George R. Price - ein Teilzeit-Evolutionsbiologe

Re: George R. Price - ein Teilzeit-Evolutionsbiologe

Beitragvon smalonius » Do 12. Nov 2009, 16:41

Julia hat geschrieben:Kennst du das?

Das wesentliche in Kurzform:

Aus der Vorbemerkung:
In virtue of their controversial or novel nature, some views and theories carry a special burden of proof.


Wilson kommt zum Schluß:
the myxoma case is not the decisive test case of group selection theory that they claim it is. This is not simply because there is a possible, competing individual-level explanation of the case, but because there is no independent basis for preferring the group selection account of the phenomenon to alternative explanations.


Dieses Argument lasse ich nicht gelten:
First, it has been well known at least since the work of David Lack (1954) on optimal clutch size in birds that individuals can increase their reproductive success by limiting the number of offspring they produce.

One might think that reduced virulence in individual viruses is simply an instance of such a reproductive strategy, and so an adaptation of individual viruses that reflects the increased fitness of those viruses.

Ich bin mir nicht sicher, ob man beide Fälle vergleichen kann.

Bei den Vögeln sollte es so sein: je mehr Eier gelegt werden, desto kleiner wird jedes einzelne, und desto schwerer wird es alle Küken durchzubringen, weil dann für jedes Küken weniger Nahrung anfällt.

Nest A: 2 Eier --> 2 Nachkommen
Nest B: 3 Eier --> 3 Nachkommen
Nest C: 4 Eier --> 3 Nachkommen
Nest D: 5 Eier --> 2 Nachkommen

Es gibt eine optimale Gelegegröße, die sich relativ schnell einstellen wird, weil man den Selektionsvorteil in jeder Generation merkt.

Bei den Viren jedoch dauert es lange, 100 Generationen, bis das Kaninchen stirbt. Deshalb kann Selektion nur schwach wirken. Wenn in dieser Zeit die Virulenz nachläßt, ist das eher genetische Drift als natürliche Selektion.

Oder die Virulenz war durch "Gründereffekte" von Anfang an niedrig, weil das Kaninchen von einigen eher harmlosen Exemplaren eines sonst gefährlicheren Stamms infiziert wurde. Beides geht wieder in Richtung Gruppenselektion geht.


Da fällt mir quorum sensing ein. Erstaunlich, daß die nie in Zusammenhang mit Gruppenselektion erwähnt wird. Quorum sensing heißt, daß Bakterien wissen, wieviele Artgenossen sich in der Nähe aufhalten. Jedes Bakterium sondert einen Signalstoff ab. Anhand der Dichte des Signalstoffs kennen sie ihre Bevölkerungsdichte. und passen ihr Verhalten daran an. Auch gibt es einen besonderen Signalstoff, der über Artgrenzen hinweg verstanden wird.


For example, a viral strain that increased the number of lesions on a rabbit, thus increasing transmissibility, with reduced infection of vital organs in the host (say, due to host adaptation), would have this effect. Likewise, a strain that concentrated lesions on the head of the rabbit (where S. cuniculi concentrates, especially the ears) would have a similar transmission advantage.

Das wäre dann eine Situation, die mein Argument mit der genetischen Drift aushebelt. Hinweise darauf gibt es nicht, aber nach Wilson, ist die Datenlage ohnehin eher dünn.

pluralism about the levels of selection: ... these viewpoints are, in an important sense, equivalent

Den Fall hatten wir gerade oben beim Geschlechterverhältnis: Williams kam zum selben Schluß wie Hamilton. Der eine mittels Gruppenselektion, der andere durch Verwandtenselektion.

Die Frage ist, ob die Ebenen immer equivalent sind. Beim Vogelbeispiel oben reicht die Individualselektion.
Falls sie tatsächlich immer äquivalent sein sollten, müßte man nach dem darunterliegenden Prinzip ausschau halten. Lange müßte man nicht suchen, vermute ich - siehe Threadtitel.

One suspicion is that there is no way to demarcate groups of organisms from mere sets of organisms, thus implying that any n-tuple of individuals could be said to constitute a group. Call this the arbitrariness
problem.

And there is the objection that groups, unlike individuals or genes, are not sufficiently permanent arrangements in the biological world to be the units on which natural selection operates over evolutionary time. Call this the ephemerality problem.

Both problems reflect a concern over the ontological status of groups insofar as they express the view that groups are ‘‘not real’’ in the way that genes and individuals are. Such existence as they have makes them unsuitable to play the role of a unit of selection in general, and in the myxoma case in particular.

Das ist ein gutes Argument. In Fällen wie den Käfighennen mögen die Gruppen klar erkennbar sein, in vielen anderen Fällen aber nur schwer.
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Re: George R. Price - ein Teilzeit-Evolutionsbiologe

Beitragvon smalonius » Di 17. Nov 2009, 14:39

Kleiner Schlenker zum Link von Nanna.

Die Kultur des Menschen ist wichtiger seine Gene; dies wurde schon von mehreren Postern behauptet. So wie es aussieht - und wer hätte es je bezweifelt? - stimmt die Behauptung. Jedenfalls wenn man der Methodik dieser Untersuchung glaubt.

In einem Beitrag in den Veröffentlichungen der US-Akademie der Wissenschaften (PNAS) diskutieren drei Forscher der University of California nun einen anderen Ansatz: Womöglich vollzog sich die Evolution beim Menschen ja auch mindestens teilweise durch kulturelle und nicht durch genetisch bedingte Unterschiede. Auch Kultur wird in größeren Gruppen vererbt.

Die kalifornischen Forscher benutzen nun die Price-Gleichung, um den tatsächlichen Einfluss von genetischem versus kulturellen Selektionsdruck zu berechnen. Weil die kulturelle Varianz so viel größer ist als die genetische hat Altruismus auch sehr viel mehr Spielraum.

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31295/1.html


Original-Artikel hier: http://xcelab.net/rmpubs/PNAS-2009-Bell-17671-4.pdf

Mit ihrem Resultat will ich mich nicht lange aufhalten, interessant finde ich die Methode.

Bell und Kollegen griffen auf die Ergebnisse aus der World Values Survey zurück. Das ist eine seit 1981 laufende Studie zu den Werten der Menschheit. Zuvor hatte es ein ähnliches Projekt auf europäischer Ebene gegeben. Etwa alle 10 Jahre wird die Umfrage erneut durch geführt und erweitert, von 22 Ländern in der ersten Welle auf 42, 54 und schließlich 62 Länder in der vierten.

Der Fragebogen besteht aus etwa 250 Fragen, die in jedem Land etwa 1000 bis 3500 Befragten gestellt werden.

Davon wurden einige für die Methode passende ausgewählt:

- Would you rather own good farming land but no cattle, or good cattle but no farming land?
- Is it better to have many friends or many kinsmen (who are not clansmen)?
- Do wives obey their husbands and is it right for them to do so?
- Is there one person you can trust beyond all others?


Die Antworten darauf wurden zusammengefasst, strongly agree mit agree und disagree mit strongly disagree und wie Allele im Genom behandelt.

Einige Zahlenwerte für den genetischen und den kulturellen Unterschied zwischen Gruppen:
Code: Alles auswählen
                         F-genetisch  F-kulturell
Germany West - Belgium        0.0015  0.0477
Germany West - France         0.0027  0.0698
Germany West - Great Britain  0.0022  0.0464

Austria      - Germany        0.0019  0.0329
Austria      - Switzerland    0.0012  0.0518

(Und das soll jetzt nicht heißen, die gennanten Länder seien ein Vehikel im Sinne Dawkins, oder eine Gruppe im Sinne von Sober/Wilson. Die Autoren haben eher kleine, steinzeitliche Stämme im Sinn.)


Mit Kultur verbinde ich eigentlich ein Kontinuum, das sich schlecht zahlenmäßig greifen läßt. Wenn man der Methode von Bell & Co. glauben schenkt, wäre das jetzt zumindest ansatzweise möglich.

Gut jedenfalls, daß Bell von Kultur spricht, anstatt das böse M-Wort zu verwenden. Von Memen kann man in diesem Zusammenhang ja wirklich nicht die Rede sein, oder? :pfeif:

Damit stellt sich dann auch die Frage, ob die Kultur einer Gesellschaft eine sinnvolle Anpassung ist oder nur eine eher zufällige Sammlung von Eigenheiten. Was Religion betrifft: auch hier haben Dawkins und Wilson unterschiedliche Ansichten. Aber dazu ein anderes Mal.
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Re: George R. Price - ein Teilzeit-Evolutionsbiologe

Beitragvon jackle » Mi 18. Nov 2009, 21:48

smalonius hat geschrieben: Unter ganz bestimmten Umständen können Altruisten in der Gesamtpopulation zunehmen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Dawkins oben behauptet.

Dabei behauptet Dawkins nicht, Altruismus könne nicht entstehen. Er nimmt Verwandtenselektion und den reziproken Altruismus. Gleiche Formel, andere Auslegung eines Symbols. Daß die Gleichung von Price beides zusammenfassen und verallgemeinern könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Tsk.

Wie auch immer. Die Reichweite von Verwandtenselektion ist eher gering, also denkt er sich 1982 vehicles aus. Vollgetankt kommt man damit etwas weiter. :pfeif: Die Gegenseite sieht das als Flickwerk, damit Dawkins endlich auch auf das richtige Ergebnis kommt, das Price schon zehn Jahre früher hatte.


Mich stört an diesem Zusammenhang eigentlich nur eins: Was ist das richtige Ergebnis, das Price schon zehn Jahre früher hatte? Wie lässt sich das evolutionstheoretisch formulieren?

Die evolutionstheoretische Formulierung der Individualselektion gemäß Dawkins ist sehr klar. Sie wird mit einem bestimmten Background formuliert. Aufkommende Widersprüche bei den Beobachtungen (z. B. Ameisen) hat man mit der Verwandtenselektion zu bereinigen versucht.

Doch wie formuliert man die Gruppenselektion? Dass Altruismus unter bestimmten Bedingungen zunehmen kann? Das kann es doch irgendwie nicht sein. Mir ist das zu schwammig.
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Re: George R. Price - ein Teilzeit-Evolutionsbiologe

Beitragvon jackle » Mi 18. Nov 2009, 21:56

smalonius hat geschrieben:Wilson kommt zum Schluß:
the myxoma case is not the decisive test case of group selection theory that they claim it is. This is not simply because there is a possible, competing individual-level explanation of the case, but because there is no independent basis for preferring the group selection account of the phenomenon to alternative explanations.


Ich kann leider auch nicht erkennen, warum der Myxoma-Fall eine Begründung für die Gruppenselektion sein soll (was immer das sein mag).
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Re: George R. Price - ein Teilzeit-Evolutionsbiologe

Beitragvon jackle » Mi 18. Nov 2009, 22:24

smalonius hat geschrieben: Unter ganz bestimmten Umständen können Altruisten in der Gesamtpopulation zunehmen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Dawkins oben behauptet.


Was sind diese bestimmten Umstände?

Auch wenn es manchen stören mag, ich möchte das einmal anhand der Systemischen Evolutionstheorie verdeutlichen.

Nehmen wir einmal an, wir hätten es mit einer Population aus 1.000 Individuen zu tun, in denen jedes Individuum einen potenziellen Fortpflanzungserfolg von f(i) (i = 1 ... 1.000) hätte, wenn es sich nicht altruistisch verhalten würde. Ich nenne diesen potenziellen Fortpflanzungserfolg einmal die "potenzielle Fitness".

Wenn sich einige Individuen (mehr oder weniger) altruistisch verhalten, dann heißt das in der Sprache der Systemischen Evolutionstheorie zunächst nichts anderes, als dass sie ihr "Reproduktionsinteresse" senken, und mit den freigewordenen Kapazitäten dazu beitragen, dass einige (z. B. enge Verwandte) oder auch die Mehrheit ihr Reproduktionsinteresse erhöhen können. Das hätte zur Folge, dass die Altruisten einen niedrigeren tatsächlichen Fortpflanzungserfolg hätten. Ihre tatsächliche Fitness (im Sinne des Fitnessbegriffs gemäß smalonius) würde sich also absenken, die von anderen dafür erhöhen.

Die Frage ist: Kann das auf beliebige Weise funktionieren, und zwar über die Möglichkeiten hinaus, die Dawkins (Verwandtenselektion, reziproker Altruismus) zulässt? Gibt es Fälle, die gemäß der Pricegleichung evolutionär stabil sind, durch Dawkins aber nicht abgedeckt sind?

Und da sagt die Systemische Evolutionstheorie gemäß Price-Gleichung ganz eindeutig ja: Das kann funktionieren und evolutionär stabil sein, solange das Reproduktionsinteresse nicht negativ mit der potenziellen Fitness korreliert. Anders gesagt: Altruistisches Verhalten darf nicht systematisch mit der potenziellen Fitness zunehmen. Das ist letztlich die Grundbedingung der Systemischen Evolutionstheorie. Sie ist vom Kern her identisch mit der Price-Gleichung.

Mal auf einen ganz konkreten Fall übertragen bedeutet das: Wenn Gammatiere für den Reproduktionserfolg der Alphatiere arbeiten, dann kann das evolutionär stabil sein, wenn Alphatiere ihren Reproduktionserfolg zugunsten des Reproduktionserfolges der Gammatiere absenken, dann dürfte das nicht evolutinär stabil sein.
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