Eigentlich wollte ich zu dieser Diskussion nichts mehr beitragen, vor allem nachdem ich die Rezensionen und die Diskussion bei Amazon gelesen habe. Dabei fiel mir nämlich auf, dass ich mit einer der dort sehr aktiven Personen schon
an anderer Stelle diskutiert habe, und mir daher eigentlich klar sein musste, dass
Mersch zu dem, was mich an Evolution interessiert, wenig sagt, und das auch klar ausdrückt.
Was ich unter der Evolution verstehe, habe ich
hier etwas näher ausgeführt. Daher kann mir eigentlich das, was
Mersch vertritt, eher egal sein.
Es macht auch wenig Sinn, mir gegenüber Dawkins zu kritisieren, denn der verfolgt schon mit seinen innerbiologischen Auffassungen eine Agenda, die ich
hier etwas näher ausgeführt habe, und weder von egoistischen Genen noch von Soziobiologie, die als 'Evolutionäre Psychologie' auf Menschen angewendet wird, halte ich irgendetwas. Mustergültig hat die Kritik an diesem Ansatz
Dupré, J. (2006) 'Darwin's Legacy. What Evolution Means Today [2003]' Oxford, Oxford University Press
formuliert, dem möchte ich nichts hinzufügen. Auch zu Bauers Buch, das in der Diskussion immer wieder auftaucht, habe ich mich schon das eine oder andere Mal geäußert, beispielsweise
hier. Inzwischen habe ich das Buch mehrfach und sehr genau gelesen, den Ansatz von Bauer finde ich durchaus einer näheren Überprüfung wert, sobald er diesen gelegentlich konkret durchformuliert. Seine Polemik an Dawkins und anderen Autoren ist wenig berechtigt.
Dawkins und
Mersch machen in meinen Augen genau denselben Fehler, allerdings 'von unten' und 'von oben': sie übertragen Betrachtungen aus dem Bereich der Natur auf menschliche Gemeinschaften. Dawkins erfreulicherweise unter dem Gesichtspunkt, dass wir nicht so leben müssen oder gar sollen, während ich bei
Mersch eher eine Agenda sehe (dazu weiter unten mehr).
An
Mersch habe ich im Bereich der Naturwissenschaften nichts auszusetzen, außer dass sein Ansatz bei weitem nicht die Bedeutung hat, die ihm einige Menschen unter Berufung auf
Mersch zuschreiben. Er dreht ein ganz kleines Rädchen im HighEnd-Bereich, in dem er möglicherweise einen Beitrag leisten kann (einen Artikel bei Philosophia Naturalis einzureichen war durchaus sinnvoll, denn mit Naturwissenschaften hat er ja nichts zu tun, wäre vermutlich noch besser gewesen, eine Veröffentlichung in einer soziologischen Zeitschrift zu versuchen, denn da passt das, was er schreibt, vermutlich am besten hin).
jackle hat geschrieben:El Schwalmo hat geschrieben: eher nicht. Er hat auch keine offenen Probleme dessen gelöst, was ich unter 'Evolution' verstehe.
Es interessiert doch nicht allein, was du unter Evolution verstehst.
'Nicht allein' ist ein hübscher Euphemismus. Im Gegenteil, er bekämpft sogar derartige Fragen als Holzweg in Richtung Kreationismus. Er argumentiert auf einer höheren Ebene und interessiert sich nicht für die tieferen, kann sein, dass er sie gar nicht für lösbar hält. Das hat aber Konsequenzen.
jackle hat geschrieben:Er hat Lösungen für Probleme vorgeschlagen (bzw. die sich aus seiner Theorie automatisch ergeben), die in der Wissenschaftswelt als offen gelten.
Wenn man unter 'Wissenschaft' die Soziobiologie versteht, könnte er Recht haben. Seine Idee, dass es möglich ist, dass 'Fitness' mehrere Komponenten hat, die dann dazu führen können, dass 'Fitness' im einen Bereich sich negativ auf 'fitness' in einem anderen auswirkt, könnte Sinn machen.
Letztendlich ist das natürlich die Frage nach dem Tautologie-Vorwurf, der Darwins 'survival of the fittest' gemacht wird. Wenn Du evolutionstheoretische Arbeiten vergleichst, wirst Du merken, dass es mindestens zwei Richtungen gibt. Eine Richtung räumt diesen Vorwurf ein, erklärt ihn aber für unbedeutend. Andere suchen eine Lösung. Einer der ersten war meines Wissens Stegmüller
Stegmüller, W. (1978) 'Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Band 1. 6. Auflage' Stuttgart, Kröner
(ich kann Dir die Belegstelle heraussuchen, falls es Dich interessiert), der darauf hinwies, dass 'Fitness' zwar als Fortpflanzungserfolg gemessen wird, aber etwas anderes bedeutet (meine Formulierung). Es ist kein Zufall, dass Evolutionsbiologen von 'Darwin-Fitness' reden und das genau präzisieren. Wenn man das genauer überlegt, merkt man, dass das in Richtung 'book-keeping' geht, was Gould in
Gould, S.J. (2002) 'The Structure Of Evolutionary Theory' Cambridge, Mass; London, Belknap
am Beispiel von Dawkins und vor allem der STE deutlich gemacht hat. Was interessiert sind aber die Mechanismen, und genau das ist die Ebene, die
Mersch gar nicht interessiert, wohl aber beispielsweise Bauer und natürlich auch die Evolutionsbiologen. Das läuft dann auf die alte Kritik an Darwin hinaus, der den 'survival of the fittest' untersuchte, aber den entscheidenden Punkt, eben den 'arrival of the fittest' nie klären konnte. Die STE war konsequenterweise eine reine Transmissionsgenetik, und man kann zeigen, dass in diesem Weltbild die Entstehung von Neuheiten ein 'Non-Problem' war, denn diese entstehen sozusagen als 'Nebenläufigkeiten'. Kann sein, dass
Mersch das genauso sieht, weil ihn diese Frage gar nicht interessiert. Aber schon Goldschmidt plädierte für eine 'physiologische Genetik', die heute im Gewand von EvoDevo durchaus wieder in den Vordergrund rücken könnte.
Lange Rede, kurzer Sinn:
Mersch kann von seinem Ansatz zu den meiner Meinung nach entscheidenden Fragen der Evolution gar nichts beitragen, und er will es auch nicht. Aber das bedeutet auch, dass sich wohl kaum jemand aus diesem Bereich mit Gewinn mit seinem Ansatz befassen wird.
Noch ein Beispiel:
Mersch schreibt was zur Bedeutung der 'Sexualität' (genauer: Fortpflanzungssystemen). Zur Entstehung der Sexualität kann er so nichts beitragen.
Gerade ist ein Beitrag zu diesem Thema erschienen
Zimmer, C. (2009) 'On the Origin of Sexual Reproduction' Science 324:1254-1256
Zimmer ist Wissenschaftsjournalist, aber er hat einen sehr guten Ruf, und Science ist kein Provinzblättchen. Schau mal, was Zimmer dort diskutiert, und was in der Evolutionsbiologie zur Entstehung der Sexualitiät diskutiert wird und schau, ob der Ansatz von
Mersch (platt formuliert'männliches Geschlecht für die Evolution, weibliches für das Überleben') zu dieser Frage beitragen kann, wenn Du davon ausgehst, dass die ersten sexuellen Formen wohl Isogameten waren, bei denen irgendwelche Partnerwahlen kein Thema waren.
jackle hat geschrieben:Außerdem geht es ihm nicht um Evolution, sondern um Evolutionstheorie.
Eben, und man muss sich fragen, ob das, was
Mersch als 'Evolutionstheorie' bezeichnet, irgendwas mit dem zu tun haben könnte, was Menschen wie ich unter 'Evolution' verstehen. 'Veränderung eines Systems im Lauf der Zeit, okay, aber dann evolviert mein Gartenzaun auch, wenn er rostet.
Nun nur noch kurz ein paar Details aus der letzen Mail:
jackle hat geschrieben:jackle hat geschrieben:El Schwalmo hat geschrieben:Wie gesagt, der Mensch ist eine Marginalie der Evolution.
Nanu? Gerade eben schriebst du noch in einem anderen Thread:
Man braucht nicht an einen Schöpfer zu glauben, um dem Menschen eine Sonderstellung innerhalb der Natur einzuräumen, die keinem anderen Lebewesen zukommt. Ich habe auch kein Problem damit, diese mit 'höher' zu bezeichnen.
jackle hat geschrieben:Sehen so Marginalien aus?
Man kann durchaus eine Sonderstellung innerhalb der Natur einnehmen, wenn man eine Marginalie der Evolution ist. Anbetrachts der Dauer der Evolution auf diesem Planeten sind die paar Jährchen, die der Mensch seine Sonderstellung auskostet, eher vernachlässigbar.
[ ... ]
jackle hat geschrieben:El Schwalmo hat geschrieben: Streng genommen ist Merschs Argumentation eine Version des naturalistischen Fehlschlusses, aber diesmal nicht 'von unten' sondern 'von oben'.
Bitte sachlich argumentieren. So ist das nur Gerede. Was ist an seiner Theorie ein naturalistischer Fehlschluss?
An seiner Theorie nichts. Aber wenn man aus einer Evolutionstheorie (Sein) ein Sollen (man muss eine Gesellschaft so organisieren, dass die 'fitness' die 'Darwin-Fitness' nicht beeinträchtigt), läuft das auf einen Schluss vom Sein auf das Sollen hinaus.
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jackle hat geschrieben:El Schwalmo hat geschrieben: Und Dawkins und klassischen Darwinismus, kein Wunder, dass er sich oft auf Mayr stützt, der von sich selber sagt, dass seine Darstellung 'whiggish' sei. Die Evolutionsbiologie ist schon etwas weiter als Darwin, auch wenn das im Darwin-Jahr nicht viele Menschen offen sagen.
Dann sag du es mal offen. Werden die Prinzipien Variation, Reproduktion und Selektion in Frage gestellt? Wird die Darwinsche Theorie von den Evolutionsbiologen auf dieser Ebene kritisiert? Die wütende Auseinandersetzung zwischen Kutschera et al. und Bauer ist mir noch geläufig. Was wurde da diskutiert?
Diskutiert wird die Frage, ob man mit der Mikroevolution die Makroevolution erklären kann. In der Wissenschaftsgeschichte gibt es eine ganz Reihe derartiger Begriffspaare, die alle dasselbe besagen, zum ersten Mal übrigens bei Lamarck, der schon vor Darwin die erste Evolutionstheorie aufstellte, die diesen Namen verdiente. Die Selektionstheorie, ob Du nun 'Darwinismus' oder 'STE' dazu sagst, ist zwingend auf eine bestimmte Art der Generation der Variation angewiesen, sonst funktioniert sie nicht. Die Frage ist, ob die Variation diese Anforderungen erfüllt.
jackle hat geschrieben:El Schwalmo hat geschrieben: Aber der Mensch evolviert eben nicht so, wie der Rest der Organismenwelt, nach Merschs Definition vielleicht gar nicht mehr. Sein Beispiel mit Hard- und Software ist sehr treffend: wenn man den üblichen Darstellungen glaubt, hat sich seit Jahrzehntausenden an der Hardware nichts mehr getan.
Wie bitte?
Man bezeichnet schon den Cro Magnon-Menschen als 'anatomisch modernen Menschen'. Wenn Du von einer Generationsdauer von 20 Jahren ausgehst, siehst Du auf den ersten Blick, dass eine Evolution via Rekombination von Genen wohl kaum das erklären kann, was in den letzten 200 Jahren ablief.