Inzwischen scheint es mir so, dass gar nicht Homosexualität das Thema ist, sondern Sexualität.
Aber auch da gibt es bestimmte Inkonsistenzen, die ich gerne erläutert hätte.
Wie Nanna schrieb, ist es schwer denkbar, dass das verklemmteste Kind den Fortgang des Sexualkundeunterrichts bestimmt.
Dem würde ich zustimmen und sagen, dass doch grade aus der süddeutschen Ecke gerne das Argument der Elitenförderung kommt. Gerade provinzler schildert ja nun immer wieder, wie eine neidische, dumme und leistungsunfähige Masse den in dieser Hinsicht Bessergestellten das Leben schwer macht. Hier wird eine Art gesunder Härte gefordert und dass nicht der dümmste Bauer derjenige sei, auf den alle zu warten hätten.
Bei der Sexualität wird nun exakt anders herum argumentiert, bitte keine Konfrontation mit dem, was es gibt, schon gar nicht an der Leistungselite, lieber die heile, neurotisch reduzierte Welt des Kuschelsex, wenn es denn schon sein muss mit Kindern über „sowas“ zu reden – Mord mutet man uns kollektiv ja eher zu, als so etwas Ekliges wie Sex, Stichwort: FSK.
Doch auch wenn man, schwer katholisch-konservativ, argumentiert, das sei ja was anderes, Bildung sei ja schließlich hui und Schweinkram immer noch pfui, dann ist die Argumentation auch hier eher inkonsistent, denn die türkischen Mädchen, denen erklärt wird, der Schwimmunterricht sei bereits weit jenseits der Grenze schambesetzter Freizügigkeit, sind ja dann auch nicht recht. So weit wollen wir doch dann bitte nicht gehen.
Bleibt der argumentative Rückgriff auf den Traditionalismus: Bei uns ist das eben so, weil es immer schon so war (und außerdem war früher ohnehin alles besser).
Meine Einschätzung ist, dass es ein schwerer Fehler der Linken war, in ihrer 68iger Sturm und Drang Zeit, in der vollkommen zurecht die Fragen gestellt wurden, die man jahrelang totschwieg, in einer pars pro toto Weise einige Fehlentwicklungen des Traditionalismus dem ganzen Traditionalismus anzulasten und alle alten Normen und Werte unter Generalverdacht zu stellen, statt zu schauen, welche schlecht sind und ausgemustert gehören und welche gut sind und weiter bewahrt und geschützt werden sollten.
Aber andersherum gilt ebenso, dass nicht alle alten Werte gut sind, nur weil sie alt sind. Und ein solcher Traditionalismus hätte natürlich auch Schwierigkeiten, den Traditionalismus anderer Kulturen zu kritisieren. Wer sich schon von Dönerbuden überfordert sieht, der wird mit den liebenswerten Praktiken der Taliban berechtigterweise seine Schwierigkeiten haben, aber wo will man mit der Kritik ansetzen, wenn man ansonsten sagt, Traditionen hätten sich eben bewährt?
Konsequenterweise kann man dann nur noch die Schotten dich machen, aber dann entsteht wieder genau jenes kleinkarierte Milieu, was recht problematisch ist.
Und, stine, speziell an Dich. Ich würde Dir wünschen, dass Du Dich mal mit den Buch von
Alice Miller „Am Anfang war Erziehung“ konfrontierst. Das schreibe ich vor dem Hintergrund, dass ich so gut wie alles was Miller schreibt heftig kritisieren würde, aber das beste ihrer Bücher ist m.E. das genannte, dünn und überall zu bekommen. Was Miller hier aufdeckt, ist der Mechanismus der Schwarzen Pädagogik, die eben als ein Heile Welt Traditionalismus daherkommt.
Wir gehen heute sehr viel sensibler – und Ende der 1990er mit Sicherheit etwas hysterisch – mit Themen wie sexuellen Belästigungen und sexuellem Missbrauch um, von Frauen, Jugendlichen und Kindern beiderlei Geschlechts, aber wenn die Dunkelziffer auch heute sicher erschreckend sein mag, so gibt es doch Grund zu der Annahme, dass in eben jenen paternalistischen, konservativen und traditionalistischen Kreisen und Zeiten diese Übergriffe erheblich höher waren und es dort, wo insbesondere Frauen als Menschen zweiter Klasse gelten es bis zum heutigen Tage sind. Was wir heute aufdecken sind ja die Verfehlungen der 1950er und 60er.
Und es ist eben der muffige Mantel des Schweigens, der gerade – aber nicht nur – in ländlichen Regionen, die Opfer von Vergewaltigungen und jahrelangem Missbrauch, oft noch ein weiteres Mal zu Opfern macht, wenn sie das was ihnen da passiert ist, doch bitte nicht breit treten sollen, irgendwann muss auch mal gut sein und man muss die Vergangenheit ruhen lassen. Komisch, dass die lieben Kinderlein, für die Du so gerne Partei ergreifst, wenn sie dann ein jahrelanges Martyrium hinter sich haben, einfach nicht die biederen angepassten Bürger werden wollen (und können!) und dann einfach nicht die Fresse halten, sich an Familie, Kinder kriegen, Kuchen backen, Volksmusik und Ostermessen erfreuen. Wie denn??? Wenn es denn so einfach ging, stine, dass man das durch Schweigen und Beten heilen kann, es hätten bestimmt schon einige gemacht.
Das Schweigen und Abspalten funktioniert noch am besten, aber ein gelungenes Leben sieht anders aus.
Und auch das schreibe ich vor dem Hintergrund einer großen, leicht verkitschten Sympathie für diese ländlich-dörflichen Strukturen.
Und um den Bogen zum Anfang wieder zu schließen. Es ist ja wirklich nicht ohne Ironie, dass Freud und der Psychoanalyse einerseits eine Fixierung auf das Sexuelle vorgeworfen wird und dann in verschiedenen Abwehrbewegungen behauptet wird, dass wir das doch heute längst alles (und noch viel mehr) wüssten, dass das Thema Sexualität ohnehin überschätzt wird und gar nicht diese Bedeutung hat, aber gleichzeitig über das was alle wissen, so wenig bekannt ist und das ach so überschätzte Thema in allen Variationen immer wieder das Zeug zum größten Aufreger hat.
Dazu kommt, dass das ach so bekannte Thema Sex größtenteils auf der Ebene von Statistiken und der Erklärung biologischer Vorgänge behandelt wurde. Dass gerade Sexualität eine emotionale, empfindende Seite hat, dass es Unterschiede zwischen gutem und schlechten Sex gibt, wie zu zu sexueller Langeweile kommt, was Sexualität für eine Rolle in der Beziehung spielt und so weiter, darüber ist im Grunde nicht allzuviel bekannt.