das natürlich auch. Wenn ich nicht mehr davon ausgehen muss, dass dessen Entscheidung vielleicht einfach nur mal so aus heiterem Himmel fiel, sondern immer Gründe hat, werde ich sicher eine etwas bessere Grundlage haben, ihn anhand seiner Entscheidungen zu beurteilen.

3) "Kein freier Wille" macht friedlich. Endlich wird einem klarer, wieso man eigentlich nie wieder rote Hemden anziehen wollte aber es doch immer wieder tut. Wenn man den Selbstanspruch aufgegeben hat, zu rein rationalen Entscheidungen fähig zu sein, bei denen man Herr im Hause wäre, dann wird man auch angesichts täglicher Widersprüche nicht mehr verzweifeln. Es wird mit der Hirnfoschung endlich verständlich, wieso ich das eine will und das andere tue. Wieso mein Bewusstsein so oft gegen unterbewusste Regungen verliert, ohne es so richtig zu merken.

4) "Kein freier Wille" schützt gegen falsche Schuldzuweisungen. Wie in einem anderen Thread schon mal angedeutet, wollte ich eigentlich längst abgenommen haben, bin aber immer noch dick. Nun muss ich mir dank der Hirnforschung nicht mehr so lächerliche Beurteilungen wie "selbst schuld" oder "wenn du nur richtig wolltest, wärst du längst dünn" anhören. Ok, anhören muss man sie sich hin und wieder schon noch, aber glauben muss ich es nicht mehr.

Sorry für das viele Gefasel. Ist nunmal mein Lieblingsthema. Bin gespannt auf neue Anregungen!
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon Myron » Di 30. Sep 2008, 21:06

"Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach "Freiheit des Willens", in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen'schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in's Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt dergestalt hinter die bäurische Einfalt dieses berühmten Begriffs "freier Wille" und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn nunmehr, seine "Aufklärung" noch um einen Schritt weiter zu treiben und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs "freier Wille" aus seinem Kopfe zu streichen: ich meine den "unfreien Willen", der auf einen Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft. Man soll nicht "Ursache" und "Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt -) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie "Wirkt"; man soll sich der "Ursache", der "Wirkung" eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung. Im "An-sich" giebt es nichts von "Causal-Verbänden", von "Nothwendigkeit", von "psychologischer Unfreiheit", da folgt nicht "die Wirkung auf die Ursache", das regiert kein "Gesetz". Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese Zeichen-Welt als "an sich" in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch. Der "unfreie Wille" ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen. - Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber mangelt, wenn ein Denker bereits in aller "Causal-Verknüpfung" und "psychologischer Nothwendigkeit" etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen, Druck, Unfreiheit herausfühlt: es ist verrätherisch, gerade so zu fühlen, - die Person verräth sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber immer auf eine tief persönliche Weise die "Unfreiheit des Willens" als Problem gefasst: die Einen wollen um keinen Preis ihre "Verantwortlichkeit", den Glauben an sich, das persönliche Anrecht auf ihr Verdienst fahren lassen (die eitlen Rassen gehören dahin -); die Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld sein und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus, sich selbst irgend wohin abwälzen zu können. Diese Letzteren pflegen sich, wenn sie Bücher schreiben, heute der Verbrecher anzunehmen; eine Art von socialistischem Mitleiden ist ihre gefälligste Verkleidung. Und in der That, der Fatalismus der Willensschwachen verschönert sich erstaunlich, wenn er sich als "la religion de la souffrance humaine" einzuführen versteht: es ist sein "guter Geschmack"."

(Nietzsche, "Jenseits von Gut und Böse", §21)
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon Myron » Di 30. Sep 2008, 21:08

ganimed hat geschrieben:Bei Wikipedia heißt es zu Wolf Singer, einem Hirnforscher, unter anderem: "Singer argumentiert, das naturwissenschaftliche Kausalmodell, nach dem die Welt als geschlossenes deterministisches Ganzes anzusehen ist, schließe Freiheit aus."


Tja, fragt sich, von welchem Freiheitsbegriff Singer ausgeht.

Allgemein zum Thema: http://plato.stanford.edu/entries/freewill
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon ganimed » Mi 1. Okt 2008, 20:29

Das Nietzsche-Zitat verstehe ich nicht so ganz. Glaubt Nietzsche, dass es keinen freien Willen gibt und dass es keinen unfreien Willen gibt? Ist Nietzsche verrückt oder hat er nur nicht gemerkt, dass das ein Widerspruch ist? Oder verstehe ich das nur falsch?

Vermutlich letzteres. Eine Erläuterung für mich Philosophie-Stümper wäre jetzt genau das richtige.

Myron hat geschrieben:Tja, fragt sich, von welchem Freiheitsbegriff Singer ausgeht.

Ich interpretiere hier "frei" im Sinne von "ganz oder teilweise ohne Ursache", also im Sinne von "unabhängig von ursächlichen Faktoren". Was könnte er sonst gemeint haben?

Myron, was ist eigentlich deine Meinung zum Thema? Gibt es in deinem Kopf einen nichtkausalen Ausgangspunkt für Entscheidungen? Einen Entscheidungsfaktor, der nicht von irgendeinem anderen Faktor oder einem Eingangssignal abhängt?
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon HF******* » Do 2. Okt 2008, 10:07

Es vermengen sich hier zwei verschiedene Bereiche: Bei Singer geht es um den Nachweis, ob der Wille kausal bedingt ist, bei Nietzsche um die grundsätzliche Frage des Determinismus, der zwangsläufig zu einem kausal bedingten Willen führt. Für den Determinismus brauchen wir nicht erst Singer, sondern für einzelne Nachweise. Erst Singer wirft die Fragestellung auch für den Indeterministen auf: Und das ist völlig unabhängig davon, ob jemand ein Bright ist oder nicht.

Die Kompatibilisten gehen davon aus, dass freie Wille und kausale Bestimmtheit des Willens vereinbar sind. Es kommr darauf an, was man unter Freiheit versteht. An unserer mangelnden intuitiven Wahrnehmung von Willensursachen ändert sich bei dem rationalen Verständnis eines kausal bestimmten Willens nichts. Was haben Freiheit ansich und Kausalität des Willens überhaupt miteinander zu tun?

@Ganimed: Vielleicht hast Du ein metaphysisches Verständnis von dem, was "Verwantwortung" oder "Schuld" bedeuetet?

Die Schlussfolgerung, dem Unterbwusstsein Vorrang vor dem Bewisstsein zu geben in dem Sinne, dass man den eigenen Willen plötzlich hintenan stellt, kann ich nun gar nicht mehr nachvollziehen. Wenn Du feststellst, dass der Wille zum Abnehmen durch das Unterbewusstsein, durch den Esstrieb oder mangelnde Selbstdisziplin unterlaufen werden, die vielleicht viel langfristigere Ursachen haben, dann kann man doch daran arbeiten: Wenn man sie ignoriert, weil man meint, es käme nur auf den grundsätzlich gefassten Willen an und alles andere ignoriert, kann man auch nicht daran arbeiten.

Das sollte aber eigentlich auch nicht anders sein, wenn jemand seinen Willen für akausal hält: Den Einfluss des Unterbewusstseins oder langfristiger "Abrichtungen" des Menschen kann man dann ebensowenig abstreiten.
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon Mark » Do 2. Okt 2008, 10:56

Man muss zu Bedenken geben, ob man eine "Determiniertheit" des Universums von Stelle eines relativistischen Betrachtungspunkts innerhalb des Universums überhaupt rückschliessen kann. Meiner Meinung nach ist die Diskussion über Determinie nicht führbar, und auch keinerlei Rückschlüsse aus Theorien darüber sollten sich auf unsere Entscheidungen auswirken. Keinerlei Urteile sollten davon geprägt werden , vor Gericht sollte man sowas aus dem Protokoll streichen... Hinten raus kommt aber immer noch ein Bright-Weltbild ;-)

Insofern muss ich dem Herrn Singer mindestens vorhalten : eine naturwissenschaftliche Moral wird sich gewiss nicht davon beeindrucken lassen dürfen, was wer über eine was-weiss-ich-wie-gemeinte-Determiniertheit des Universums aussagt, denn seien wir mal ehrlich : Es ist doch genauso gut denkbar, daß ein eingreifender Gott der ausserhalb von Zeit und Raum steht, alles genau so determiniert hat, und das lässt auch viel Luft für Wundererklärungen die nicht wiederlegt werden können ! Also sollten wir im Zwiespalt der Ansichten die vernünftige dritte Option wählen die uns Brights eben so gut und gern offensteht : "ich weiss nicht !"
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon HF******* » Do 2. Okt 2008, 17:14

@Mark: Soll man dann vorsichtshalber von einer indeterministischen Position ausgehen, wenn sich der Determinismus nicht feststellen lässt oder von einer deterministischen? Was haben die Erkenntnisse der Hirnforschung mit dem Rest des Universums zu tun?
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon Gandalf » Do 2. Okt 2008, 19:43

ganimed hat geschrieben:Bei Wikipedia heißt es zu Wolf Singer, einem Hirnforscher, unter anderem: "Singer argumentiert, das naturwissenschaftliche Kausalmodell, nach dem die Welt als geschlossenes deterministisches Ganzes anzusehen ist, schließe Freiheit aus."

Wenn es keinen Nichtdeterminismus, keinen externen übernatürlichen Funken im Kopf gibt, dann muss in einem kausalen Universum der Wille des Menschen und jede seiner Entscheidungen letztendlich das Ergebnis von neuronalen Prozessen sein, die letztendlich wiederum von externen Faktoren angeregt wurden. Der Mensch hat einen Willen, aber keinen unabhängigen, sondern einen, der von ursächlichen Faktoren abhängt.


Diese Annahme ist nur zulässig, wenn sie voraussetzt, dass sich der Betrachter bewusst darüber ist, das es niemals auch nur eine theoretische Möglichkeit gibt, die Ereignsikette 'vollständig' erfassen zu können.

... und wenn es diese Möglichkeit nun mal nicht gibt, - sind die Überlegungen zu Punkt 1) bis 4) nur "Psychotherapie"
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon ganimed » Do 2. Okt 2008, 20:05

HFRudolph hat geschrieben:Die Kompatibilisten gehen davon aus, dass freie Wille und kausale Bestimmtheit des Willens vereinbar sind. Es kommr darauf an, was man unter Freiheit versteht.

Aber ich habe doch oben weiter geschrieben, was ich genau unter "Freiheit" verstehe.
"Ich interpretiere hier 'frei' im Sinne von 'ganz oder teilweise ohne Ursache', also im Sinne von 'unabhängig von ursächlichen Faktoren'."
Was sagen denn die Kompatibilisten, wenn man von diesem meinem Freiheitsbegriff ausgeht? Geben sie mir dann recht und stimmen zu, dass es in diesem meinem Sinne keinen freien Willen geben kann?

HFRudolph hat geschrieben:Die Schlussfolgerung, dem Unterbwusstsein Vorrang vor dem Bewisstsein zu geben in dem Sinne, dass man den eigenen Willen plötzlich hintenan stellt, kann ich nun gar nicht mehr nachvollziehen.

Habe ich dem Unterbewusstsein Vorrang vor dem Bewusstsein gegeben? Hm irgendwie schon. Mein Bewusstsein möchte abnehmen. Insgesamt, also Bewusstsein und Unterbewusstsein entscheiden aber offenbar als Team auf längere Sicht gesehen, dass wir lieber doch nicht abnehmen. Ich nehme da erstmal nur die Tatsachen zur Kenntnis. Und bei der Frage "heee, wieso haben wir nicht abgenommen, liebes Team?" muss ich vermuten, dass hier das Unterbewusstsein mein Bewusstsein teilweise überstimmt hat.

In deiner Schlussfolgerung steckt aber ein dicker Fehler. Selbst wenn das Unterbewusstsein Vorrang vor dem Bewusstsein hat, stelle ich meinen eigenen Willen nicht plötzlich hintenan. Definierst du "eigener Wille" mit dem, was das Bewusstsein will? Wie bezeichnest du dann das, was das Unterbewusstsein will? Und was sagst du zu dem Mischergebnis, was beide im Team entscheiden? Dein Fehler ist, so meine ich, ad hoc den Willen mit dem kleinen Teil des Wollens gleichzusetzen, was dir zufällig bewusst ist. Ich verstehe unter Willen ganz allgemein das Ergebnis des neuronalen Entscheidungsprozesses. Welche Schnippsel davon aus welchen Gründen in mein Bewusstsein geraten, ist mir dabei erstmal egal und ja auch für die Entscheidung unerheblich.

HFRudolph hat geschrieben:Wenn Du feststellst, dass der Wille zum Abnehmen durch das Unterbewusstsein, durch den Esstrieb oder mangelnde Selbstdisziplin unterlaufen werden, die vielleicht viel langfristigere Ursachen haben, dann kann man doch daran arbeiten: Wenn man sie ignoriert, weil man meint, es käme nur auf den grundsätzlich gefassten Willen an und alles andere ignoriert, kann man auch nicht daran arbeiten.

Um daran zu arbeiten, wie du schreibst, brauche ich ja eine Entscheidung meines Gehirns: "Soll ich daran arbeiten? ja!"
Woher soll diese Entscheidung kommen? Soll ich mir die Motivation dazu aus einem akausalen Funkengenerator schnitzen? Entpuppst du dich an dieser Stelle also doch als Anhänger eines akausalen, nicht naturalistischen Ansatzes? Steht das Bewusstsein doch irgendwie oberhalb des physikalischen, neurologischen Gehirns und kann sich seine eigenen Gedanken machen, eigene Entscheidungen treffen und "seinen" Willen vielleicht doch noch durchsetzen? Nein, natürlich nicht. Mein Bewusstsein ist ein Teil dieses neuronalen Gehirns und kann sich deshalb nicht einfach, ohne Ursache, nur weil es das will, irgendein Überstimmungsvotum generieren oder die Wichtung von Entscheidungsfaktoren 'willkürlich' ändern.

Oder anders gesagt: natürlich habe ich als Bewusstsein bereits alles versucht und, wie du schreibst, daran "gearbeitet". Das Ergebnis war bisher, dass ich nicht abgenommen habe. Wie erwähnt, muss man also folgern, dass da offenbar insgesamt gegen meinen "Arbeitsantrag" abgestimmt wurde.

Das mag ja irgendwie "hilflos" klingen, zugegeben. Aber immernoch besser, ich habe eine Erklärung für die Tatsachen, als wenn ich diese Erklärung nur deshalb ablehnte, weil sie den Menschen als "hilflos" erscheinen lässt. Ich meine, welche bessere Erklärung hast du dafür, dass ich nicht abgenommen habe? Oder dass Millionen anderer Menschen, die Diäten machen oder Sport treiben und es alle versuchen, das nicht schaffen? Sag jetzt bitte nicht: "die wollen alle nur nicht richtig" :^^:
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon ganimed » Do 2. Okt 2008, 20:18

Gandalf hat geschrieben:Diese Annahme ist nur zulässig, wenn sie voraussetzt, dass sich der Betrachter bewusst darüber ist, das es niemals auch nur eine theoretische Möglichkeit gibt, die Ereignsikette 'vollständig' erfassen zu können.

Ich verstehe dich nicht. Beziehungsweise, was ich zu verstehen glaube ergibt nur Unsinn. Wenn ich ein physikalisches Gehirn in einem kausalen Universum habe, dann ich es doch völlig logisch, dass jeder Vorgang in diesem Gehirn auch kausal ist, oder? Wieso soll diese Annahme nur dann zulässig sein, wenn man die Ursachenkette niemals ganz erfassen kann? Ägypten?

Da bitte ich um eine gedulige, ausführliche Erläuterung.
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon Gandalf » Fr 3. Okt 2008, 13:55

@ganimed

(Wenn Du Geduld hast, wird das schon noch ausführlicher ;-) )

Im Prinzip hatten wir es ja schon hier
Die Modelle der Neurowissenschaftler basieren durchweg auf 'energetisch kausalen Wirkzusammenhängen'. Diese stellen jedoch "quantenphysikalisch beleuchtet" durchwegs eine rein subjektive(!) 'Nachhersage' dar. Diese Nachhersage basiert...
a) - nach der Kopenhagener Interpretation der QT - auf einen "Zusammenbruch der Wellenfunktion" (eine Vorstellung die ich für Schwachfug halte), die von einem "Beobachter" (das kann z.B. auch die Nachbarzelle des Neurons sein) ausgelöst wird (und damit erst physikalische Wirklichkeit entsteht, wo vorher keine vorhanden war)
b) nach den der Viele-Welten-Interpretation, auf einer 'Wahl' (des "Beobachters") zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die jedoch 'alle' gleichermaßen physikalisch vorhanden sind.
Bild

Erst im "Rückspiegel" zeigt sich dem dem klassischen Naturwissenschaftler ein vermeintlich stringender ("unfreier") Handlungszweig! (Wie das Bild oben (unvollkommen) zeigt - hätte es rückwirkend betrachtet gar nicht anders kommen können!) Dieser stellt jedoch eine selbstbezügliche Auswahl aus einer 'viel größeren Wirklichkeit' dar, die uns zwar grundsätzlich verborgen bleiben muss, sich aber an den 'Wegpunkten' durch Interferenzen nachweisen lässt. (Bzw. nachweisen liese, so denn man danach sucht)

Was aber Neurowissenschaftler grundsätzlich nicht zu interessieren scheint ( - außer dem seeligen J.C. Eccles vielleicht). Daher kann ich ein leichtes "Stirnrunzeln" regelmäßig nicht unterdrücken, wenn über den "freien Willen" diskutiert wird und sich die Diskussion lediglich und immer wieder nur auf klassische selbstbezügliche Zusammenhänge (Nachhersagen) bezieht. <> Genauso als ob man die bei uns eintreffende Sonnenenergie auf Kohlefeuer auf der Oberfläche zurückführt (Sitchwort: "irgendeine Ursache muss diese Energie doch haben!?"), - nur weil man von Kernenergie noch nichts gehört oder verstanden hat)

Grüße
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon ganimed » Fr 3. Okt 2008, 14:28

Vielen Dank für die Erläuterung!

Du bezeichnest den Bezug zur Quantenphysik selbst als Unfug. Ich würde zustimmen. Im makroskopischen Neuronengeflecht spielen Quantenphänomene keine Rolle.

Die Viele-Welten-Theorie, wozu brauche ich die nochmal? Um mir doch ein nicht deterministisches Element zurecht zu schnitzen? Wieso der Aufwand? Sollte man nicht nach dem Sparsamkeitsprinzip die viel einfachere Erklärung mit einer Welt und einem unfreien Willen nehmen?

Deine Grafik ist vielleicht ganz hilfreich. Je nachdem ob der obere oder der untere Impuls stärker ist, setzt sich eine Seite durch. Welcher Ausgangspunkt auf der rechten Seite also letztendlich am linken Ende ankommt, würde demnach durch die Impuls-Potentiale bestimmt. Ich vermute, so etwas ist für einen Netzwerktechniker einfachste Routinearbeit.

Gandalf hat geschrieben:(Wie das Bild oben (unvollkommen) zeigt - hätte es rückwirkend betrachtet gar nicht anders kommen können!) Dieser stellt jedoch eine selbstbezügliche Auswahl aus einer 'viel größeren Wirklichkeit' dar

Hm, dieses Argument verstehe ich wieder nicht. Wieso soll man denn die viel größere Wirklichkeit betrachten? Willst du behaupten, dass es doch anders hätte kommen können und ein anderer Pfad der größeren Wirklichkeit hätte der auserwählte werden können? Wenn ja, unter welchen Bedingungen hätte das geschehen sollen? Die Pfadauswahl erfolgt doch deterministisch. Bei gleichen Ausgangsbedingungen also immer gleich. Wieso also die viel größere Wirklichkeit betrachten, wenn sie doch nur unterlegene, also nicht gewählte Wege enthält?

Oder willst du mit der Kritik am Nachhersageprinzip nur darauf hinaus, dass man seinen eigenen Willen nicht vorher berechnen, also nicht vorhersagen kann? Unfrei bedeutet nach meinem Verständnis, dass das Ergebnis kausal abhängig ist von Eingangsparametern. Ob man das vorhersagen kann oder nur nachhersagen, spielt dafür überhaupt keine Rolle, oder?
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon Gandalf » Fr 3. Okt 2008, 16:07

ganimed hat geschrieben:Vielen Dank für die Erläuterung!
Du bezeichnest den Bezug zur Quantenphysik selbst als Unfug. Ich würde zustimmen. Im makroskopischen Neuronengeflecht spielen Quantenphänomene keine Rolle.

.. hmm, - irgendwas scheinst Du da mißverstanden zu haben!?

ganimed hat geschrieben:Die Viele-Welten-Theorie, wozu brauche ich die nochmal? Um mir doch ein nicht deterministisches Element zurecht zu schnitzen?

... auch das ist das Gegenteil, von dem, was ich hier, - bzw. im anderen Thread gesagt habe!?
ganimed hat geschrieben:Welcher Ausgangspunkt auf der rechten Seite also letztendlich am linken Ende ankommt, würde demnach durch die Impuls-Potentiale bestimmt. Ich vermute, so etwas ist für einen Netzwerktechniker einfachste Routinearbeit.

Die "Impuls-Potenziale innerhalb eines Netzwerkes" haben wenig mit den alternativen Wirklichkeiten der Quantenphysik zu tun haben, die ich angesprochen habe.
ganimed hat geschrieben:Hm, dieses Argument verstehe ich wieder nicht. Wieso soll man denn die viel größere Wirklichkeit betrachten? Willst du behaupten, dass es doch anders hätte kommen können und ein anderer Pfad der größeren Wirklichkeit hätte der auserwählte werden können?

.. nichts weniger.
ganimed hat geschrieben:Die Pfadauswahl erfolgt doch deterministisch. Bei gleichen Ausgangsbedingungen also immer gleich.

Das ist ja genau der Punkt! - Du kannst Dir (prinzipiell!) niemals eine vollständige Übersicht über die gegebenen Bedingungen verschaffen, da es sich bei Quantensystemen (also u.a. auch wir selbst) stets um henadische Systeme handelt. Das was Du Dir verschaffen kannst ist eine 'rückwärtige Auswahl' von selbst gewählten Bedingungen, die Du als "Anfang" definiert hast. (was übrigens auch die Frage beantwortet, wieso das energetische Kausalprinzip in den Naturwissenschaften an der stets fehlenden 'ersten Ursache' unheilbar krankt und die man deshalb gern außen vor lässt, bzw. "verschweigt"). Die sogen. Anfangsbedingungen werden nämlich stets 'jetzt' und 'von Dir' festgelegt! (Das Bild das wir von "der Zeit" haben ist daher regelmäßig falsch)
ganimed hat geschrieben:Unfrei bedeutet nach meinem Verständnis, dass das Ergebnis kausal abhängig ist von Eingangsparametern. Ob man das vorhersagen kann oder nur nachhersagen, spielt dafür überhaupt keine Rolle, oder?

Wenn man das Multiversum objektiv "von außen" betrachten könnte, würde es womöglich keine Rolle spielen. Da wir aber das prinzipiell nicht können, können wir nur über das reflektieren, was wir - für dieses Universum - frei - entscheiden können und in dem wir leben müssen.

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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon ganimed » Fr 3. Okt 2008, 19:46

Tja, so ganz schlau werde ich aus den Argumenten nicht. Auf mich wirkt es so, als würdest du dich mit Händen und Füßen dagegen wehren wollen, eine Unfreiheit des Willens in Betracht zu ziehen.

Und um das nicht zu müssen, greifst du auf Argumenten zurück, die ich in diesem Zusammenhang gar nicht sehen würde. Mal ist unser Gehirn plötzlich der Quantentheorie unterworfen (was ich nicht erkennen kann, Neuronen sind ja keine Quanten), mal sind da plötzlich viele Welten (was als Idee manchmal im Zusammenhang mit Kosmologie aufkommt, bei Betrachtungen des Gehirns ist mir diese Ausflucht neu) und dann, zum Schluss, stellst du noch schnell sämtliche Kausalität in Frage, weil ja die allererste Ursache nicht klar ist.

So ganz plausibel finde ich das nicht. Vielleicht muss man ja auch irgendeine Macke haben, so wie ich, um die Unfreiheit des Willens, die sich aus der Kausalität ganz logisch ergibt, irgendwie akzeptieren zu können. Soweit ich in den Medien beobachtet habe, haben zum Beispiel Philosophen da offenbar ganz erheblich Probleme und Berührungsängste. Ist das vielleicht so ähnlich wie mit der Religion? Die liebgewordenen Vorstellungen auf keinen Fall aufgeben wollen, auch wenn die Logik dabei auf der Strecke bleibt?
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon Gandalf » Fr 3. Okt 2008, 21:40

ganimed hat geschrieben:Ist das vielleicht so ähnlich wie mit der Religion? Die liebgewordenen Vorstellungen auf keinen Fall aufgeben wollen, auch wenn die Logik dabei auf der Strecke bleibt?


du verwechselst hier "Vorstellungen" mit Darlegung experimentell bestätigter physikalischer Zusammenhänge. Und Da Du auf letztere nicht eingehst, gehe ich davon aus, dass es 'Deine liebgewordenen Vorstellungen' (die dadurch gekennzeichnet sind, das Du sie nicht begründest) sind, die Dich an einem Verstehen der Zusammenhänge hindern.
ganimed hat geschrieben:Mal ist unser Gehirn plötzlich der Quantentheorie unterworfen (was ich nicht erkennen kann, Neuronen sind ja keine Quanten

Weder habe ich von "Quanten als Neuronen" gesprochen (sondern von 'Quantensystemen'), noch davon das sie "plötzlich" der QT unterworfen wären (sie sind es immer, - auch wenn im Kontext regelmäßig klassische Beschreibungen genügen sollten, - trifft es in 'diesem Kontext' (der diskutiert wird), - nicht zu)

ganimed hat geschrieben:mal sind da plötzlich viele Welten (was als Idee manchmal im Zusammenhang mit Kosmologie aufkommt

Den Begriff" Multiversum" gibt es schon wesentlich länger im Zusammenhang mit der QT als das ihn die Kosmologen übernommen haben. http://de.wikipedia.org/wiki/Multiversum
Wenn Du das nicht auseinanderhalten kannst oder magst, - laste es bitte nicht mir an und unterstelle mir keine Begriffsverwirrung, - sondern informiere Dich vorher und zelebriere nicht Deine Unkenntnis. (Das Threadthema, das Du eröffnet hast, ist nicht in Form einer Frage gestellt, sondern als eine Behauptung)
ganimed hat geschrieben:zum Schluss, stellst du noch schnell sämtliche Kausalität in Frage, weil ja die allererste Ursache nicht klar ist.

Schwachfug :kopfwand: Ich habe hier und im anderen Thread mehrfach und ausdrücklich betont, das ich nicht 'die' (oder. "sämtliche") Kausaltität' in Frage stelle, sondern die Gleichsetzung 'der' Kausalität mit einer Unterart der selbigen. (der causa efficiens in der klassichen Naturwissenschaft) Folgenden link habe ich Dir ebenfalls schon mal gegeben, in der Hoffnung, das Du Dich kundig machst, bevor Du wiederholt Behauptungen aufstellst, die Du wiederholt nicht belegst: http://de.wikipedia.org/wiki/Kausalit%C3%A4t

ganimed hat geschrieben:Vielleicht muss man ja auch irgendeine Macke haben, so wie ich, um die Unfreiheit des Willens, die sich aus der Kausalität ganz logisch ergibt

Die Macke liegt nicht in 'der Kausalität' selbst, wie Du einnehmend zu implizieren versuchst, - sondern offensichtlich in 'Deinem (falschen) Verständnis' von Kausalität.

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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon ganimed » Sa 4. Okt 2008, 08:14

Um mal wieder konstruktiv zu werden, ich habe noch einen von diesen Links gefunden. Hätte ich auch früher drauf kommen können. "Freier Wille" bei Wikipedia nachschlagen. http://de.wikipedia.org/wiki/Freier_Wille
Das lese ich so, als seien sich eigentlich alle einig, dass freier Wille wirklich nur eine Illusion sei (zumindest im Sinne der Unbedingtheit, also es gibt keinen Willen, der von keinen ursächlichen Faktoren abhängt). Erschütternd irgendwie, dass diese Erkenntnis schon ein ganze Weile vorliegt (Schopenhauer, Nietzsche und ein Zitat von Baltasar Gracián in diese Richtung geht offenbar auf das Jahr 1647 zurück).

Dass Theologen und manche philosophische Lager auch heute noch Probleme mit dem Begriff haben, hätte man vielleicht erwarten können und lässt sich noch verschmerzen. Was mich viel mehr stört ist der auch im Artikel aufgeführte Hinweis auf die Rechtswissenschaft: "Der deutsche Gesetzgeber setzt den freien Willen des erwachsenen Menschen voraus". Das klingt gar nicht gut. Es wundert fast ein wenig, wieso die Rechtsprechung trotz solch falscher Voraussetzungen noch einigermaßen funktioniert.

Am meisten stört mich persönlich die Idee des freien Willens in den Köpfen meiner Umgebung. Wenn ich mich so mit Bekannten unterhalte, da ist diese Erkenntnis von der Illusion des freien Willens doch sehr unterrepräsentiert. Die von mir eingangs angedachten 4 Vorteile des unfreien Willens zum Beispiel, wenn sie denn in dieser Weise wirklich vorlägen, haben insofern also offenbar keine große Nutzungsverbreitung. Schade eigentlich.
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 4. Okt 2008, 14:34

ganimed hat geschrieben:Was mich viel mehr stört ist der auch im Artikel aufgeführte Hinweis auf die Rechtswissenschaft: "Der deutsche Gesetzgeber setzt den freien Willen des erwachsenen Menschen voraus". Das klingt gar nicht gut. Es wundert fast ein wenig, wieso die Rechtsprechung trotz solch falscher Voraussetzungen noch einigermaßen funktioniert.

Und mich wundert fast ein wenig, wie Du einfach mal so voraussetzt, dass hierbei dieselbe Definition des "freien Willens" gemeint sein müsse, die Du hast. Wenn dem aber nicht so ist, dann greifst Du einen selbst gebastelten Pappkamerad an. Und so etwas kann manchmal eventuell irgendwie ein bisschen unfruchtbar sein.

Die Rechtswissenschaft geht davon aus, dass erwachsene Menschen Handlungen, die sie mit bestem Wissen und Gewissen durchführen, gegebenfalls zu rechtfertigen und zu verantworten haben.

Für mich klingt das gut und vor allem sehe ich keine akzeptable Alternative dazu. Ich weiß wohl, dass es einige und wohl auch immer mehr Bestrebungen dafür gibt, zum Beispiel das Strafrecht in ein reines Maßnahmenrecht/Präventionsstrafrecht umzuwandeln. Ich halte das aber nicht für akzeptabel und auch sehe ich keine neue oder alte oder wie auch immer behauptete Erkenntnisgrundlage dafür, die solches als unabwendbare und einzig redliche Reaktion auf den aktuellen Stand des Wissens erscheinen liesse.

ganimed hat geschrieben:Die von mir eingangs angedachten 4 Vorteile des unfreien Willens zum Beispiel, wenn sie denn in dieser Weise wirklich vorlägen, haben insofern also offenbar keine große Nutzungsverbreitung. Schade eigentlich.

Deine obigen "Vorteile" laufen darauf hinaus, alles einfach als Kismet, Schicksal anzusehen und sich dann widerstandslos diesem Schicksal zu ergeben. Mir ist nicht klar, was daran nun so vorteilhaft sein soll.
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon ganimed » Sa 4. Okt 2008, 20:06

AgentProvocateur hat geschrieben:Und mich wundert fast ein wenig, wie Du einfach mal so voraussetzt, dass hierbei [bei der Rechtsprechung] dieselbe Definition des "freien Willens" gemeint sein müsse, die Du hast.

Ein guter Einwand. Das müsste natürlich sichergestellt sein, dass auch der Jurist dasselbe meint. Ich bin mir aber recht sicher, dass es so ist. Denn aus deren "freien Willen" wird ja eine moralische Verantwortung gefolgert, so dass ein falsches Tun bestraft werden kann. Und das geht natürlich nur, wenn man unterstellt, dass der Kriminelle eine echte Wahl hatte, also auch anders hätte entscheiden können. Das ist doch eigentlich schon alles, was ich über deren Begriff "freier Wille" wissen muss, um ihn abzulehnen. Denn eine echte Wahl hat man ja genau nicht, wenn das was Singer und Roth sagen, stimmt (wovon ich ausgehe). Und außerdem stammt der Gedanke mit dem Strafrecht ja gar nicht von mir (schön wärs, wenn ich mal originelle Gedanken zusammen kriegen würde). Ich käue hier ja nur wieder, was ich bei Singer gelesen habe.

Nochmal zitiert aus dem Wikipedia Artikel zu Wolf Singer:
"Singer fordert auch, dass die von ihm behauptete Nichtexistenz von Willensfreiheit Konsequenzen für unsere Konzeptionen von Schuld und Strafe haben müsse. Wenn naturwissenschaftlich gesehen niemand frei entscheiden könne, sei es nicht sinnvoll, Personen für ihr Tun verantwortlich zu machen. Gesellschaftlich untragbare Personen müssten einfach 'weggesperrt' und 'bestimmten Erziehungsprogrammen' – so weiter wörtlich – 'unterworfen' werden."

AgentProvocateur hat geschrieben:Deine obigen "Vorteile" laufen darauf hinaus, alles einfach als Kismet, Schicksal anzusehen und sich dann widerstandslos diesem Schicksal zu ergeben.

Einerseits muss ich dir recht geben. Letztendlich läuft es darauf hinaus, ein Spielball des Schicksals zu sein und die Fäden nicht wirklich selbst in der Hand zu haben. Aber dein zweiter Satz ist falsch "...und sich dann widerstandslos diesem Schicksal zu ergeben."
Was ist denn, wenn ich vom Schicksal dazu ausersehen bin, ständig Widerstand zu üben, vielleicht sogar Widerstandskämpfer zu werden? Was ist, wenn meine Hirnstruktur durch Gene, frühkindliche Prägung und Umwelt so angelegt ist, dass ich ständig Widerstand übe? Was bedeutet es dann noch, sich widerstandslos dem Dasein eines Widerstandskämpfers zu ergeben? Ich will darauf hinaus, dass dieses "sich ergeben" absolut nichts mit Passivität zu tun hat. Auch ich stehe jeden Morgen auf. Es ändert sich im Leben zu 99,9% gar nichts. Man macht genau dasselbe, will genau so viel und wird bei Widerstand genauso unwillig wie jemand, der einen freien Willen zu haben glaubt. Nur kann man die Welt mit der richtigen Theorie, nämlich dass es keinen freien Willen gibt, viel besser erklären und sich selbst und andere viel besser verstehen. Erkenntnisgewinn eben, Aufgeklärtheit.
Macht es dich, wenn du noch an die Freiheit des Willens glaubst, gar nicht nervös, dass Wissenschaftler das bestreiten während die katholische Kirche das als Dogma vertritt?
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 4. Okt 2008, 21:38

ganimed hat geschrieben:Denn aus deren [Juristen] "freien Willen" wird ja eine moralische Verantwortung gefolgert, so dass ein falsches Tun bestraft werden kann. Und das geht natürlich nur, wenn man unterstellt, dass der Kriminelle eine echte Wahl hatte, also auch anders hätte entscheiden können.

"Natürlich"?

Lies zum Beispiel hier und dann begründe erst mal Deine Ansicht.

Ein simples "natürlich" kann ich leider als Begründung nicht akzeptieren.

ganimed hat geschrieben:Nochmal zitiert aus dem Wikipedia Artikel zu Wolf Singer:
"Singer fordert auch, dass die von ihm behauptete Nichtexistenz von Willensfreiheit Konsequenzen für unsere Konzeptionen von Schuld und Strafe haben müsse. Wenn naturwissenschaftlich gesehen niemand frei entscheiden könne, sei es nicht sinnvoll, Personen für ihr Tun verantwortlich zu machen. Gesellschaftlich untragbare Personen müssten einfach 'weggesperrt' und 'bestimmten Erziehungsprogrammen' – so weiter wörtlich – 'unterworfen' werden."

Meine Fragen hier sind a) warum sollte dies und aus was überhaupt folgen und b) wäre solches für Dich erstrebenswert und wenn ja, warum?

Bedenke dabei, dass hier gefordert wird, Menschen nicht als Subjekte, sondern als Objekte zu behandeln.

ganimed hat geschrieben:Was ist denn, wenn ich vom Schicksal dazu ausersehen bin, ständig Widerstand zu üben, vielleicht sogar Widerstandskämpfer zu werden? Was ist, wenn meine Hirnstruktur durch Gene, frühkindliche Prägung und Umwelt so angelegt ist, dass ich ständig Widerstand übe? Was bedeutet es dann noch, sich widerstandslos dem Dasein eines Widerstandskämpfers zu ergeben? Ich will darauf hinaus, dass dieses "sich ergeben" absolut nichts mit Passivität zu tun hat. Auch ich stehe jeden Morgen auf. Es ändert sich im Leben zu 99,9% gar nichts.

Wenn sich nichts ändern würde, dann wäre Deine Ansicht irrelevant.

Wenn sich jedoch etwas ändern soll, dann ist die Frage, a) was sich ändern soll, b) warum es sich ändern soll und c) inwiefern es besser wäre, dass es sich ändert.

ganimed hat geschrieben:Nur kann man die Welt mit der richtigen Theorie, nämlich dass es keinen freien Willen gibt, viel besser erklären und sich selbst und andere viel besser verstehen. Erkenntnisgewinn eben, Aufgeklärtheit.

Es gibt mE gar keine Alternative dazu, dass man annimmt, es könne einen fruchtbaren Diskurs geben, man könne also Argumente verwenden und diese Argumente könnten etwas bewirken. Anders gesagt: wir sehen die anderen als autonome Agenten an, als Subjekte.

Wenn Du aber eine Alternative zu dieser Sichtweise hast, dann bitte, zeige sie, ich bin sehr gespannt. Die Alternative von oben jedoch, die Singer vorgeschlagen hat, man müsse Menschen wie Objekte behandeln, erscheint mir nicht besonders verlockend.

ganimed hat geschrieben:Macht es dich, wenn du noch an die Freiheit des Willens glaubst, gar nicht nervös, dass Wissenschaftler das bestreiten während die katholische Kirche das als Dogma vertritt?

Hm? Du meinst, ich müsse meine Meinung von der katholischen Kirche abhängig machen? Warum sollte ich?
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Re: "Kein freier Wille" also neues Selbstbild

Beitragvon ganimed » Sa 4. Okt 2008, 22:33

meiner selbst hat geschrieben:Denn aus deren [Juristen] "freien Willen" wird ja eine moralische Verantwortung gefolgert, so dass ein falsches Tun bestraft werden kann. Und das geht natürlich nur, wenn man unterstellt, dass der Kriminelle eine echte Wahl hatte, also auch anders hätte entscheiden können.

Wenn die "natürliche" Folgerung nicht gelten würde, dann bliebe ja folgender Sachverhalt stehen: Eine Tat wird bestraft, obwohl der Täter gar keine Wahl hatte und deshalb für die Tat moralisch nicht verantwortlich ist. Dieser Sachverhalt ist jedoch Unsinn. Oder würdest du jemanden für etwas bestrafen, was dieser jemand gar nicht anders tun konnte? Dann könnte man ja genau so gut Kinder für sich haften lassen. Das Argument, dass die Kinder zu unreif sind, eine moralische Verantwortung zu tragen, würde dann ja hinfällig geworden sein, weil ja jeder Täter auch ohne moralische Verantwortung bestraft werden kann.

Also entweder, man unterstellt einen "freien Willen" (wobei das schon der hier gemeinte Begriff ist) und kann dann Täter bestrafen. Oder man streitet den "freien Willen" ab und kann dann nicht mehr bestrafen, sondern nur noch sachlich geeignete Maßnahmen anorden, wie immer die im gesellschaftlichen Kontext definiert sind.

AgentProvocateur hat geschrieben:Meine Fragen hier sind a) warum sollte dies und aus was überhaupt folgen und b) wäre solches für Dich erstrebenswert und wenn ja, warum?
Bedenke dabei, dass hier gefordert wird, Menschen nicht als Subjekte, sondern als Objekte zu behandeln.

Nehmen wir an, ich hätte gestern jemanden tätlich angegriffen, der mir in einer Diskussion widersprochen hat (nur mal angenommen) und ich stünde heute vor Gericht. Bei der psychologischen Untersuchung wird klar festgestellt, dass ich so handelte, weil ein bestimmtes Thema diskutiert wurde und ich wegen einer frühkindlichen Prägung da nunmal sehr sehr empfindlich wäre.

Fall 1) Das Gericht setzt bei mir einen "freien Willen" voraus. Es wirft mir vor, dass ich mich in der fraglichen Sekunde hätte mäßigen und nicht tätlich hätte werden sollen. Es unterstellt, dass ich die Wahl gehabt hätte und mich friedlich hätte verhalten können. Es bestraft mich für mein Fehlverhalten mit 3 Monaten Knast auf Bewährung.

Fall 2) In einer perfekten Parallelwelt setzt das Gericht bei mir keinen "freien Willen" voraus. Es erkennt aus der psychologischen Untersuchung, welche Faktoren zu meinem Ausrasten führten. Es wägt die Sachlage ab und entscheidet, dass ich einerseits zur Wiedergutmachung ein Schmerzensgeld zu zahlen habe und andererseits mindestens 5 Sitzungen bei einem Psychater besuchen muss, um mich bei dem fraglichen Thema zu desensibilisieren, wodurch eine Wiederholungstat ausreichend unwahrscheinlich werden sollte.

Ich würde gerne in der Welt von Fall 2 leben, wo das Gericht die Sache so sieht, wie sie der Wissenschaft zufolge auch ist. Selbst wenn das bedeutet, dass man überspitzt sagen könnte, ich sei nur als menschlisches Objekt behandelt worden. Aber wenigstens werde ich da behandelt und nicht einfach mit einem unsinnigen moralischen Vorwurf konfrontiert und mit einer dementsprechend unsinnigen Strafe belegt.

AgentProvocateur hat geschrieben:Es gibt mE gar keine Alternative dazu, dass man annimmt, es könne einen fruchtbaren Diskurs geben, man könne also Argumente verwenden und diese Argumente könnten etwas bewirken. Anders gesagt: wir sehen die anderen als autonome Agenten an, als Subjekte.

Ah, da habe ich dich. Wenn du davon ausgehst, dass Argumente etwas bewirken können, dann siehst du den anderen eben nicht als Subjekt. Wenn der andere wirklich einen "freien Willen" hätte, dann hättest du doch viel weniger Garantie, dass deine Argumente irgendwas bewirken. Der andere könnte ja jederzeit einfach mal so wollen, dass er nichts von deinen Argumenten akzeptiert. Der Andere wäre völlig unberechenbar und Argumente wären hinfällig. Der Wille des Anderen hinge ja angeblich überhaupt nicht von deinen Argumenten ab. Na das wäre eine Chaoswelt, wenn es so wäre.

Nur wenn du annimmst, dass er Sklave seiner neurologischen Denkprozesse ist, kannst du hoffen, dass deine Argumente genau einen jener ursächlichen Faktoren bilden, die seine Entscheidung dann entsprechend beeinflussen. Eine Garantie ist das natürlich, wie wir ja täglich erleben, auch nicht, weil es ja viele andere Faktoren im Kopf des Anderen gibt und man nie wissen kann, wie da die Kräfte verteilt sind. Aber immerhin gibt die Abwesenheit von "freiem Willen" einen gewissen Ansatz für Vernunft und Argumente.

AgentProvocateur hat geschrieben:Du meinst, ich müsse meine Meinung von der katholischen Kirche abhängig machen?

Na von irgendwas muss deine Meinung ja abhängen. Oder willst du etwa behaupten über so etwas wie einen freien Willen zu verfügen? :^^:
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