Naturwissenschaftliche Methodik in den Sozialwissenschaften
Verfasst: Sa 14. Jul 2012, 16:08
Dieser Thread ist eine Abspaltung von Was lest ihr zurzeit?
Die sozial- und politikwissenschaftlichen Theoriegebäude werden selbstverständlich anhand empirischer Fakten geprüft. Die deutsche Politikwissenschaft hat zwar international wegen des Nationalsozialismus einen Sonderweg beschritten und lange sehr, teilweise fast ausschließlich, normativ argumentiert, aber seit den 1990ern gibt es eine sehr heftige Methodendebatte in der deutschen Politikwissenschaft mit einer Zunahme quantitativer Forschung. Gleichzeitig gibt es aber auch sehr gewichtige Einwände gegen den Shut-Up-and-Calculate-Approach der Quantis seitens der Qualis, weil sozialwissenschaftliche Theorien nunmal Kausalitäten aufdecken sollen und damit nicht auf einen hermeneutischen Zugang verzichten können.
Speziell zu Jared Diamond ist zu sagen, dass er, wie ich schonmal angemerkt habe, der gegenwärtigen raumtheoretischen Debatte in der Geografie ziemlich hinterherhängt. Diamond begeht den Fehler, naturdeterministische Aussagen zu machen, die seit dem cultural turn eigentlich als erledigt gelten. Damit ist nicht gemeint, dass physische Umweltbedingungen keinen Einfluss auf Gesellschaften hätten, aber Diamond stellt es gerne so dar, als würde ein bestimmter Lebensraum ein bestimmtes Schicksal besiegeln oder zumindest stark vorstrukturieren. Die Antwort der Sozialwissenschaften wäre, dass Gesellschaften sich nach den Gesetzmäßigkeiten der Pfadabhängigkeit entwickeln. Pfadabhängigkeit bedeutet, dass sich ein Pfad anhand von Entscheidungsknoten herausbildet, wobei beim Erreichen jedes neuen Knotens ein chaotischer Entscheidungsprozess stattfindet, d.h. es ist prinzipiell nicht vorhersagbar, wohin eine Gesellschaft sich entwickelt (was Diamond in der Retrospektive mit so einem Das-hätte-man-ja-auch-vorher-sehen-können-Gestus gerne mal so darstellt). Es ist allerdings so, dass die ersten Entscheidungen die wichtigsten sind in dem Sinne, dass sie eine Pfadrichtung vorgeben, von der mit zunehmender Zahl der Knoten immer schwerer abgewichen werden kann (was einer der Gründe ist, warum fundamentale Steuerreformen u.ä. so selten geschehen).
Es kann also durchaus sein, dass eine isolierte Inselgesellschaft, wie Diamond sie ja gerne betrachtet, zweihundert Jahre vor ihrem Kollaps ein paar dumme Entscheidungen trifft, die dann zwar nicht mit Notwendigkeit, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Ruin führen, umso mehr, je länger die Leute den eingeschlagenen Weg laufen lassen. Nur ist es eben nicht so, dass diese Gesellschaften nicht die Möglichkeit gehabt hätten, klüger zu agieren (die Inuit beispielsweise haben es jahrtausendelang geschafft, in extrem ressourcenarmen, umwelttechnisch anfälligen Umgebungen zu überleben ohne sich in den Untergang zu treiben und da gibt es sicher noch mehr Beispiele von Gesellschaften, die schlauer agiert haben).
Nicht falsch verstehen: Ich finde Diamond wahnsinnig interessant, aber er überschätzt den naturwissenschaftlichen Teil seiner Theorien manchmal in seiner Erklärungsreichweite.
Um dazu auch noch was quantitatives zu sagen: Physiker können etwa 95% ihrer statistischen Abweichungen erklären (also auf bekannte Drittvariablen zurückführen und rausrechnen), wohingegen die durchschnittliche sozialwissenschaftliche Studie gerade mal 30% der Abweichungen erklärt kriegt. Anders gesagt, 70% der Abweichungen sind auf Drittvariablen zurückzuführen, von denen wir nichtmal eine halbwegs gesicherte Ahnung haben, welche es sein könnten. Vor dem Hitnergrund muss man einfach vorsichtig sein, sich hier über die Angewohnheit der Sozialwissenschaftler zu ärgern, mit Schätzungen und erörternden Argumentationen zu operieren. Es geht manchmal einfach nicht anders, auch dann nicht, wenn man radikal soziobiologische Methoden anwendet (die haben letztlich dieselben Exaktheitsprobleme, was eben auch am Gegenstand liegt, nicht nur an der Methode).
Falls du das breiter diskutieren willst, sollten wir vielleicht ein eigenes Thema eröffnen.
Zappa hat geschrieben:Ich persönlich finde den anthropologischen Ansatz in Bereichen der Politik- und Sozialwissenschaften ausgesprochen fruchtbar (s. u.a. auch Jared Diamond), weil hier versucht wird mit Fakten und Beobachtungen Thesen zu belegen oder zu widerlegen. Ich gebe auch zu, dass mir als naturwissenschaftlich ausgebildetem Menschen, die Art wie Sozial- und Politikwissenschaftler manchmal "argumentieren", ziemliche Kopfschmerzen verursacht. Da werden auf irgendwelchen Gedankenmodellen (Naturzustand, Natur des Menschen (homo oeconomicus ), perfekte Information für alle, Urgemeinschaften) große Theoriegebäude aufgebaut, ohne auch nur mal auf die Idee zu kommen nachzuschauen, ob es historische oder anthropologische Belege für diese Ausgangsszenarien/Annahmen gibt.
Die sozial- und politikwissenschaftlichen Theoriegebäude werden selbstverständlich anhand empirischer Fakten geprüft. Die deutsche Politikwissenschaft hat zwar international wegen des Nationalsozialismus einen Sonderweg beschritten und lange sehr, teilweise fast ausschließlich, normativ argumentiert, aber seit den 1990ern gibt es eine sehr heftige Methodendebatte in der deutschen Politikwissenschaft mit einer Zunahme quantitativer Forschung. Gleichzeitig gibt es aber auch sehr gewichtige Einwände gegen den Shut-Up-and-Calculate-Approach der Quantis seitens der Qualis, weil sozialwissenschaftliche Theorien nunmal Kausalitäten aufdecken sollen und damit nicht auf einen hermeneutischen Zugang verzichten können.
Speziell zu Jared Diamond ist zu sagen, dass er, wie ich schonmal angemerkt habe, der gegenwärtigen raumtheoretischen Debatte in der Geografie ziemlich hinterherhängt. Diamond begeht den Fehler, naturdeterministische Aussagen zu machen, die seit dem cultural turn eigentlich als erledigt gelten. Damit ist nicht gemeint, dass physische Umweltbedingungen keinen Einfluss auf Gesellschaften hätten, aber Diamond stellt es gerne so dar, als würde ein bestimmter Lebensraum ein bestimmtes Schicksal besiegeln oder zumindest stark vorstrukturieren. Die Antwort der Sozialwissenschaften wäre, dass Gesellschaften sich nach den Gesetzmäßigkeiten der Pfadabhängigkeit entwickeln. Pfadabhängigkeit bedeutet, dass sich ein Pfad anhand von Entscheidungsknoten herausbildet, wobei beim Erreichen jedes neuen Knotens ein chaotischer Entscheidungsprozess stattfindet, d.h. es ist prinzipiell nicht vorhersagbar, wohin eine Gesellschaft sich entwickelt (was Diamond in der Retrospektive mit so einem Das-hätte-man-ja-auch-vorher-sehen-können-Gestus gerne mal so darstellt). Es ist allerdings so, dass die ersten Entscheidungen die wichtigsten sind in dem Sinne, dass sie eine Pfadrichtung vorgeben, von der mit zunehmender Zahl der Knoten immer schwerer abgewichen werden kann (was einer der Gründe ist, warum fundamentale Steuerreformen u.ä. so selten geschehen).
Es kann also durchaus sein, dass eine isolierte Inselgesellschaft, wie Diamond sie ja gerne betrachtet, zweihundert Jahre vor ihrem Kollaps ein paar dumme Entscheidungen trifft, die dann zwar nicht mit Notwendigkeit, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Ruin führen, umso mehr, je länger die Leute den eingeschlagenen Weg laufen lassen. Nur ist es eben nicht so, dass diese Gesellschaften nicht die Möglichkeit gehabt hätten, klüger zu agieren (die Inuit beispielsweise haben es jahrtausendelang geschafft, in extrem ressourcenarmen, umwelttechnisch anfälligen Umgebungen zu überleben ohne sich in den Untergang zu treiben und da gibt es sicher noch mehr Beispiele von Gesellschaften, die schlauer agiert haben).
Nicht falsch verstehen: Ich finde Diamond wahnsinnig interessant, aber er überschätzt den naturwissenschaftlichen Teil seiner Theorien manchmal in seiner Erklärungsreichweite.
Um dazu auch noch was quantitatives zu sagen: Physiker können etwa 95% ihrer statistischen Abweichungen erklären (also auf bekannte Drittvariablen zurückführen und rausrechnen), wohingegen die durchschnittliche sozialwissenschaftliche Studie gerade mal 30% der Abweichungen erklärt kriegt. Anders gesagt, 70% der Abweichungen sind auf Drittvariablen zurückzuführen, von denen wir nichtmal eine halbwegs gesicherte Ahnung haben, welche es sein könnten. Vor dem Hitnergrund muss man einfach vorsichtig sein, sich hier über die Angewohnheit der Sozialwissenschaftler zu ärgern, mit Schätzungen und erörternden Argumentationen zu operieren. Es geht manchmal einfach nicht anders, auch dann nicht, wenn man radikal soziobiologische Methoden anwendet (die haben letztlich dieselben Exaktheitsprobleme, was eben auch am Gegenstand liegt, nicht nur an der Methode).
Falls du das breiter diskutieren willst, sollten wir vielleicht ein eigenes Thema eröffnen.