Lumen hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Ich finde es besorgniserregend, wenn Kindern das selbstständige Denken verwehrt wird und bin der Meinung, dass Staat und Gesellschaft dagegen angehen müssen. Aber das konfligiert ja nicht mit dem, was ich bisher gesagt habe.
Nur ist nun völlig unklar auf welcher Grundlage du dagegegen vorgehen willst. Solche Kinder unterscheiden sich von ihren Nachbaren nur im Glauben, und da der Glaube nach deiner Haltung in Ruhe gelassen werden soll, bleibt dir nur das herumdoktern an Symptomen.
Ich glaube nicht, dass das der einzige Unterschied ist. Aber egal, da werden wir uns eh nicht leicht einig. Der entscheidendere Punkt ist doch ohnehin der, dass selbstständiges Denken eben die Selbstständigkeit erfordert. Nehmen wir mal für einen Augenblick an, es mit einer evangelikalen Bible-Belt-Gemeinde zu tun zu haben, die wirklich in allen Punkten den schlimmsten Ausführungen folgt, die du in Bezug auf die Schädlichkeit von Religion gegeben hast: Was sollen wir
denn tun? Die Kinder in Internaten zwangsbeschulen? Die Eltern in Umerziehungskurse schicken? Die beschaulichen Kleinstädte des Mittleren Westens mit massenmedialen Dauerkampagnen gegen den Glauben beschießen? Was soll das bringen?
Es ist nicht möglich, jemanden zur Selbstständigkeit zu zwingen. Und wo die Eltern den Wert von Selbstständigkeit nicht erfahren und verstanden haben, geben sie ihn auch mit geringerer Wahrscheinlichkeit an ihre Kinder weiter. Deine Attacken gegen "die Religion" ändern daran kein Jota, weil es aus der Innenperspektive einer dogmatisch verschanzten Kreationistengemeinde immer nach einer Bedrohung durch das Böse aussehen wird.
Man kann den Leuten nur einen Weg zeigen und ihnen die Entscheidung überlassen, ob sie ihn beschreiten wollen. Insofern bleibe ich dabei, dass Bildungsangebote und die konstruktive Konfrontation mit anderern Weltbildern der einzige Weg sind, dogmatisch verhärtete Strukturen aufzubrechen. Ich sehe das nicht nur als Symptomdokterei an, sondern als Angebot an die Betroffenen, sich in der Werkzeugkiste der Aufklärung zu bedienen. Die Entscheidung muss aber dann in letzter Konsequenz immer von der jeweiligen Person selber kommen.
Weiterhin möchte ich nochmal betonen, dass die meisten Religiösen, insbesondere in Europa, von diesen Problemen gar nicht betroffen sind.
Lumen hat geschrieben:Dein Maßnahmenkatalog ist wirkungslos, denn Informationen sind überall leicht erhältlich. Wenn du da noch einen Stand aufmachst, wo du den Leuten z.B. Evolution nahebringen willst, wird das niemanden groß jucken.
Dann ist das halt so. Und wenn du einen Stand mit "Die 50 größten Bibelirrtümer" auf machst, habe ich für meinen Teil übrigens auch nichts dagegen. Ich habe nur etwas dagegen, wenn du einen Stand mit dem Motto "Die Religiösen sind infantile Irre, die nicht selber denken können, und eine Gefahr für die Gesellschaft" aufmachst.
Lumen hat geschrieben:Nur etwa 3% der Amerikaner werden zuhause unterrichtet (homeschooling), die Mehrheit besuchte eine öffentliche Schule und doch liegt kreationistischer Glaube um die 40%. Es ist also etwas putzig, dass du etwas dagegen machen würdest, dann aber so, dass der Glaube in Ruhe gelassen wird. Das war schließlich der Tenor.
Dann sind halt 40% Kreationisten. Schade, aber eigentlich nur dann ein Problem, wenn a) die medizinisch-biologische Forschung dadurch eingeschränkt wird und b) Andersdenkende diskriminiert werden. Das können angrenzende Baustellen sein, müssen es aber nicht.
Im Economist war neulich ein ganz interessanter Artikel, der sich mit der Religionssoziologie von Wissenschaftlern in den USA beschäftigt hat (
Faith and Reason - Scientists are not as secular as people think). Darin werden empirische Befunde angesprochen, dass der Atheismus unter Wissenschaftlern v.a. die liberalen Elitehochschulen an der Ostküste betrifft, wohingegen das wissenschaftliche Fußvolk nur marginal weniger religiös ist als die Durchschnittsbevölkerung. Ich deute das als Zeichen dafür, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt nicht primär davon abhängt, dass die Wissenschaftler besonders atheistisch sind.
Zuguterletzt muss ich nochmal auf meine Grundannahmen für den ganzen Themenkomplex hinweisen: Ich sehe die universalen politischen Freiheitsrechte den Vorstellungen davon, was ein gutes Leben ausmacht, als weit vorausgehend an. Insofern ist mir die Freiheit der Menschen in der Gesellschaft, religiös oder eben nicht religiös sein zu dürfen und dabei die Wahl zu haben, wesentlich wichtiger, als in einer Gesellschaft mit besonders vielen Gleichgesinnten zu leben.
Wenn es darum geht, welches Verhalten die Gesellschaft dem Einzelnen vorschreiben/abverlangen darf, dann funktioniert es meines Erachtens in etwa so :
- Die Basis bildet das Strafrecht, das ganz klar vorschreibt, was man unterlassen muss. Dem Strafrecht liegen wiederum allgemeine Vorstellungen der Menschenrechte zugrunde.
Meine Verteidigung der Religionsfreiheit ist also schon hier in dieser absolut grundlegendsten Stufe der Regelnd es Zusammenlebens angesiedelt. - Das Strafrecht ist seinerseits Teilmenge der moralischen Grundsätze eines Gesellschaft, die festlegen, wie man sich über die Gesetzestreue hinaus noch verhalten sollte (d.h. wer moralisch handelt, handelt nie gegen das Strafrecht [lassen wir Spezialfragen wie den Tyrannenmord mal außen vor], wohl aber kann jemand unmoralisch handeln, ohne das Strafrecht zu verletzen).
Hier gehört mein Aufruf hin, das Andersdenken eines anderen Menschen nicht nur gesetzlich zu dulden, sondern auch soziale Einmischungsgrenzen zu achten. - Die Moral wiederum ist Teilmenge von einer noch größeren Sammlung kultureller Vorstellungen über das "gute Leben" (Habermas würde das als Ethik bezeichnen).
Meines Erachtens gehören erst hier, auf diese relativ weiche und (dem Sinn nach) zwangslose Ebene, Fragen nach kosmologischen Anschauungen (Wie ist die Welt entstanden?), Forderungen nach einem selbstständigen, intellektuell anspruchsvollen Denken, nach Forschritt, nach höherer Bildung etc. Intellektuelle Streitgespräche über Fragen einer guten, rationalen, aufgeklärten Weltanschauung sind meiner Meinung nach auf dieser Ebene angesiedelt, sofern sie nicht Auswüche betreffen, die relevant für grundlegende Moralfragen und/oder das Strafrecht sind (etwa Kindesmisshandlung durch Priester), und sie erfordern, dass man sich über die anderen Ebenen bereits einig ist.
Mein Vorwurf an dich ist, kurz gesagt, dass du Fragen der dritten Ebene regelmäßig auf die zweite (moralische) oder sogar erste (juristische) Ebene hinunter ziehst. Ich bin aber der Meinung, dass diese Fragen so unabhängig behandelt werden müssen, wie es irgendwie geht; sonst ist man schnell dabei, Fragen der allgemeinen weltanschaulichen Gesinnung zu Fragen des Strafrechts zu machen oder wenigstens als moralisch verwerflich hinzustellen, selbst wenn die betroffene Person Frieden mit konkreten anderen Personen und der Gesellschaft allgemein hält.