Lumen hat geschrieben:Der geschätze Steven Pinker hat nun einen sehr lesenswerten, und von einigen großen Namen für würdig befundenen Text zum Thema Szientismus veröffentlicht. Im Artikel
„Science Is Not Your Enemy. An impassioned plea to neglected novelists, embattled professors, and tenure-less historians” zeichnet Pinker die Ausgangslage nach, wie von allen Seiten, ob nun Links oder Rechts, der Vorwurf geäußert wird, die Wissenschaften würden ihr Hoheitsgebiet übertreten, insbesondere in die Geisteswissenschaften hinein (im englischen genannt Humanities, aber die Übersetzung ist nicht ganz Eins-zu-Eins). Das Wort „Szientismus” sei vielmehr ein Buh-Ruf, der kaum definiert sei, und dessen Bedeutung sich nach Wetterlage und von Autor zu Autor unterscheide. Er geht dann auf die Fortschritte ein, und merkt dabei an, dass zwar jeder gerne von Krankheiten geheilt werden möchte, dann aber eine irrationale Furcht vor wissenschaftlichen Erkenntnissen vorherrscht.
Ich habe den Artikel gelesen, aber mir ist noch nicht mal klar geworden, was Pinker genau mit "science" meint. Ausschließlich Naturwissenschaften? Pinker ist wohl Professor für Psychologie. Ist Psychologie eine "science" oder gehört sie zu den "humanities"?
Unter „Szientismus” verstehe ich übrigens dies: die Auffassung, nur und ausschließlich Naturwissenschaften könnten interessante Fragen aufwerfen und beantworten und Wissen generieren. Alles andere, alle Fragen, die nicht von irgend einer Naturwissenschaft behandelt wird, in deren Gebiet falle, sei eine uninteressante und irrelevante Frage. Mit anderen Worten: alle akademischen Fachgebiete, die nicht unter "Naturwissenschaft" fielen, seien für die Tonne, verzichtbar und könnten ersatzlos gestrichen werden.
Nun ist Pinker Amerikaner und in den USA mag es, da dort Religion eine weit größere Rolle spielt als in Europe, diverse religiöse Einwände gegen Wissenschaft geben. Diese Diskussion kenne ich nicht und vermag ich nicht zu beurteilen und interessiert mich auch nicht. Daher kann ich auch mit dem Artikel von Jerry Coyne nichts anfangen - da der sich wohl nur gegen Theologie richtet.
Was mir ziemlich sauer aufgestoßen ist an Pinkers Text: ich finde, es ist ein ziemlich unguter rhetorischer Trick, die schlechtesten Argumente gegen Szientismus zu nennen und auf der anderen Seite ein reines Ideal von (Natur)-Wissenschaft dagegen zu stellen. Aus meiner persönlichen Erfahrung im universitären Betrieb kann ich sagen, dass auch Naturwissenschaftler nur Menschen sind, die mitnichten diesem Ideal täglich genügen.
Anders gesagt: daraus, dass es schlechte Argumente gegen Szientismus gibt, folgt nicht, dass es nicht auch gute Argumente gegen Szientismus (im oben von mir definierten Sinne) gibt.
Zitat von Pinker: "Linguistics and the philosophy of mind shade into cognitive science and neuroscience. " Ich denke das nicht, da hat er sich mE ziemlich verhoben. Anscheinend sagt er "science", meint aber "Naturwissenschaft". So wie hier in diesem Thread auch anscheinend einige "Wissenschaft" sagen, aber "Naturwissenschaft" meinen. Und Jerry Coyne verwendet "science" anscheinend ebenso. Und das läuft dann wohl letztlich tatsächlich auf die obige Definition hinaus.
Übrigens: dass in der Überschrift dieses Freds Wissenschaft als "böse" bezeichnet wird, ist ebenfalls ein unterirdischer rhetorischer Trick. Kindergartenniveau.