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Psychologie auf Neurowissenschaft zurückführen.

BeitragVerfasst: So 31. Dez 2006, 16:11
von Max
Psychologie auf Neurowissenschaft zurückführen.
Patricia Churchland im Gespräch mit Markus Christen


Sie nennen sich "Neurophilosophin". Was ist das Hauptziel der Neurophilosophie?

Das Endziel ist die Reduktion der Psychologie auf Neurowissenschaft. Wir wollen verstehen, wie Gedächtnis, visuelle Wahrnehmung oder Bewusstsein funktionieren. Die Frage ist: Wie machen es die Mechanismen auf der neurobiologischen Ebene möglich, dass solche Fähigkeiten im Gehirns entstehen können? Reduktion heißt also, eine Erklärung des Bewusstseins in der Sprache der Neurowissenschaft zu finden, denn alle Aktivitäten des Geistes basieren auf solchen Mechanismen. Deren Verständnis führt zu einem Verstehen des Geistes.

Gibt es keine prinzipiellen philosophischen Gründe gegen diese Sichtweise?

Natürlich gibt es Philosophen, die an solche Gründe glauben, ein Beispiel ist Colin McGinn. Doch ich bin nicht sicher, ob diese überhaupt wissen, welcher Art diese Probleme sind. Es scheint, dass sich diese Philosophen auf ein Argument des Nichtwissens beziehen. Colin McGinn beispielsweise behauptet, das menschliche Hirn sei einfach zu dumm, um herausfinden zu können, wie das Bewusstsein funktioniert. Doch woher weiß er das? Er scheint wie folgt zu argumentieren: Wir haben jetzt keine Ahnung, wie wir jemals den Geist erklären können. Folglich können wir nie aufklären, wie Geist und Hirn verbunden sind. Doch dieses Argument ist falsch.

Sehen Sie denn einen Weg, wie man den Geist verstehen könnte?

Nein, doch das ist nicht weiter relevant. Dies sagt Ihnen lediglich, dass ich nicht weiß, wie man das machen könnte. Wenn sich ein Philosoph nicht vorstellen kann, wie man – salopp gesagt – Gefühl aus Fleisch gewinnen kann, so ist das sein Problem. Die Geschichte der Wissenschaft ist voll von Leuten, welche der Ansicht waren, es gebe prinzipiell unerklärbare Dinge – heute sind sie erklärt.

Könnte das grundsätzliche Problem nicht darin bestehen, dass wir es mit zwei verschiedenen wissenschaftlichen Sprachen zu tun haben - Neurobiologie und Psychologie -, welche nicht aufeinander reduziert werden können?

Wenn Wissenschaft voranschreitet, geht dies einher mit Modifikationen der Sprache. Das Verständnis des Gehirns kann demnach zu einer Verbindung der Sprache der Psychologen und der Sprache der Neurobiologen führen. Heute können wir noch nicht sagen, wie diese Sprache dereinst aussehen wird, doch der Fortschritt der Wissenschaften kann sicherlich solche neuen Sprachen generieren. Demnach sehe ich hier kein grundsätzliches Problem.

Eine Möglichkeit, die Zusammenhänge zwischen Hirnaktivitäten und dem Geist zu verstehen, rekurriert auf das Konzept der Emergenz. Halten Sie dies für eine wissenschaftlich überhaupt verständliche Position?

Wenn man Bewusstsein derart als emergente Eigenschaft des Gehirns auffasst, dass man Bewusstsein deshalb niemals verstehen kann, ist dieser Ansatz sicher falsch. Auch hier macht man erneut eine Voraussage über künftige Kenntnisse basierend auf dem heutigen Stand des Wissens. Wie ich bereits erläutert habe, kann ich dieses Argument nicht akzeptieren. Andererseits ist die Idee, dass auf verschiedenen Ebenen verschiedene Eigenschaften auftreten, für die Wissenschaft sicherlich nützlich. Ein Beispiel ist die Erklärung von Netzwerk-Eigenschaften aufgrund der Eigenschaften der Teile des Netzwerkes und der Art von deren Interaktion. In diesem Fall bedeutet Emergenz, dass solche Eigenschaften sehr kompliziert und schwer voraussagbar sind. In der Biologie sind die Makroeigenschaften von Systemen ein Ergebnis der dynamischen Eigenschaften der Systemteile. Warum sollte dies anders sein, wenn wir auf das Gehirn schauen? Es gibt übrigens Leute, die glauben, Bewusstsein sei eine universale Eigenschaft vergleichbar mit negativer Ladung. Doch für diese Hypothese gibt es keine Evidenz. Heute können wir sagen, dass komplizierte Neurosysteme Bewusstsein haben. Doch ist dies ein Argument dafür, dass eine fundamentale Eigenschaft "Bewusstsein" existiert?

Gibt es eigentlich noch überzeugte Dualisten bei den Philosophen, die eine strikte Trennung zwischen Hirn und Geist machen?

Sicherlich! Richard Swinburn und Saul Kripke beispielsweise sind Dualisten. Wahrscheinlich sind die Hälfte meiner Kollegen Dualisten im Sinn von Descartes. Sie glauben, dass eine denkende Substanz existiert, die man am besten durch Introspektion verstehen könne. Sie glauben auch, dass ich verrückt bin. Bei den Neurowissenschaftlern hingegen werden Sie wahrscheinlich keine Dualisten finden.

Was sagen denn diese Dualisten angesichts der doch überwältigenden Menge an Daten, die zeigen, wie Änderungen im Hirn Veränderung im Geist bewirken?

Ich glaube, dass sie das Meiste ignorieren. Sie ignorieren es in dem Sinn, dass diese Änderungen mit dem Hirn zu tun haben und dass Hirn und Geist irgendwie verbunden sind – doch sie wissen nicht wie. Sie sind absolut davon überzeugt, dass ihre Erfahrungen eine Eigenschaft einer nichtphysikalischen Substanz ist. Philosophen wie Thomas Nagel behaupten zwar, es handle sich lediglich um nichtphysikalische Eigenschaften, doch dies kommt meines Erachtens einer cartesianischen Position nahe. Ich glaube, hier manifestiert sich ein Generationenproblem: Jüngere Philosophen haben eine engere Beziehung zu den Resultaten der Hirnforschung, während Ältere manchmal schon fast eine kolossale Feindschaft gegenüber der Neurowissenschaft haben. Sie sagen, dass man gar nichts über den Geist herausfinden kann, wenn man das Hirn untersucht. Manchmal verzweifle ich fast an meiner Disziplin. Neurowissenschaftler sind da meist um einiges offener als Philosophen.

Werden philosophische Probleme der Hirnforschung diskutiert, taucht bald einmal das Qualia-Problem auf. Kann dieses Problem je einmal gelöst werden?

Ich glaube, wir haben heute einen brauchbaren Erklärungsansatz: Betrachten wir beispielsweise den Schmerz, den ich fühle, wenn ich meine Hand mit einer Nadel steche. Dies ist die Aktivität eines Netzwerkes von Neuronen in meinem Gehirn. Unter der Voraussetzung, dass die Neuronen in ihrem und in meinem Hirn derart auf ähnliche Weise vernetzt sind, dass ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen haben, sehe ich hier kein besonderes Problem. Natürlich ist es ein komplexes Problem, und es gibt vielleicht komplexe Qualia, beispielsweise die Qualia, die sowohl Sie wie ich haben, wenn wir das Wort "San Diego" hören. Doch wenn wir einige Arten von Qualia verstehen können, warum sollten dann andere prinzipiell unverstanden bleiben? Man könnte ein wirkliches Problem dadurch erzeugen, indem man die Voraussetzung, ähnliche Ursachen haben ähnliche Effekte, aufgibt. Doch derzeit haben wir keine Veranlassung, dieses Prinzip, worauf die ganze Wissenschaft basiert, fallen zu lassen. Subjektivität ist etwas, was "Hirne tun". Wir sind mit dem technischen Problem konfrontiert, Qualia zu erklären, nicht aber mit einem prinzipiellen Problem.

Ist Reduktionismus eine notwendige Voraussetzung, um Hirnforschung betreiben zu können?

Dies hängt davon ab, mit welcher Art Forschung man beschäftigt ist: Ist man an der Funktionsweise der Synapsen von Nervenzellen interessiert, wird das Reduktionismusproblem nicht interessieren. Will man aber herausfinden, wie eine Bewegungsentscheidung zustande kommt, spielt der Reduktionsimus sicherlich eine Rolle.

Wird man das Problem des Bewusstseins Schritt für Schritt lösen können, oder braucht es eine ganz neue Einsicht in das Problem?

Das ist schwierig zu sagen. Was uns derzeit am meisten Sorgen bereitet, ist der Mangel an guten Experimenten. Manche können wir aus ethischen Gründen schlicht nicht realisieren. Doch jetzt ist das Interesse an der Hirnforschung sehr groß. Ich bin überzeugt, dass dereinst junge Forscher brillante neue Ideen finden werden.

Derzeit wird eine riesige Menge von Wissen über das Gehirn erzeugt – vielleicht zu viel, um es überhaupt wirklich verstehen zu können?

Es ist sicher richtig, dass noch wichtige Erkenntnisse fehlen. Die Neurowissenschaft ist immer noch eine junge, unreife Wissenschaft in dem Sinn, dass ein einheitliches Erklärungsraster fehlt. Sie ist noch stark abhängig von anderen Wissenschaften.

Könnte die computationale Neurowissenschaft oder die Theorie komplexer Netzwerke ein solches Erklärungsraster liefern?

Ich glaube, diese neuen Gebiete werden ein Teil dieses Rasters sein. Doch auch heute entdecken wir noch auf sehr grundlegenden Ebenen Überraschendes: Nehmen wir beispielsweise die Diskussion um die Frage, wie Neuronen Information kodieren. Wir glaubten, die Kodierung geschehe durch die Frequenz der Feuerung. Doch jetzt scheint es so zu sein, dass das exakte Timing der Spikes für die Informationsübertragung wichtig ist. Also wissen wir immer noch nicht, wie eigentlich das Neuron die Information kodiert. Zudem wissen wir noch nicht mit befriedigender Exaktheit, was wir mit "Information" meinen. Es fehlt an einen ausgereiften Begriff von Information, der für die Neurowissenschaft anwendbar ist.

Glauben Sie, dass der Mensch auf der Strasse vor der Hirnforschung Angst hat?

Um das herauszufinden, mache ich den "Coiffeur-Test". Jedesmal, wenn ich zum Friseur gehe, reden wir auch über Neurowissenschaft. Dabei stelle ich ein sehr großes Interesse fest, die Leute wollen das Gehirn verstehen. Viele haben auch Bekannte oder Verwandte mit Erkrankungen des Gehirns wie beispielsweise Parkinson, Alzheimer oder MS. Das Interesse an Hirnforschung übertrifft jenes an anderen Gebiete bei weitem.

Könnte es nicht sein, dass sozial gestörtes Verhalten mehr und mehr auf Hirnschäden zurückgeführt wird?

Darin besteht in der Tat eine Gefahr. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit wird komplizierter werden, wenn wir mehr über die Zusammenhänge zwischen Hirnschäden und asozialem Verhalten wissen. Man muss aber sehen, dass selbst die Tatsache, dass das Gehirn eine kausale Maschine ist und damit unser Verhalten letztlich steuert, das asoziale Verhalten des Einzelnen nicht entschuldigt.

Warum nicht?

Ich stimme Ihnen zwar zu, dass bestimmte Hirnschäden ein solches Verhalten erklären könnten. Das Problem der Verantwortung wird man in solchen Fällen diskutieren müssen. Doch man muss auch sehen, dass solche Erkenntnisse uns vielleicht ermöglichen, eine Heilung zu finden. Vor Hunderten vor Jahren hat man Personen mit Chorea Huntington verbrannt, da man überzeugt war, sie seien von Dämonen besessen. Heute tun wir das nicht mehr, denn wir wissen, dass sie krank sind. Wir überdenken unsere Moral ständig, und das Wissen der Hirnforschung wird zu dieser Diskussion beitragen.

Werden die Erkenntnisse über das Gehirn es dereinst auch möglich machen, Gehirne und damit Menschen zu kontrollieren?

Absolut! Bereits heute brauchen Werber psychologische Daten um das Verhalten der Menschen zu manipulieren. Schauen sie doch mal, wie viele Kinder rauchen. Dies ist das Resultat solcher Manipulationen. Werbung und Fernsehen sind im Geschäft der Hirn-Kontrolle. Andererseits glaube ich nicht, dass es dereinst jemals möglich ist, das Verhalten eines Gehirns vollständig vorhersagen zu können. Wir werden vielleicht die Natur des Entscheidungsprozesses verstehen, nicht aber, welche konkrete Entscheidung jemand treffen wird. Es ist schließlich auch unmöglich, das Wetter perfekt voraus zu sagen.

Ist die Seele für einen Neurowissenschaftler überhaupt noch ein denkbares Konzept?

Gehirne schaffen eine Repräsentation von sich selbst. Ein Neurowissenschaftler könnte dies Seele nennen. Doch ich glaube nicht, dass sie noch an eine Seele glauben können, die weiter existiert, nachdem das Gehirn verschwunden ist.


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von http://www.information-philosophie.de/p ... ophie.html

Ein meiner Meinung nach sehr schönes Interview. Besonders die einfache, oder besser: schlichte, Antwort auf das Qualia-Problem finde ich sehr gut.

BeitragVerfasst: Mi 25. Jul 2007, 18:59
von dvrvm
Ich finde das Interview auch sehr gut, wenn auch einige Gedankengänge unvollständig sind.
"Gehirne schaffen eine Repräsentation von sich selbst."
Wie ist dieser Satz im ontologischen Sinne zu verstehen? Ich finde ihn gefährlich, weil missverständlich... Man könnte das so interpretieren, dass ein Gehirn, sobald "eingeschaltet", in eine nicht-materielle Sphäre ein Wölkchen projiziert, das dann seine Repräsentation ist. Diese Interpretation bringt Wagenladungen von Problemen mit sich...
Wenn ich mich mal hier im Forum etwas mehr eingelesen habe, schreibe ich mal über meine Hypothese der "neurowissenschaftlichen Seele".

Re: Psychologie auf Neurowissenschaft zurückführen.

BeitragVerfasst: Mi 25. Jul 2007, 23:43
von Myron
Max hat geschrieben:Psychologie auf Neurowissenschaft zurückführen.
Patricia Churchland im Gespräch mit Markus Christen.


Sie und ihr Mann Paul gehören zu den Hauptvertretern des sogenannten "eliminativen Materialismus":

* Stanford Encyclopedia of Philosophy. "Eliminative Materialism" (by William Ramsey). http://plato.stanford.edu/entries/materialism-eliminative.

BeitragVerfasst: Mi 25. Jul 2007, 23:48
von Myron
dvrvm hat geschrieben:Ich finde das Interview auch sehr gut, wenn auch einige Gedankengänge unvollständig sind.
"Gehirne schaffen eine Repräsentation von sich selbst."
Wie ist dieser Satz im ontologischen Sinne zu verstehen?


Ich denke, es geht darum, dass das Nervensystem eines Organismus, insbesondere das Gehirn, ein Selbstbild erzeugt.

BeitragVerfasst: Do 26. Jul 2007, 09:01
von Klaus
Dieses Selbstbildnis, welches das Gehirn schafft ist auch gemeint. Denke ich mal.