Nanna hat geschrieben:Sorry, ich muss hier kurz einhaken: Die deutschen Kinder fühlen sich eigentlich recht zufrieden. Diese UNICEF-Studie ist seinerzeit leider übermäßig aufgebauscht worden und gibt wirklich besorgende Szenarien eigentlich überhaupt nicht her. Hier wird erklärt, wo die Probleme liegen:
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitges ... he-analyse
Deine Kritik, bzw. der Zeitartikel, hat mich überzeugt, ich revidiere mein Urteil.
(War ohnehin nur eine ad hoc Recherche, zeigt mir - wieder mal - die vorsichtig man damit sein muss, zu schnell was reinzuhauen, was man unter Suchbegriffen findet. Werde ich mir merken.)
Ich möchte auch noch kurz was erläutern:
Nanna hat geschrieben:Scham ist durch und durch ein Produkt der Kultur und unseres spezifischen Sozialgefüges, weshalb der Mensch das einzige Tier ist, das sie kennt, und Schamgründe auch über die Kulturen hinweg variieren. Inwiefern eine "biologische Normalität" (was auch immer das sein soll) da eine bedeutende Rolle spielen soll, kann ich nicht erkennen.
Scham ist uns durchaus angeboren (die meisten Affektforscher sind dafür), nur die Inhalte variieren.
Scham hängst ganz kurz gesagt mit einer „Du bist falsch“ Angst zusammen und ist an narzisstische Affekte gekoppelt.
Aber unabhängig davon, ob Scham uns angeboren ist oder nicht, das allein ist kein Argument, denn Scham gilt als extrem problematischer Affekt:
Rainer Krause hat geschrieben:Wir wissen heute, dass Scham verglichen mit Schuld, aber auch Ärger und Ekel, der bei weitem toxischere Affekt ist. Sie ist im Zusammenhang mit der gewalttätigen Destruktion sicher bei weitem gravierender als Angst und Ärger (Lewis, 1971; 1979, Seidler, 1995). Die Vermeidung von Scham ist ein sehr mächtiges Regulierungsgeschehen. Es gibt einen Konsens, dass die Entwicklung späterer narzisstischer Pathologien durch chronische Schamerfahrung am besten vorhergesagt werden kann (Hockenberry, 1995).
(Rainer Krause, Allgemeine psychodynamische Behandlungs- und Krankheitslehre: Grundlagen und Modelle, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Kohlhammer 2012, S.197)
Scham ist also kein edler Affekt, sondern das Gegenteil, allerdings muss man immer schauen, was bspw. Aristoteles genau mit Scham meinte.
Scham kann als dominanter Affekt in das reifere Schuldempfinden übergeführt werden. Aus dem stets egozentrischen „Ich bin (als ganzer Mensch) falsch“, das jeden kleinen Fehler des schamhaften Menschen begleitet (nebenbei der Grund, warum Narzissten, nicht den kleinsten Fehler bei sich und anderen tolerieren können), wird ein entspannteres (auf den anderen bezogenes) Schuldempfinden („Was hab ich dem da angetan?“). Schuld geht mit dem Wunsch nach Entschuldigung, Wiedergutmachen usw. einher, während man beim Schamempfinden oft das schamauslösende Objekt hasst und zerstören will. Das Schuldempfinden hat auch eine Selbstkomponente, aber eben die, etwas an einer spezifischen Stelle, falsch gemacht zu haben, was nicht mit einem Vernichtungsgefühl der ganzen Person einhergeht und deshalb viel besser zu tolerieren ist.
(Ein Punkt der mich bei Atheisten oft stört, dass auf Religionen herumgehackt wird, mit dem Argument, sie würden dem Menschen permanent „Schuld“ suggerieren. So richtig einerseits die Kritik ist und mitunter auf jene neurotische Einstellung zusteuert, die ich hier kritisiere, so falsch ist es andersherum, wenn man meint Schuld sei nun per se schlecht. Denn dadurch handelt man sich oft genug nicht ein Empfinden von Freiheit ein, sondern eine narzisstische Regression auf den Modus der Scham, dessen Zusammenhang ich gerade zu erläutern versuchte. Wie gesagt, das soll nicht den völlig überflüssigen Sexualneurosen das Wort reden, meine Einstellung dazu ist seit Jahren, dass vor allem die katholische Nachhilfe in Sexualfragen kein Mensch braucht und man so ungefähr alles was die Religionen über Sex sagen, Buddhismus eingeschlossen, weiträumig umfahren sollte. Dennoch können die Begabteren auch hier Übergänge von Stufe zu Stufe erkennen.)
Erwähnen möchte ich noch, dass es wie immer auch bei der Scham gleitende Übergänge gibt. Scham ist vermutlich nie ganz zu vermeiden und das muss auch nicht sein. Schamlosigkeit würde ich von Schamfreiheit differenzieren. Schamlosigkeit ist oft mit Exhibitionismus (sexuellem und nichtsexuellem – Letzterer ist dann die grandiose Zurschaustellung dessen, was man weiß und kann und wen man alles kennt und für wie bedeutend man gehalten wird) verbunden oft auch mit Voyeurismus, einer grenzverletzenden Aggression.
Sich halbwegs ungehemmt öffentlich bewegen zu können, ob nackt oder seine Leistungen zur Schau stellend, was ja auch nicht prahlerisch geht, der ist im besten Sinne ungehemmt und frei von Scham und das ist gut.
Und über ein gewisses Taktgefühl zu verfügen, ist auch nicht falsch, im Gegenteil.