Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Vollbreit » So 2. Feb 2014, 23:21

ganimed hat geschrieben:
Warum sollte sich was ändern, es sind doch alle zufrieden?

Richtig. Ich sehe da so etwas wie einen Schimmer des Verständnisses bei dir aufblinken. Deine Frage trifft es auf den Punkt. Einfach nur Unzufriedenheit über die Entscheidungsfaktoren wird nicht der Grund sein, warum sich an ihnen was ändert. Gründe für solche Änderungen sind neue Erfahrungen der einzelnen Ägypter, politische/technische/solziale Entwicklungen, neue Informationen, Tagesgeschehen, das Verhalten anderer Ägypter, praktisch alles außer der Unzufriedenheit der Ägypter über ihre Entscheidungsfaktoren.
Du meinst, es muss erst ne Alternative da sein.
Das wird es wohl erleichtern, aber es gibt auch impulsive Menschen.

Vollbreit hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Sie sind damit zufrieden, sie sollten damit zufrieden sein und sie können damit zufrieden sein. Wir können das nicht (mit ihrem Handeln zufrieden sein), denn wir haben andere Erfahrungen, andere kulturelle Vorgaben, andere Werte, andere Denkweisen usw.

Oh, eine neue Wendung. Wenn ich jetzt nicht mit Deinem Verhalten zufrieden wäre? Du würdest kurz in Dich gehen, denken: „Ja, nö alles tacko bei mir, änder ich nix dran“ und das war's. Wie nun ein ganzes Volk sich überhaupt angesprochen fühlen kann (rein technisch, erklär mal) und warum es was ändern sollte – denn sicher geben auch die schon alles – ist aus Deinem Ansatz heraus nicht zu erklären.
Und was nur, wenn die Ägypter meinten, wir sollten uns ändern?

Wenn ich schreibe: A ist mit B unzufrieden. Dann zweifelst du das an, weil du es für unwahrscheinlich hälst, dass A B ändern kann? Wie bitte? Hast du die Möglichkeit vergessen, dass A mit B unzufrieden ist und selbstverständlich sich B deshalb noch lange nicht ändert?[/quote]Nein,. Denn das habe ich skizziert.
ganimed hat geschrieben:Oder habe ich irgendwas falsch verstanden?
Ja.
ganimed hat geschrieben:Wie um alles in der Welt kommst du auf das Argument, dass unsere Unzufriedenheit in Ägypten besonders viel ändern soll? Habe ich das behauptet?
Naja, Du erwähntest beiläufig dass die Ägypter druchaus zufrieden sein könnten (sonst würde sie ja was ändern), aber wir mit ihnen nicht zufrieden sein könnten.
Ja, das gibt es und auch, dass dann niemand reagiert.

ganimed hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Aber wir können mit unserem Handeln zufrieden sein, denn es entspricht unseren Werten.
Gibt es tatsächlich Werte, die wir alle teilen?
Wieso alle teilen? Wer sagt dir, dass ich nicht die Obermenge gemeint habe, die Vereinigungsmenge aller Werte aller Mitglieder unserer Gesellschaft?
Die da wäre?
ganimed hat geschrieben:Wer sagt mir, wieso du dich auf solche unproduktiven Wortklaubereien verlegst? Du? Ich kenne den Grund nicht, aber wenn der Grund wäre, dass dir die Argumente ausgehen, dann würde es sich vermutlich ganz ähnlich lesen.
Du stehst doch drauf, wo ist das Problem?

ganimed hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ich kenne etliche Menschen, die genau diese „So kann es nicht weitergehen“-Erfahrung gemacht haben.

Oh, das glaube ich gerne. Es handelt sich eben um eine sehr weit verbreitete Illusion. Was diese etlichen Menschen da unterlassen, ist, zu Protokoll zu geben, wieso sie den Gedanken "so kann es nicht weitergehen" haben. Woher kommt der? Könnten es neue Erfahrungen sein? Neue Informationen? Eine Änderunge des Bewusstseins? Eine Therapie oder eine erzieherische Maßnahme? Oder das Dekret des Bundesamtes für Perdebeschlag? Egal was es war, es fällt unter meinem Begriff Entscheidungsfaktor. Wichtig ist nicht, was es genau war, sondern dass es etwas war, was sich die etlichen Menschen nicht einfach so aus den Fingern geschnitzt haben. Die Entscheidungsfaktoren kann man nicht ohne Impuls ändern.
Ich würde die Änderung des Bewusstseins nehmen, aber da sind wir wieder beim Grundproblem, was wir klären müssen: Für Dich ist das ei passiver Vorgnag, der einem geschieht. Eines Morgens wacht macn auf und hat ein andere Bewusstsein, einfach so.
Für mich ist es ein aktiver Vorgang, der Impuls mag aus dem Irgendwo kommen, aber ihn umzusetzen und zu befeuern, das passiert nicht einfach so.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon ganimed » Mo 3. Feb 2014, 00:24

Vollbreit hat geschrieben:Für mich ist es ein aktiver Vorgang, der Impuls mag aus dem Irgendwo kommen, aber ihn umzusetzen und zu befeuern, das passiert nicht einfach so.

Das passiert nicht einfach so, dass sich jemand die Mühe macht, umzusetzen und zu befeuern. Finde ich auch. Also wieso passiert das, wenn es nicht einfach so passiert?
Der Impuls A kam aus dem Irgendwo.
Woher kommt deiner Meinung nach der Impuls B, diesen Impuls A zu befeuern?
Ich meine, der Impuls B kommt ebenfalls aus dem Irgendwo (womit ich nicht näher spezifierter Entscheidungsfaktor meine).
Dein Argument, dass da doch irgendwas von der Person selber gemacht wird, ist ja richtig. Aber die Motivation dafür, etwas zu machen, die kommt wieder von außen. Also kann die Person sich das nicht als eine selbst beschlossene Verbesserungsaktion gutschreiben.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Vollbreit » Mo 3. Feb 2014, 00:57

ganimed hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Für mich ist es ein aktiver Vorgang, der Impuls mag aus dem Irgendwo kommen, aber ihn umzusetzen und zu befeuern, das passiert nicht einfach so.

Das passiert nicht einfach so, dass sich jemand die Mühe macht, umzusetzen und zu befeuern. Finde ich auch. Also wieso passiert das, wenn es nicht einfach so passiert?
Der Impuls A kam aus dem Irgendwo.
Woher kommt deiner Meinung nach der Impuls B, diesen Impuls A zu befeuern?
Hohe Motivation.

ganimed hat geschrieben:Ich meine, der Impuls B kommt ebenfalls aus dem Irgendwo (womit ich nicht näher spezifierter Entscheidungsfaktor meine).
Aber auch dazu, z.B. zu seinen gesammelten Lebenserfahrungen, verhält man sich ja auch nicht passiv.

ganimed hat geschrieben:Dein Argument, dass da doch irgendwas von der Person selber gemacht wird, ist ja richtig. Aber die Motivation dafür, etwas zu machen, die kommt wieder von außen.
Warum? Eine Kette von Erlebnissen kann sich in einem Menschen zu einem starken Motiv verdichten, den anderen lässt es völlig kalt.
ganimed hat geschrieben:Also kann die Person sich das nicht als eine selbst beschlossene Verbesserungsaktion gutschreiben.
Gerade die, wenn dieselben Ereignissen den einen motivieren und den anderen nicht.
Aber, weißt Du was? Wir kommen der Lösung näher, scheint mir. :up:
Ich gehe jetzt pennen, gute Nacht.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon ganimed » Mo 3. Feb 2014, 01:16

Vollbreit hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Woher kommt deiner Meinung nach der Impuls B, diesen Impuls A zu befeuern?

Hohe Motivation.

Die hohe Motivation IST doch der Impuls B. Meine Frage war, woher der kommt. Also jetzt umformuliert: woher kommt die hohe Motivation?

Vollbreit hat geschrieben:Aber auch dazu, z.B. zu seinen gesammelten Lebenserfahrungen, verhält man sich ja auch nicht passiv.

Aber auch zu diesem aktiven Verhalten braucht es einen Impuls, eine hohe Motivation. Woher kommt die jeweils? Ich glaube, wir diskutieren gerade eine unendliche Reihe durch.

Vollbreit hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Aber die Motivation dafür, etwas zu machen, die kommt wieder von außen.

Warum? Eine Kette von Erlebnissen kann sich in einem Menschen zu einem starken Motiv verdichten, den anderen lässt es völlig kalt.

Das mag ja sein. Aber den, den es völlig kalt lässt, lässt es deshalb völlig kalt, weil er keine hohe Motivation hat. Und das war vor allem nicht seine Idee, er hat nicht dafür gesorgt, keine hohe Motivation zu haben. Sondern das war letztlich immer ein äußerer Faktor.

Vollbreit hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Also kann die Person sich das nicht als eine selbst beschlossene Verbesserungsaktion gutschreiben.

Gerade die, wenn dieselben Ereignissen den einen motivieren und den anderen nicht.

Gerade die nicht. Weil wenn sie jemanden motivieren, ist das keine Eigenleistung, weil man sich die hohe Motivation (die ja von außen kommt) nicht selber gebaut hat.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Lumen » Mo 3. Feb 2014, 03:51

Nanna, religiöse Handlungen und Vorgaben sind mitunter schon sehr spezifisch. Nehmen wir die Beschneidung von Kleinstkindern, oder meintwegen vor dem Essen zu beten. Die Ansicht, dass solche Dinge nichts mit Religion zu hat, ist äußerst exzentrisch und wenn Handlungen weniger spezifisch sind, heißt das nicht automatisch, dass sie nicht durch Religion motiviert sind.

Gerade islamischer Terror hat eine große politische Komponente, nichtsdestotrotz lassen sich religiöse Spezifika nicht einfach so abtun, wie du das konstant machst, als ob der Bezug zu Allah ausversehen als Druckfehler in die Botschaft geraten ist. Auch der Verweis auf tolerante Religiöse bringt dich nicht weiter. Zum einen könnte auch jeder Gläubige weltweit, jederzeit, ein netter Mensch sein, und das Problem, welches du konsequent verweigerst wäre immer noch da.

Schließlich habe ich meine Zweifel, ob die Toleranz wirklich gegeben ist. Das fliegt dir sofort um die Ohren, sobald man die Cartoons usw einbezieht, was du aber ja bereits von der Diskussion ausgeschlossen hast. So zimmerst du dir eine Fantasiewelt zurecht, in der du konsequent ausklammerst, was nicht reinpasst. Das ist für dich dann reißerisch oder so. So kann man eben alles abschießen, was einem nicht in den Kram passt. Ehrlich ist das aber nicht.

Für mich ist das ein klarer Fall für Induktion. Es gibt X, folglich ist die Behauptung Religion sei nie X direkt falsch. Dass es um Religion geht, lässt sich wegen der Spezifika und konkreten Bekundungen nicht leugnen. Selbst wenn du das weich machen möchtest (aus „nie“ wird „selten“ usw.) und alle Stellschrauben lockern willst, damit deine Realitätsverweigerung nicht auffliegt, musst du dann eben die Position ehrlich beziehen, dass du es Okay findest, dass Todesdrohungen und Einschüchterungen im Umgang mit dem Islam die Regel sind und das bereits einen Effekt auf Selbstzensur hat. Du kannst es natürlich auch einfach komplett leugnen, aber falls dir das doch zu schwer wird, musst du es wohl als Bagatelle abtun. Dann ist das ganze einfach eine Frage, wie lange man Lust hat, mit dir Salamitaktik zu spielen.

Selbst das ist nur unwichtiges Beiwerk, denn es geht um die Akzeptanz von Glauben an Dinge, die um mehrere größenordnungen unsinniger sind als jede noch so abwegige Verschwörungstheorie. Selbst die Behauptung der 2. Weltkrieg sei komplett erfunden und inszeniert ist noch glaubhafter als was Religionen gemeinhin predigen. Für dich ist das eben kein Problem, du weigerst dich ja sogar anzuerkennen, dass Religionen bestimmte „Systemeigenschaften“ hätten, z. B. Dogmata, religiöser Glaube usw. Mir ist nicht klar, wie du das aufrecht erhalten willst ohne in die Trickkiste zu greifen.

Entweder man hat den Wert, dass völlig unbelegbare Sachen nicht überproportional als wahr angenommen werden sollen, oder man hat den Wert nicht. Das ist in der Tat eine der wenigen Dichotomien, die Sinn ergeben und wo ich keine Zwischenwerte erkenne. Religiöse verneinen das, denn das ist gerade der Glaube; Religion ist das dazugehörige System. Der Rest ist echt egal, darum ist deine Differenzierung von Kumbaya singenden Gläubigen vollkommen unbrauchbar. Alle Beispiele sind Ableitungen davon und sind nur nützlich, weil sie das Problem induktiv unterfüttern.

Und bevor der Einwand kommt, dass jeder ja irrationale Ansichten hat — auch geschenkt — es geht um ein allgemeines Bemühen in Proportion zu der Ansicht. Bei Glaube und Religion ist das nicht nur nicht der Fall, sondern die Ablehung des Wertes ist noch eine Tugend, die lange Zeit hoch geachtet wurde, teilweise noch wird.

Interessantweise gibt es einige Evangelikale, denen die Suche nach Wahrheit derartig eingetrichtert wurde, dass der eigentlich religiöse Wert, Wahrheit, sie aus dem Glauben katapultiert hat. Das gibts auch, und ist auch einbezogen.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Vollbreit » Mo 3. Feb 2014, 09:05

ganimed hat geschrieben:Die hohe Motivation IST doch der Impuls B. Meine Frage war, woher der kommt. Also jetzt umformuliert: woher kommt die hohe Motivation?

Das ist eine Mischung verschiedener Faktoren, z.B.: Temperament, Interessen, Talent, Erreichbarkeit der Ziele, aber auch verschiedenen Pathologien und individuellen Bedürfnissen beruht.

ganimed hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Aber auch dazu, z.B. zu seinen gesammelten Lebenserfahrungen, verhält man sich ja auch nicht passiv.

Aber auch zu diesem aktiven Verhalten braucht es einen Impuls, eine hohe Motivation. Woher kommt die jeweils? Ich glaube, wir diskutieren gerade eine unendliche Reihe durch.
Ja, ich weiß, was Du meinst. Man kann immer weiter fragen, wo das nun wieder herkommt und um das ganze abzukürzen: man wird in vielen Fällen weitere Komponenten finden, einige Spuren verlieren sich im Dunkeln, aber am Ende hast Du damit nur festgestellt, dass es Kausalketten bzw. Determination gibt.
Das wissen wir aber und für die Frage nach den Interessen (und auch dem freien Willen) ist es gleichermaßen unwichtig, ob wir wissen, wo genau die herkommen (das mag den Forscher interessieren), für den Einzelnen reicht zu wissen, dass mich etwas interessiert oder dass ich motiviert bin.
Jeder weiß sehr genau, ob er zu etwas Lust hat oder nicht und der einfachste Weg ist jemanden danach zu fragen. Das Kompetenzzentrum ist wieder man selbst. Und man sagt auch nicht: „Oh Moment, da muss ich mal klurz mein Gehirn fragen“, sondern (egal was da hirnphysiologisch abläuft), wenn ich Dich frage, ob Du lieber durch ein Teleskop schauen, in den Zoo gehen, Achterbahn fahren oder lesen möchtest, wird Du die Antwort wissen (und ob Du von Dopamin, Affektschwellen oder so etwas je gehört hast, spielt keine Rolle).

ganimed hat geschrieben:Das mag ja sein. Aber den, den es völlig kalt lässt, lässt es deshalb völlig kalt, weil er keine hohe Motivation hat. Und das war vor allem nicht seine Idee, er hat nicht dafür gesorgt, keine hohe Motivation zu haben. Sondern das war letztlich immer ein äußerer Faktor.
Auch Selbstmotivation kann man lernen, die Zutaten sind alle bekannt.
Aber Du neigst dazu sowas wie „meine Einstellung“ zu einem Ding wie „mein Auto“ zu machen. Aber Deine Einstellung ist ein Teil von Dir, es sind Sätze wie: „Darüber denke ich heute anders als vor 5 Jahren.“ Das bist Du. Sätze wie: „Mein Gehirn hat vor einiger Zeit beschlossen, dass ich meine Einstellung ändere“ oder „Mein Gehirn hat vor einiger Zeit beschlossen, seine Einstellung zu ändern“ sind beide falsch.
Satz 1 ist erkennbar dualistisch, mein Gehirn bechließt was und „funkt“ mir das Ergebnis rüber. Wie genau? Von wo nach wo? An diesen Stellen platzen diese epiphanomenalen Konzepte alle, wenn man den Mut hat hier zu Ende zu denken.
Satz 2 ist ein weiterer Grundfehler. Es wird von Seiten mancher Neurobiologen/Hirnforscher behauptet, man könne auf die Sprache der ersten Person: „Ich will...“ „Mich interessiert ...“ „Ich bin hin und weg, wenn ...“ „Ich bin bei … immer zu Tode gelangweilt“ „Sehr motiviert bin ich, wenn ...“ vollständig in eine deskriptive Sprache überführen. Das kann man behaupten, muss es aber dann auch einlösen.
Was man dann nicht machen darf, ist Elemente der Sprache der ersten Person (die dem Subjekt vorbehaltet sind) in die deskriptiv-objektivierende Sprache überführen, wie es bei „Mein Gehirn will...“ „Mein Gehirn entscheidet“ „Mein Gehirn ist motiviert“ „Mein Gehirn ist so perfide … zu machen“ und weiteren Aussagen geschieht.
Der Klassiker hierzu: http://www.philosophie.uni-muenchen.de/ ... singer.pdf

ganimed hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Also kann die Person sich das nicht als eine selbst beschlossene Verbesserungsaktion gutschreiben.

Gerade die, wenn dieselben Ereignissen den einen motivieren und den anderen nicht.

Gerade die nicht. Weil wenn sie jemanden motivieren, ist das keine Eigenleistung, weil man sich die hohe Motivation (die ja von außen kommt) nicht selber gebaut hat.

Die Motivation kommt doch nicht von außen, Du entscheidest doch. Du wachst doch nicht eines Morgens auf und sagst: „Ach, was für ein herrlicher Tag, ich glaube ich sprenge mich mal in die Luft.“ Auch Amokläufer, haben ihre Geschichte, die in aller Regel rekonstruierbar ist. Klar, wenn der Vater Jäger oder Sportschütze ist, ist der Schritt leichter, aber längst nicht jeder, der leicht an Schusswaffen kommen könnte, läuft Amok. „Mh, da steht die pump gun, gestern die 5 in Mathe, ich glaub ich lauf mal Amok.“ So geht das einfach nicht.
Und in sehr vielen Fällen könnte man was ändern, nur die Prognosen sind schwierig, weil man eben gerade nicht ein paar Algortihmen finden muss und dann ist alles ganz einfach. Aber das ist der nächste Kardinalfehler der Neurointerpreten: Sie haben hochpathologische Fälle, mal eben zum Normalfall deklariert. Schwerste Psychopathen, die manchmal (aber auch nicht immer) wirklich nicht anders können, die über keinerlei Impulskontrolle verfügen, wurden untersucht und dann wurde behauptet, so seien wir alle.
Warum aber nun eine extreme kleine, extrem gestörte Minderheit als Referenz für Dich und mich, die wir über Impulskontrolle verfügen stehen soll, ist vollkommen schleierhaft.

Da hast Du drei dicke Argumente, an denen Du Dich abarbeiten kannst, wenn Du magst.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Vollbreit » Mo 3. Feb 2014, 09:21

Lumen hat geschrieben:So zimmerst du dir eine Fantasiewelt zurecht, in der du konsequent ausklammerst, was nicht reinpasst. Das ist für dich dann reißerisch oder so. So kann man eben alles abschießen, was einem nicht in den Kram passt. Ehrlich ist das aber nicht.

Schön, dass Du schon siehst, wo das Problem ist.
Schade, dass Du es projizierst.

Nanna hat es eigentlich schön erklärt.
Der Fundamentalismus ist das Problem, die Religion wird häufig als (Pseudo)Legitimation angeführt, instrumentalisiert und mitunter mag sie auch Mitursache sein.
Du müsstest aber nachweisen, wenn Du nicht pars pro toto argumentieren willst, was Du aber oft tust, dass Religion oder eine religiöse Einstellung zwingend in den Fundamentalismus führt oder dass alle Arten von Fundamentalismus ausschließlich religiös bedingt oder motiviert sind.

Beides ist aber nachweislich falsch.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Nanna » Di 4. Feb 2014, 01:39

Lumen hat geschrieben:Gerade islamischer Terror hat eine große politische Komponente, nichtsdestotrotz lassen sich religiöse Spezifika nicht einfach so abtun, wie du das konstant machst, als ob der Bezug zu Allah ausversehen als Druckfehler in die Botschaft geraten ist.

Das habe ich nicht gesagt. Du greifst da eine Position an, die ich so nicht vertrete und mich auch nicht erinnern kann, sie mal vertreten zu haben.

Natürlich ist Gott (Allah bedeutet einfach "der Gott") nicht aus Versehen da rein geraten. Fundamentalismus erfordert dogmatische gedankliche Grundgerüste und in da wird man bei den Religionen einfach besonders schnell fündig. Gott ist in einem religiösen Umfeld die perfekte Legitimationsquelle und wenn man eine Koranstelle finden kann, die auch nur im entferntesten das zu unterstützen scheint, was man vertritt, kann man damit in einem religiösen Diskurs erst mal sehr weit kommen. Das leugne ich auch gar nicht, ich widerspreche in zwei anderen Punkten:

Erstens dem, dass dieses psychische und soziologische Phänomen auf Religion beschränkt sei. Zwar ist der religiöse Fundamentalismus eine der großen Hauptgruppen des Fundamentalismus, aber eben nicht die einzige. Man kann kurioserweise fast alles in ein fundamentalistisches Denkschema pressen, von Ernährungsregeln über atheistische politische Philosophien bis hin zu Musikstilen und Sportrichtungen.

Zweitens dem, dass jede religiöse Praxis gleichzeitig Fundamentalismus sei. Da ist mein Kirchentagsbesucher, der zwar eine tiefe innere Verbindung mit Gott spürt, aber eine Dogmatik der Heiligen Schrift nicht besonders ernst nimmt und auch sonst keine Probleme damit hat, dass sein Bruder Atheist und sein Nachbar Muslim ist, ein widerlegendes Gegenbeispiel. Ich brauche nur einen davon, um die Gleichung "Religion = Fundamentalismus" prinzipiell zu widerlegen und die zwei, drei Milliarden harmlosen Gläubigen, die mit ein bisschen Pluralismus und Ambiguität in ihrem Leben klarkommen, finde ich wahrscheinlich auch noch, um eine Widerlegung im statistischen Sinne durchzuführen.

Lumen hat geschrieben:Auch der Verweis auf tolerante Religiöse bringt dich nicht weiter. Zum einen könnte auch jeder Gläubige weltweit, jederzeit, ein netter Mensch sein, und das Problem, welches du konsequent verweigerst wäre immer noch da.

Da ich das Problem ja angeblich an sich leugne, ist das jetzt nicht gerade ein schlagender Satz, um mich zu überzeugen. ;-)

Wenn jeder Gläubige der Welt ein netter Mensch im Sinne einer Achtung der Rechte Anderer wäre, hätte ich noch erheblichere Schwierigkeiten, ein Problem zu erkennen. Von meinen Studienarbeiten der letzten Jahre her komme ich aus einer Ecke, die recht stark vom practical turn und vom Poststrukturalismus beeinflusst ist, politikwissenschaftlich bin ich ein Spezialist für social movement theory mit Anwendungsgebiet Naher Osten. Was das konkret heißt, muss ich jetzt hier nicht ausführen, Vollbreit wird es vielleicht teilweise was sagen; für unsere Diskussion heißt es konkret, dass ich aus meinen Kenntnissen des Forschungsstandes heraus weiß, dass Diskurse in großer Breite - also mit vielen Teilnehmern, teilweise vielen Millionen - nicht so funktionieren, dass Gruppen etwas sagen und etwas anderes meinen. Wenn etwa einer Gruppe unterstellt wird, dass sie der Gewalt "nicht wirklich" abgeschworen hätte, obwohl sie seit Jahren nur noch soziale Projekte organisiert und sich zu Wahlen aufstellen lässt, dann ist das etwas, was aus meiner Sicht (und der der Diskurs-Forschung) keinen Sinn ergibt, weil der Diskurs nicht nur in eine Richtung wirkt, also auch die Gruppe selbst verändert. Das eine sagen und das andere meinen, ganz besonders wenn es bewusst geschieht, funktioniert nur in sehr kleinen Zirkeln und auf der persönlichen Ebene, wo sich Einzelpersonen der Unterschiede zwischen dem erlogenen und dem "realen" Bild der Wirklichkeit bewusst sein können. Für große Gruppen sind von daher Behauptungen, dass die alle nur nett tun würden und eigentlich eine geheime Agenda verfolgen würden und alle Ungläubigen brennen sehen möchten, schlicht unplausibel und Deutungen in dieser Richtungen werden vom empirischen Forschungsstand auch nicht gestützt.
Anders ausgedrückt: Wer lange genug behauptet, einfach nur nett zu sein, vergisst, dass er gar nicht nett ist und bleibt einfach nett, denkt irgendwann vielleicht gar, es schon immer gewesen zu sein. Einbindung funktioniert.

Lumen hat geschrieben:Schließlich habe ich meine Zweifel, ob die Toleranz wirklich gegeben ist. Das fliegt dir sofort um die Ohren, sobald man die Cartoons usw einbezieht, was du aber ja bereits von der Diskussion ausgeschlossen hast.

Wann soll das denn geschehen sein? Und warum sollte mir das um die Ohren fliegen? Ich habe doch schon weiter oben geschrieben, wie es um den Respekt für Andersdenkende in Ländern wie Ägypten aussieht, da ist es doch nichts neues, sondern passt genau ins Bild, dass viele Einwohner des Nahen Ostens wütend wegen der Cartoons sind.

Die Frage ist nur, ob das eine rein religiöse Frage ist, was sich meines Erachtens weder theoretisch noch empirisch halten lässt. Ein gewaltiges Problem im Nahen Osten ist, dass der Islam als letztes eigenes Kulturelement betrachtet wird. Alles, was den Nahen Osten in früheren Jahrhunderten mal ausgemacht hat - eine blühende Landwirtschaft, eine wissenschaftliche Vorreiterrolle, überlegene technologische Fähigkeiten, eine zentrale Rolle im internationalen Handel, ein weltweit unvergleichbarer Lebensstandard mit fortgeschrittener Medizin und Hygiene -, ist so nachhaltig ruiniert, dass der Nahe Osten heute z.B. weltweit mit Abstand die Region mit der höchsten Prävalenz bei depressiven Erkrankungen ist. Die ganzen Kulturdiskurse seit dem 19. Jahrhundert kreisen einzig und allein um die Frage, wie die nahöstliche Kultur so tief fallen konnte und die ganzen daraus entstandenen Ideen - die Nahda-Epoche in der Literatur, der Baathismus, die Salafiyya, die eigentlich mal als modernistisches Reformerprogramm gestartet war - sind alles mehr oder (meist) weniger gelungene Reformprogramme. Aus westlich-saturierter Sicht, der seit dem Zweiten Weltkrieg jede Form von ideologischem Fanatismus zum Glück schnell suspekt ist - mag es unverstehbar sein, aber die Demütigungsgefühle und die Suche nach einer eigenen Identität sind treibende Kräfte für große Teile des politischen Diskurs im Nahen Osten. Ich bin in Kairo mal in eine Diskussion über 9/11 und den Irakkrieg geraten - autsch, das wurde laut! Es ist keiner persönlich auf mich losgegangen, aber man hat gemerkt, dass da manche regelrecht blind vor Wut und Ohnmachtsgefühlen sind. Das deckt sich mit dem, was ich auch aus der politikwissenschaftlichen Literatur kenne. Es ist insofern meines Erachtens nicht verwunderlich, dass die Leute sich dort um das einzige verbindende, eigene Element scharen, dass sie haben, nämlich den Islam. Nur bedeutet das eben, dass die Religion hier nicht der treibende Faktor ist, sondern einfach die perfekten Strukturen mitbrachte, um als Totempfahl zu taugen, um den man kollektiv herumtanzen kann und sich - wenigenstens einmal - einbilden kann, man habe etwas, was einem gegenüber dem Rest der Welt Macht gibt, der währenddessen das Öl abtransportiert, Störenfriede mit Drohnen wegsprengt und bis auf ein bisschen Tourismus im wesentlichen Verachtung oder sogar nur Desinteresse zeigt.

Und bevor jetzt der Einspruch kommt, dass ich Apologet wäre: Ich verteidige hier primär nicht, sondern versuche, die Situation strukturell aufzudröseln und deine Nase mal auf andere Faktoren zu stoßen, die mit Religion nur randständig etwas zu tun haben. Gäbe es den Islam nicht, dann wäre es irgendwas anderes, auf das man sich berufen würde. Keine Ahnung was, die Beduinenkultur vielleicht, die ja zumindest auf der Arabischen Halbinsel trotz wahhabitischer Dauerpropaganda immer noch eine gewisse Rolle spielt.

Es stimmt natürlich, dass die Religion ein toller Durchlauferhitzer für Fundamentalismus und darin fraglos effektiver als viele andere Weltbilder ist. Aber ob etwas nun das Wasser oder der Durchlauferhitzer ist, macht analytisch halt einen erheblichen Unterschied.

Lumen hat geschrieben:So zimmerst du dir eine Fantasiewelt zurecht, in der du konsequent ausklammerst, was nicht reinpasst. Das ist für dich dann reißerisch oder so. So kann man eben alles abschießen, was einem nicht in den Kram passt. Ehrlich ist das aber nicht.

Was Vollbreit gesagt hat.

Davon abgesehen habe ich keine besonders statische Weltsicht, mehr ein riesiges Mosaik mit lauter Teilen, die sich alle permanent bewegen, sich verbinden und wieder lösen. Schon allein deshalb komme ich mit statischen Bildern wie einer starren Dichotomie Religion vs. Nichtreligion einfach nicht klar, weil die Welt so trivial nicht funktioniert.

Lumen hat geschrieben:Für mich ist das ein klarer Fall für Induktion. Es gibt X, folglich ist die Behauptung Religion sei nie X direkt falsch. Dass es um Religion geht, lässt sich wegen der Spezifika und konkreten Bekundungen nicht leugnen. Selbst wenn du das weich machen möchtest (aus „nie“ wird „selten“ usw.) und alle Stellschrauben lockern willst, damit deine Realitätsverweigerung nicht auffliegt, musst du dann eben die Position ehrlich beziehen, dass du es Okay findest, dass Todesdrohungen und Einschüchterungen im Umgang mit dem Islam die Regel sind und das bereits einen Effekt auf Selbstzensur hat. Du kannst es natürlich auch einfach komplett leugnen, aber falls dir das doch zu schwer wird, musst du es wohl als Bagatelle abtun. Dann ist das ganze einfach eine Frage, wie lange man Lust hat, mit dir Salamitaktik zu spielen.

Sei mir bitte nicht böse, wenn ich ganz offen frage: Hast du Ahnung von Statistik über den schulischen Mathematikunterricht hinaus?

Falls ja, weißt du, was eine Drittvariablenkontrolle ist und kannst dich jetzt fragen, ob du die ausreichend durchgeführt hast. Falls nein, kannst du dir unter dem Begriff vielleicht trotzdem genug vorstellen, um zu verstehen, dass die Feststellung einer Korrelation zwischen "Islam" und "Todesdrohungen" alleine nicht viel aussagt. Es kann sein, dass eine oder mehrere Drittvariablen für das gleichzeitige Auftreten verantwortlich sind. Es kann theoretisch sogar sein, dass beide Variablen unabhängig sind und zufällig voneinander auftreten, wobei ich das für unwahrscheinlich halte. Aber es gibt Anzeichen, dass viele kulturelle Praktiken des Nahen Ostens andere oder zumindest weitere Ursachen haben. Die Clanstrukturen mit dem damit verbundenen Patriarchalismus und der Idee der Familienehre sind, nur mal als gutes Beispiel, starke Triebkräfte für Phänomene wie Zwangsheiraten, Ehrenmorde und eine generelle Geringschätzung der Frau. Bezeichnenderweise kennen wir solche Gepflogenheiten auch aus dem südostasiatischen Raum, z.B. aus China oder Japan, wo es deutlich weniger und teils auch nicht derart dogmatische religiöse Vorstellungen gibt, und die Familienehre trotzdem ein riesiges Fass ist. Arrangierte Ehen sind da ebenfalls keine Seltenheit.

Lumen hat geschrieben:Selbst das ist nur unwichtiges Beiwerk, denn es geht um die Akzeptanz von Glauben an Dinge, die um mehrere größenordnungen unsinniger sind als jede noch so abwegige Verschwörungstheorie. Selbst die Behauptung der 2. Weltkrieg sei komplett erfunden und inszeniert ist noch glaubhafter als was Religionen gemeinhin predigen. Für dich ist das eben kein Problem, du weigerst dich ja sogar anzuerkennen, dass Religionen bestimmte „Systemeigenschaften“ hätten, z. B. Dogmata, religiöser Glaube usw. Mir ist nicht klar, wie du das aufrecht erhalten willst ohne in die Trickkiste zu greifen.

Ah, jetzt kommen wir endlich zu den Pudels Kern: Du bist persönlich beleidigt, weil manche Leute "solches Zeug" glauben. Gut, dabei kann ich dir nicht helfen. Mir persönlich ist es wurscht, was meine Nachbarn denken oder glauben, solange sie mich und Andere respektieren und niemandem erkennbar schaden. Und ich werde sicher nicht allen möglichen angeblichen Schaden herbeiinterpretieren.

Ich weigere mich nicht, bei Religionen typische gemeinsame Bestandteile zu identifizieren. Ich habe gesagt, dass es keine Systemeigenschaften gibt, die Religionen klar und deutlich von anderen kulturellen Praktiken abgrenzen und damit lediglich den Alleinstellungsstatus der Religion abgelehnt, den du ihr zuschreibst. Wie gesagt, vieles von dem, was du spezifisch bei Religiösen siehst, finden wir auch in anderen kulturellen Zusammenhängen. Religion moderiert und verstärkt manches Verhalten meiner Meinung nach, aber löst es nicht ursächlich aus.

Lumen hat geschrieben:Entweder man hat den Wert, dass völlig unbelegbare Sachen nicht überproportional als wahr angenommen werden sollen, oder man hat den Wert nicht. Das ist in der Tat eine der wenigen Dichotomien, die Sinn ergeben und wo ich keine Zwischenwerte erkenne. Religiöse verneinen das, denn das ist gerade der Glaube; Religion ist das dazugehörige System. Der Rest ist echt egal, darum ist deine Differenzierung von Kumbaya singenden Gläubigen vollkommen unbrauchbar.

Das macht argumentativ überhaupt keinen Sinn. Mit der Logik kann ich auch behaupten, dass eine Eventmanagerin aus München und ein Landwirt aus einem Dorf bei Jever sich grundlegend ähnlich sind, weil sie beide Deutsch sprechen und eine Differenzierung in Norddeutsche und Süddeutsche oder nach Geschlecht oder Berufsgruppe oder Bildungsstand keinen Erkenntnisgewinn bringen könnte.

Lumen hat geschrieben:Und bevor der Einwand kommt, dass jeder ja irrationale Ansichten hat — auch geschenkt — es geht um ein allgemeines Bemühen in Proportion zu der Ansicht. Bei Glaube und Religion ist das nicht nur nicht der Fall, sondern die Ablehung des Wertes ist noch eine Tugend, die lange Zeit hoch geachtet wurde, teilweise noch wird.

Mein Einwand ist: Jeder hat irrationale Ansichten. Du übrigens auch, auch wenn du es gerade nicht mitkriegst. ;-)

Lumen hat geschrieben:Interessantweise gibt es einige Evangelikale, denen die Suche nach Wahrheit derartig eingetrichtert wurde, dass der eigentlich religiöse Wert, Wahrheit, sie aus dem Glauben katapultiert hat. Das gibts auch, und ist auch einbezogen.

Das ist gar nicht so abwegig. Die etablierte Erklärung geht so:
Der religiöse Fundamentalismus im engeren Sinne ist im 19. Jahrhundert so langsam als Antwort auf die Krise der Religion angesichts des wissenschaftlichen Fortschritts entstanden. Die Erkenntismethode des logos übernahm plötzlich die komplette Weltdeutung, was vor der Aufklärung durch den mythos geschah. Dieser Vorgang hat bei einigen Leuten Verlustgefühle und eine konstante Wahrnehmung der Gegenwart als Krise hervorgerufen, allerdings konnte hinter den Triumpf den logos keiner mehr zurück, die Etablierung der wissenschaftlichen Methode war einfach ein kompletter game-changer. Als Folge davon haben Fundamentalisten begonnen, zu versuchen, den mythos wieder als dominante Welterklärung herzustellen, aber mit den Mitteln des logos und tun das bis heute: Man benutzt religiöse Texte wie Gebrauchsanleitungen für eine Laborausrüstung, zählt Wörter, versucht sich im Sinne wortwörtlicher Schriftauslegung noch "richtiger" zu verhalten, oder eignet sich pseudowissenschaftliches Vokabular an. Dass dabei ein paar irgendwann komplett die Seite wechseln, ist eigentlich nicht verwunderlich, es liegt in der Natur der Sache und ist eigentlich erwartbar. Und interessanterweise wechseln auch Leute von der wissenschaftlichen Seite - zwar selten auf die religiöse, aber nicht ganz so selten auf die fundamentalistische, wo dann in einem ähnlichen Vorgang sämtliche Ambivalenzen und Ambiguitäten beseitigt werden und plötzlich Sprüche wie die kommen, dass eine "Differenzierung von Kumbaya singenden Gläubigen vollkommen unbrauchbar" wäre. ;-)
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Lumen » Di 4. Feb 2014, 03:58

Das heißt, du unterscheidest zwischen Leuten, die Mythos (zumindest teilweise) über Logos stellen? Ist das nicht besagte Dichotomie?

Deine Ausführungen, wenn auch interessant (danke dafür) gingen wieder am Punkt vorbei, über den du dich gleichzeitig lustig machst, dann aber munter bestätigst, aber als Gegenargument wertest. Es gibt auch Jainisten, wo, wie Sam Harris bemerkt, verrückter, radikaler und fundamentalistischer im Prinzip besser ist. Jainisten sind hardcore Pazifisten, Veganer, und würden wortwörtlich keiner Fliege was antun. Sie filtern Wasser genau, damit kein Tier Schaden nimmt, und achten genau, wo sie hintreten, um auf keine Ameise oder Käfer zu treten.

Was sagt uns das? Dass Inhalte austauschbar sind, aber der Wert Wahrheit zu suchen und anzuerkennen, der entscheidende Faktor ist. Darum verstehe ich nicht, warum Familienehre oder andere Formen von Irrationalität ein Gegenargument sein sollen. Religion und Glaube ist nur bei weitem die erkennbarste Form, die gemeinhin hochgeschätzt ist.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Vollbreit » Di 4. Feb 2014, 13:54

@ Nanna:

Zunächst. Wieder mal ein super Beitrag, konstruktiv und kenntnisreich und obendrein auch noch stilistisch gut, so stelle ich mir Diskussionen vor. Danke!

Nanna hat geschrieben:Das eine sagen und das andere meinen, ganz besonders wenn es bewusst geschieht, funktioniert nur in sehr kleinen Zirkeln und auf der persönlichen Ebene, wo sich Einzelpersonen der Unterschiede zwischen dem erlogenen und dem "realen" Bild der Wirklichkeit bewusst sein können. Für große Gruppen sind von daher Behauptungen, dass die alle nur nett tun würden und eigentlich eine geheime Agenda verfolgen würden und alle Ungläubigen brennen sehen möchten, schlicht unplausibel und Deutungen in dieser Richtungen werden vom empirischen Forschungsstand auch nicht gestützt.

Und es ist Brandom, der diese Stoßrichtung philosophisch unterstützt, wenn er die soziale oder deontische Kontoführung als das zu explizieren versucht, was wir implizit ohnehin tun. Kurz gesagt: wer sich nicht festlegen lässt, also unverbindlich schwallert und ständig Dinge behauptet, die er weder theoretisch erklären und praktisch herzeigen kann, dessen Kontostand sinkt.


Nanna hat geschrieben:Anders ausgedrückt: Wer lange genug behauptet, einfach nur nett zu sein, vergisst, dass er gar nicht nett ist und bleibt einfach nett, denkt irgendwann vielleicht gar, es schon immer gewesen zu sein. Einbindung funktioniert.
Hier allerdings würde ich Einspruch erheben, durchaus mit Lumen, wenn ich ihn richtig verstehe.

Zum einen: Ja, es ist gut und richtig, wenn sich die Mehrheit an Recht und Gesetz hält, vollkommen egal, ob sie es versteht und was sie davon hält. Ich bezeichne mich auch als Demokrat und kann vermutlich nur höchst oberflächlich erklären, was Demokratie im Kern ausmacht und welche Feinheiten es da gibt und wofür genau nun Bundestag und Bundesrat zuständig sind... ehrlich gesagt, keine Ahnung.

Aber und hier würde ich mit Habermas und gegen Brandom sprechen: Das ist zu technisch. Ich will, dass jemand nicht nur so tut, als hätte er eine bestimmte Einstellung, solange man ihm auf die Finger schaut, sondern mir ist es wichtig, dass er diese Einstellung tatsächlich auch hat.
Ich will tatsächlich so wenig wie Du und Lumen, dass jemand Morgen wieder Scheiterhaufen baut und um da sicher zu gehen, gibt es einen und m.E. nur einen Weg: Die Menschen müssen das tatsächlich nicht wollen.
Die konventionellen Mitläufer, also stets die Mehrheit der Bevölkerung (das schon, aber meistens werde da immer 80% genannt, vermutlich ist das nie überprüft worden, egal), weiß im Grunde nicht, warum sie will, was sie will und das bis weit in die gebildeten Kreise hinein. Das ist in stabilen Verhältnissen egal, aber der Wind könnte sich mal drehen.
Die Standhaften sind dann wirklich die Postkonventionellen (und kurioserweise die Präkonventionellen, die sich aus Prinzip jedem System verweigern) und das ist empirisch nachgewiesen.

Aber es braucht nicht den ideologischen Maßanzug, damit die „richtige Einstellung“ auch sitzt, hier bin ich dann nicht mehr bei Lumen, der m.E. dahin tendiert, sondern ich habe Vertrauen genug in die postkonventionellen Menschen, dass sie im Zweifel den Mut haben, sich ihres eigene Verstandes zu bedienen, der eine oder andere knickt bei äußerem Druck ein, doch die meisten werden ihren Weg finden, um, wenn schon kein Fels in der Brandung, doch wenigstens ein ordentliches Körnchen Sand im Getriebe zu sein.

Anpassung kann auch über Jahre stattfinden, wenn man es mit Menschen zu tun hat, die schlau genug sind, zu wissen, was sie jetzt gerade nicht äußern dürfen, aber wehe, wenn sie losgelassen. Das ist der Punkt, den ich an Deiner Darstellung kritisieren würde.
Deshalb sind m.E. staatliche Regulative wichtig, für die Masse, aber es ist auch die Wühlarbeit wichtig. Einzelnen zu helfen, ihren Weg in die Freiheit des postkonventionellen Denkens zu finden, die dann dort, nicht im Dienste einer Überschrift, sondern im Dienste des Geistes der postkonventionellen Freiheit wirken und andere „infizieren“.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Vollbreit » Di 4. Feb 2014, 17:36

PS:

Und andererseits hast Du natürlich insofern Recht, als Dein Argument die These vom „ganz langen Anlauf“ untergräbt.
Selbst wenn es gerissene Rädelsführer gibt, die Massen – ohne die ohnehin vieles Geschwätz bleibt, selbst der charismatische Hetzer braucht die Gefolgschaft, nicht nur 37 Auserwählte – kann man nicht Jahre hinter sich vereinen und so tun als sei man an den Mainstream assimiliert und gesetzestreuer Demokrat, um dann auf einmal zuzuschlagen, denn selbst wenn die Scharfmacher einen Plan in der Tasche haben, die größeren Teile der Gefolgschaft sind inzwischen tatsächlich assimiliert, wenn wir mal Sarrazin'sche Phobien aufgreifen.

Und doch, ich halte ja Sarrazin immer für den Heinsohn für Arme, stimmt die Rechnung natürlich auch andersrum.
Eine Verschiebung der demographischen Verhältnisse verändert die Gesellschaft ohne Zweifel und da muss man aufpassen.

Die mahnenden Stimmen höre ich schon:
Gunnar Heinsohn hat geschrieben:„Aller Erfolge zum Trotz handeln die Söhne aus der Estremadura hoch suizidal oder eben tollkühn und todesmutig. Nebenher reicht es ja auch noch für ein paar verlustreiche Gemetzel mit rivalisierenden Spaniern: der Kuba-Gouverneur Velazquez gegen Cortes und Almagro – von der Herkunft ein Findelkind – gegen Pizzaro. Der aber hat gleich drei Brüder dabei, die ihm Suzco sichern. Hier handeln Katholiken und keineswegs Mohammed Attas. Vor jedem Angriff beugen sie Haupt und Knie, um kollektiv vom Herrn den Sieg zu erflehen. In Analogie zum Begiffspaar Muslime und Islamisten wären diese Spanier keine Christen, sondern Christianisten gewesen, denn der Gott Kastiliens „liebte Tote mehr als Ungläubige“ (Rowdon 1974, 134). Wie gegen die damaligen Spanier mit Bibelversen von der Liebe und der Lebensheiligkeit nichts auszurichten ist, so erweisen sich heute vergleichbare Koransuren als wirkungslos. Da sie sich – jenseits von Israel und Kaschmir – Eroberungen noch nicht vorstellen können, bleiben die Islamisten einstweilen allerdings negative Conquistadoren, die sich nur Strafen und Zerstörungen zutrauen.“
(G. Heinsohn, Söhne und Weltmacht, Orell-Füssli, 2003, S.99f)


Henryk M. Broder hat geschrieben:„Vor zehn Jahren, im Frühjahr 1996, war die Welt noch weitgehend in Ordnung. Die Türme des World Trade Centers dominierten die Skyline von Manhattan, der amerikanischen Präsident hatte ein Problem mit einer Praktikantin, in Deutschland neigte sich die Ära Kohl ihrem Ende zu, die Intellektuellen vertrieben sich die Zeit mit Debatten, ob Francis Fukuyama mit seiner Behauptung von „Ende der Geschichte“ richtig lag und ob der Kapitalismus wirklich gesiegt oder Sozialismus nur einen Probelauf verloren hatte. So genannte „Ehrenmorde“ kamen nur im tiefsten Anatolien vor, die feinsinnige Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus war noch nicht erfunden und in Berlin sprach sich das Bezirksamt von Spandau für den Abriss von zwei Oberstufenzentren aus – nicht weil Lehrer vor gewalttätigen Schülern kapituliert hatten, sondern weil die Gebäude asbestverseucht waren.“
(H.M. Broder, [/i]Hurra, wir kapitulieren! – Von der Lust am Einknicken[/i], wjs, 2006, S.11)


Aber auch das führt m.E. nur zu der Konsequenz, dass man sich um einen Dialog bemühen sollte – und das ist nicht sonderlich schwer, denn die, um die wir uns bemühen, sind unsere Freunde, Mitarbeiter, manchmal Ehepartner – und keine Wesen vom anderen Stern. Wir müssen ihnen zumuten, sich von den Spinnern in ihren Reihen abzugrenzen, in Wort und Tat, abnehmen können wir ihnen das nicht, das hieße einen Übergriff zu begehen und sie aus der Verantwortung zu nehmen, denn die haben amn der Stelle die gemäßigten Kräfte. Aber wir können es ihnen auch zumuten, Du kennst die Lage in Teilen von des Nahen Ostens, wir, wenn wir es „hier bei uns“ doch mal schaffen, „die da“ anzusprechen, können feststellen, dass sie Probleme und Träume wie Du und ich haben.

Dass es Unterschiede gibt, finde ich manchmal anstrengend, manchmal bereichernd, aber ich habe auch mit meinen Mitmenschen, die auf Urgermanen machen, nie viel anfangen können und bin kein Multikulti-alles-ist-so-prima Typ, die finde ich ebenso anstrengend.

Ich finde, man sollte Menschen als Menschen behandeln und es dreht mir den Magen um, wenn ich sehe, Ausländer hin oder her, Religionen hin oder her, Veganertum hin oder her, wenn Menschen primär nach Etiketten gescannt werden. Wenn die Schublädchen über die eigene Begegnung und Urteilsfähigkeit dominieren, haben wir es mit allem zu tun, aber sicher nicht mit einem aufgeklärten Menschen. Das ist nicht bright, sondern blöd.

Dazwischen müssen wir durch und das heißt m.E. viererlei: 1) Dialogbereit sein (und nicht monologisch den „Hammeltreibern“ zeigen, für wie rückständig man sie hält: Wie unempathisch und taktlos muss man eigentlich sein, um nicht zu kapieren, dass das bestimmt nicht ankommt? Wenn man schon von der überlegenen Warte aus zu sprechen glaubt, sollte man sich nicht am Sack kraulen, laut rülpsen und dann das hohe Lied von der guten Kinderstube singen.).
2) Dialoge beenden und die hart sanktionieren, die partout nicht wollen, denn die gibt es. 3) Wir müssen uns endlich mal fragen, was denn so ein Mensch von ehemals Irgendwo, vielleicht ein Deutscher in der dritten Generation, tun und lassen soll, um auch als für uns als Deutscher zu gelten. Das kriegen die Amis hin, wir sind da nicht wirklich gut. 4) Wir brauchen immer mehr Menschen, denen man das nicht erklären muss, sondern die sagen: „Äh, ja, erzähl mir was Neues.“ Quirlige Menschen, mit Witz und Verstand, die Prinzipien haben, aber diese nicht mit Ressentiments verwechseln.

Nicht einknicken, nein, auch wissen wo man hin will. Der Traum von Großdeutschen Reich ist nun mal durch, aber der Kampf um religionsbefreite Zonen, hat so was äh... naja. Ich find da könnte man dran drehen. Wir müssen schon sagen was wir wollen, aber wollen wir um jeden Preis eine Welt ohne Religion oder wollen wir einfach eine bessere Welt? Wenn eine bessere Welt automatisch eine Welt ohne Religion ist, na gut, aber wenn das nicht der Fall ist, ist das entweder Symptomkuriererei und wohl nicht selten Selbstzweck. Das kennzeichnet dann vermutlich den Fundamentalisten.
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Nanna » Do 6. Feb 2014, 00:43

Lumen hat geschrieben:Das heißt, du unterscheidest zwischen Leuten, die Mythos (zumindest teilweise) über Logos stellen? Ist das nicht besagte Dichotomie?

Meine Kritik besteht nicht darin, dass du zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen unterscheidest, sondern dass so gut wie ausschließlich nur diese Unterscheidung triffst und andere Kategorien für unzutreffend oder irrelevant erklärst.

Es wäre keinesfalls sinnvoll, mythos und logos als Trennlinie zu benutzen, um Menschen in zwei Gruppen von Unvernünftigen und Vernünftigen einzuteilen, denn ich würde sagen, dass eine diskrete Trennung gar nicht möglich ist. Jeder Mensch, auch der säkulare, hat bzw. folgt einem mythos, einem großen Narrativ, in dem er sich selbst verortet. Eine rein logos-zentrierte Sichtweise führt in irgendeine Art solipsistischen Empirismus, den selbst viele hartgesottene Naturwissenschaftlicher wohl ablehnen würden. Aber die wissenschaftliche Methode hat natürlich dem mythos viel von seinem einstigen Revier streitig gemacht und in eine schnelle, unübersichtliche, vieldeutige Welt geführt, in der man nicht mehr, wie im Mittelalter vielleicht, dem Pfarrer glauben mustes, was er als ewige Wahrheit verkündet hatte, weil es schlicht niemanden sonst im Umkreis mehrerer Tagesreisen gab, dem man zugetraut hätte, dass er es besser wissen könnte.

Meines Erachtens haben im Weltbild eines psychisch gesunden Menschen sowohl mythos und logos ihren Platz. Der mythos als Erzählung darüber, wer man ist, woher man kommt und wohin man gehen soll, also das große Narrativ einer Kultur oder Gemeinschaft; der logos als Erkenntnismethode über die Beschaffenheit der physischen Welt und als Kontrollinstanz darüber, ob Dinge, die im Rahmen des mythos behauptet werden, empirisch haltbar sind.

Der Fundamentalist ist eben dadurch gekenntzeichnet, dass er nicht mithilfe des logos seinen mythos bereichert und mögliche Widersprüche auch mal stehen lassen kann (also einen gelassenen Agnostizismus lebt, wenn alles zu viel und uneindeutig wird), sondern dass er den logos benutzt, um einen bereits als Wahrheit gesetzten mythos irgendwie auf Deckung mit der Realität zu bringen, notfalls über den Versuch, die empirische Welt passend zu machen, indem widersprechende empirische Befunde psychisch ausgeblendet werden.

Lumen hat geschrieben:Deine Ausführungen, wenn auch interessant (danke dafür) gingen wieder am Punkt vorbei, über den du dich gleichzeitig lustig machst, dann aber munter bestätigst, aber als Gegenargument wertest. Es gibt auch Jainisten, wo, wie Sam Harris bemerkt, verrückter, radikaler und fundamentalistischer im Prinzip besser ist. Jainisten sind hardcore Pazifisten, Veganer, und würden wortwörtlich keiner Fliege was antun. Sie filtern Wasser genau, damit kein Tier Schaden nimmt, und achten genau, wo sie hintreten, um auf keine Ameise oder Käfer zu treten.

Was du mit deinem ersten Satz genau sagen wolltest, erschließt sich mir nicht.

Was die Jainisten angeht, weiß ich zu wenig, ob es sich bei denen überhaupt um Fundamentalisten handelt. Eine extreme Orthopraxis macht allein noch keinen Fundamentalisten, zumindest in meinem definitorischen Rahmen. Vollbreit würde vielleicht welchen attestieren, da sein Fundamentalismusbegriff etwas umfassender ist, als meiner, aber dazu müsste er selbst etwas sagen. Ein extremer Pazifismus macht für mich keinen Fundamentalisten, sondern die Frage, wie gut die betroffenen Personen mit einer ambivalenten Umgebung umgehen können. Wenn ich nach Bruce B. Lawrence's Kriterien für klassische Religion bzw. Fundamentalismus gehe, dann erfüllt der Jainismus auch mehr die Merkmale einer klassischen Religion: jenseitsorientiert, mystisch, inklusiv, fixiert auf Rituale, die die sichere Passage ins Jenseits garantieren, kaum Forderungen nach Individualität, diskursorientiert und die Realität reflektierend - wohingegen der Fundamentalismus als diesseitsorientiert, rational (logos-orientiert!), exklusiv, fixiert auf kollektive Mobilisierung für die Veränderung des Diesseits, radikale Individualität fordernd, elitär und Realität(en) konstruierend charakterisiert wird. Lawrence bringt es in diesem Satz sehr schön auf den Punkt: "It could be said that religion focuseson maximizing individual benefit through group participation, while ideology is intent on maximizing group benefit through individual participation.“ (Bruce B. Lawrence: Defenders of God - The Fundamentalist Revolt against the Modern Age, London / New York 1989; S. 79). Insofern sehe ich Jainisten vom Fundamentalismusvorwurf nicht automatisch betroffen und eigentlich als sehr gutes Beispiel dafür, dass man extrem religiös sein kann und nicht automatisch gesellschafts- und staatsgefährdend sein muss.

Lumen hat geschrieben:Was sagt uns das? Dass Inhalte austauschbar sind, aber der Wert Wahrheit zu suchen und anzuerkennen, der entscheidende Faktor ist. Darum verstehe ich nicht, warum Familienehre oder andere Formen von Irrationalität ein Gegenargument sein sollen. Religion und Glaube ist nur bei weitem die erkennbarste Form, die gemeinhin hochgeschätzt ist.

Also "uns" sagt das offensichtlich nicht dasselbe. Wahrheitssuche ist mehr eine logos-lastige Sache, weshalb sich rational orientierte Menschen davon stärker angesprochen fühlen, zu denen auch Fundamentalisten gehören (dass du fundamentalistische Inhalte nicht rational findest, weiß ich, aber rational ist hier methodisch und nicht normativ gemeint). Die nicht-fundamentalistischen Religiösen sind entweder mit einer guten Portion Agnostik geimpft oder suchen nach Innerlichkeit, Spiritualität und Erleuchtung, wo rationale Wahrheit nicht so sehr die Rolle spielt. Bei Fragen der Familienehre geht es nochmal um was anderes, nämlich um gesellschaftlichen Status, da geht es weder um rationale Erkenntnis noch um spirituelle Erleuchtung. Das zeigt uns aber sehr schön, wie vielschichtig das Phänomen ist, über das wir reden und dass Religion eben in ganz viele Bereiche kultureller Praktiken hineinragt; Praktiken, die auch ohne Religion da wären und von ihr nur auf eine spezifische Weise zusammengeführt werden, die nicht notwendigerweise bedrohlich sein muss, es meines Erachtens in den meisten Fällen auch nicht ist.

Ironischerweise ist es ja gerade der Siegeszug des Rationalismus auf der Welt, der den Religionen die Beschäftigung mit dem logos aufgedrängt hat und damit die Entstehung des Fundamentalismus mit heraufbeschworen hat. Deshalb betonen auch viele Fundamentalismus-Theoretiker, dass der Fundamentalismus eine spezifisch moderne Erscheinung ist, der zwar antimodern, aber nicht unmodern ist. Vollbreit würde hier, wie gesagt, evtl. nicht mitgehen, weil er eine etwas unspezifischere Definition des Fundamentalismus vertritt, der auch in vormodernen Kontexten denkbar ist.

Vollbreit hat geschrieben:Zunächst. Wieder mal ein super Beitrag, konstruktiv und kenntnisreich und obendrein auch noch stilistisch gut, so stelle ich mir Diskussionen vor. Danke!

Danke für das Lob, hab mich sehr gefreut.

Vollbreit hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Anders ausgedrückt: Wer lange genug behauptet, einfach nur nett zu sein, vergisst, dass er gar nicht nett ist und bleibt einfach nett, denkt irgendwann vielleicht gar, es schon immer gewesen zu sein. Einbindung funktioniert.
Hier allerdings würde ich Einspruch erheben, durchaus mit Lumen, wenn ich ihn richtig verstehe.

[...]

Aber und hier würde ich mit Habermas und gegen Brandom sprechen: Das ist zu technisch. Ich will, dass jemand nicht nur so tut, als hätte er eine bestimmte Einstellung, solange man ihm auf die Finger schaut, sondern mir ist es wichtig, dass er diese Einstellung tatsächlich auch hat.

Ok, ich versuche das zu klären: Ich meine damit nicht, dass es Täuschung und Vorspielen nach außen, auch im größeren Rahmen, nicht geben kann. Antisemitische Äußerungen gab es in Deutschland nach dem Krieg auch schnell nicht mehr "weil man das ja jetzt nicht mehr sagen darf", aber in den Köpfen waren die zugehörigen Einstellungen natürlich noch lange vorhanden und sind es zum Teil bis heute. Gerade in Deutschland sieht man aber auch gut, wie die aufgezwungene Demokratie und damit verbundene Rhetorik von Meinungsfreiheit und Pluralismus mit der Zeit die tatsächlichen, inneren Einstellungen verändert hat.

Dazu kommt (vergiss nicht, ich komme aus der politikwissenschaftlichen Ecke, nicht aus der psychologischen), dass Teilnehmer am demokratischen Spiel, selbst, wenn sie mit ganz anderen Zielen angetreten sind, schnell in Positionen kommen, wo sie etwas zu verlieren haben. Schon kleinere Einflussmöglichkeiten im Parlament zeigen den jeweiligen Eliten plötzlich eine ganz andere Welt auf, es wird realpolitischer und taktischer gedacht, Kompromisse werden geschlossen - anfangs aus Pragmatik, nach zehn Jahren aus Gewohnheit, nach dreißig schließlich aus Prinzip -, und das muss den eigenen Leuten plötzlich vermittelt werden. Das kann schiefgehen, wenn die Eliten der jeweiligen Gruppe sich zu schnell verändern und die Basis nicht ausreichend mitnehmen, aber es geht häufig auch gut, insbesondere, wenn die Basis konkrete Veränderungen im eigenen Leben wahrnimmt. Man darf dabei ja auch nicht vergessen, dass die Basis fundamentalistischer Strömungen gar nicht so selten aus einer Menge Pragmatikern und Trittbrettfahrern besteht, die einfach nur was von den sozialen Wohltaten abhaben wollen, die da im Namen Gottes an vorgeblich Gleichgesinnte verteilt werden, oder die sich von keinem anderen Akteur mehr die Wahrung von Sicherheit, Anstand und Ordnung erhoffen, wovon z.B. die Taliban in Afghanistan profitieren konnten (ob die die Wahrheit verkünden, war vielen Leuten recht egal, auch wenn die Erlösungsrhetorik sicher einen netten, zusätzlich legitimierenden Beiklang produziert hat).

Was ich letztlich nur sagen wollte: Es gibt feedback-Effekte, die aus einer vorgeblichen Anpassung über die Zeit eine tatsächliche Anpassung machen können.

Vollbreit hat geschrieben:Anpassung kann auch über Jahre stattfinden, wenn man es mit Menschen zu tun hat, die schlau genug sind, zu wissen, was sie jetzt gerade nicht äußern dürfen, aber wehe, wenn sie losgelassen. Das ist der Punkt, den ich an Deiner Darstellung kritisieren würde.

Mir ist bewusst, was anno '33 passiert ist. Da ist es genau schiefgegangen, und wir wissen alle, wie schief. Von daher sage ich nicht, dass das ein Selbstläufer ist.

Vollbreit hat geschrieben:Deshalb sind m.E. staatliche Regulative wichtig, für die Masse, aber es ist auch die Wühlarbeit wichtig. Einzelnen zu helfen, ihren Weg in die Freiheit des postkonventionellen Denkens zu finden, die dann dort, nicht im Dienste einer Überschrift, sondern im Dienste des Geistes der postkonventionellen Freiheit wirken und andere „infizieren“.

d'accord. Das tun wir hier ja auch. ;-)
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Re: Streitgespräch: Richard Dawkins vs Mehdi Hasan

Beitragvon Vollbreit » Do 6. Feb 2014, 22:05

@ Nanna:

Vielen Dank, für die Klärung.
Ich habe dem eigentlich nichts hinzuzufügen, weil ich meine zu verstehen, was Du meinst, mich andererseits umfassend von Dir verstanden fühle und glaube, dass wir da sehr weitreichend die gleichen Einstellungen haben und ähnliche Ziele verfolgen.

Genau das macht mir immer wieder Mut, dass es gelingt, über die Grenzen der eigenen ideologischen Heimat hinweg zu einem konstruktiven Diskurs zu finden.

Darum vielleicht ein Ausblick:
Politik, Psychologie, Philosophie, Geschichte, Biologie und so weiter, sind natürlich eigene ausdifferenzierte Systeme, andererseits beziehen sie sich aufeinander und der Einzelne, der sich damit beschäftigt, muss doch mit all diesen Systemen jonglieren um das Relevante und gesellschaftlich, sowie persönlich Lebenskluge dort herauszuholen.

Mut macht, dass viele Strömungen, die sich ehemals spinnefeind waren nun zueinander durchgefressen haben, das gilt in der Psychologie, aber über diese hinaus gibt es erstaunliche Parallelen zwischen dem objektbeziehungstheoretischen Ansatz der Psychologie, der an der Wurzel ein intersubjektiver Ansatz ist und den normativen Ansätzen in der Philosophie, die gerade Konjunktur haben und die bestens mit Habermas' Ansatz konform gehen.

Auch eine Kritik von Sloterdijk, die ich gestern las, an der intersubjektiven Ausdeutung insgesamt, in der er sich auf Hegel bezog und die zum Inhalt, dass die intersubjektiven Ansätze vor allen der Frankfurter Schule – mit der Sloterdijk in intimer Feindschaft verbunden ist – vor allem „auf den unteren Schleifen der Selbsterfahrung des Geistes“ (Sloterdijk in Zeilen und Tage, Suhrkamp 2012) ihre Relevanz haben, ist so falsch nicht.

Es ist die Frage, wie weit die Autonomie des Geistes geht, aber Sloterdijk bringt immer wieder auch diesen geistig evolutionären Aspekt mit ins Spiel (er nennt ihn, in einem anderen Buch, „Vertikalspannung“, eine Art Drang zum Üben, zur Selbstverbesserung, zur Evolution), ein Gedanke, der mir natürlich aus dem integralen Lager bestens vertraut ist.

Dieser Prozess des „Erwachens zu sich selbst“, hat ja zunächst eine individuelle Komponente, aus dem gesellschaftlichen „Drill“, in die Autonomie des individualisierten Lebens, das sich über die konventionellen Normen erhebt, ohne das Band ganz reißen zu lassen, d.h. das Erwachen zu sich selbst ist kein asozialer Prozess, sondern im Gegenteil immer einer der die Beschränkungen und Fixierungen auf das eigene Ich immer mehr transzendiert und ein vitales Interesse an überindividuellen Prozessen, Sichtweisen und Themen aufkommen lässt, deren Bewältigung aber gerade ein reifes, starkes, flexibles Ich braucht.

Da ist viel weniger Gegensatz, als sowohl die narzisstische Ichgefangenheit als auch die konventionellen Normierungen noch sehen. Das immer autonomere Ich ist immer sozialer, immer weniger egozentrisch und macht gerade deshalb keine seichten Projekte mehr mit, die alle auf der Moral der Latenzphase beruhen und ein regressives Gut gegen Böse, wir gegen die-Fass aufmachen.

Mein Zusatzschlenker ist die Frage, ob die geistige Evolution des Menschen hier vorbei ist, oder ob eine erneute Wende in den überindividuellen Projekten auf ein gemeinsames Muster zusteuert, in der die Individualität und auch die individuelle Freiheit in einem, dann durchaus kosmisch zu denkenden „seinen Platz oder seine Bestimmung finden“ konvergiert. Das kann und darf(!), so gedacht, nie wieder hinter die einmal gewonnene individuelle Autonomie zurückfallen, sondern es läuft darauf hinaus, dass das intuitive Wohlgefühl, das man kennt, wenn man etwas oder jemanden gefunden hat, mit dem man sich identifizieren kann, ja auch keine Reduzierung der Ichkräfte darstellt, sondern, es tut ganz einfach gut und stärkt das Ich. Wenn man meint, seinen Lebenssinn gefunden zu haben (auch wenn das in 10 Jahren ein anderer ist), dann weiß jeder, der das kennt: es fühlt sich gut an. Aber „meinen Platz im Leben“ kann mir niemand zuweisen, den muss und kann nur ich finden, auch wenn die Kriterien anhand dessen das Individuum das selbst beurteilt, natürlich wieder aus dem öffentlichen Spiel stammt. Und nur ich kann entscheiden, ob ich ihn gefunden habe, man kann niemandem verordnen sich nun endlich wohl und behaglich fühlen zu müssen, schließlich habe man doch alles. Seinen Platz zu finden, ist also niemals ein Projekt der Aufgabe der Autonomie (dies wäre Denken im Gleichschritt), sondern impliziert immer ein tiefes, kognitives und emotionales Einverstandensein mit dem, was ist und dem, wer man ist und wie man sich zu dem was ist, verhält.

Die oft als so getrennt und einander sich ausschließend dargestellten Wege der Selbstverwirklichung und des Dienstes an der Welt, überschneiden sich in dem Punkt, wo die höchste Form der individuellen Freiheit in einem Dienst an der Welt aufgeht, der m.E. nichts und niemanden ausschließt. Das hat in aller Klarsicht Meister Eckhard erkannt und auch genauso formuliert und die Absage daraus ein kollektivistisches Projekt zu machen, findet man bei ihm in ebensolcher Klarheit.
Die Fragen, was vernünftig und was emotional befriedigend ist, was mir gut tut und was der Welt gut tut, laufen hier m.E. zusammen und ich bin der Meinung, dass ich ganz rationale Argumente dafür habe, die dies belegen können.

Um die Nerven der mitlesenden Brights durch den Verweis auf Mystiker nicht überzustrapazieren: Auch ein Erzrationalist wie Habermas formuliert das, was im Grunde im Alltags jeder weiß, was den monologischen und einseitig objektivierenden Forschern aber oft entgleitet, so:

Jürgen Habermas hat geschrieben:Wie Grammatik, Rhetorik und Logik, wie Arithmetik, Geometrie und Musik, sogar Astronomie werden Künste und Kunstlehren aus der Reflexion von Teilnehmern auf eine vorgängig beherrschte Praxis entwickelt. Demgegenüber kultivieren Geistes- und Sozialwissenschaften eine ganz andere Einstellung.
Ihr Interesse richtet sich nicht mehr auf eine Vergewisserung der Regeln einer eingewöhnten Praxis – sei es einer bestimmten Sprache, sei es der bildenden Künste und der Literatur, der Geschichtsschreibung, der Regierungskunst oder der Haushaltsführung. Vielmehr richtet sich jetzt eine methodisch angeleitete Neugier auf den Vergleich und die Analyse der vielfältigen kulturellen Lebensformen, die zwar nur aus der Teilnehmerperspektive zugänglich sind, aber aus der Perspektive eines Beobachters als Datenquellen genutzt und zu historischen, kulturellen und sozialen Tatsachen verarbeitet werden. Es ist diese Transformation der Teilnehmer- in die Beobachterperspektive, die die Kulturwissenschaften erst zu wissenschaftlichen Disziplinen eigenen Rechts macht. Gegenüber dem Objektbereich der Naturwissenschaften behalten die symbolischen Gegenstände der Humanwissenschaften allerdings einen eigentümlichen Status. Denn der Beobachter muss an den lebensweltlichen Praktiken erst teilgenommen, er muss sie in der Rolle eines virtuellen Teilnehmers erst verstanden haben, bevor er die Praktiken und Erzeugnisse, in denen sich diese niederschlagen, zu Daten vergegenständlichen kann.
(J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken II, Suhrkamp 2012, S.41f)


Die Kompetenzen des Subjekts, sind nie zu eliminieren, seine prima facie Berechtigungen Auskunft über seine Denken und Fühlen geben zu können, sind nie ohne guten Grund zu übergehen und das ist m.E. kein Widerspruch zu den Ansätzen des Humanismus, dem sich ja viele Brights verschrieben haben, sondern dessen Einlösung.
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