provinzler hat geschrieben:Nachdem uns dieser Relativismus Archipel Gulag und Ausschwitz eingebrock hat, bin ich dafür nicht so zu begeistern...
Eben genau nicht! Stalin und Hitler und die Ideologien, für die sie stehen, haben ja gerade
besonders mit absoluten Werten argumentiert.
Die "Wissenschaftlichkeit" des Kommunismus, die "Vorsehung", die "natürliche Auslese der Völker", das sind alles solche extrem rationalisierten und objektivistisch gedachten Begründungsstrategien. Es gibt nicht wenige Berichte und Äußerungen von Personen, die am Holocaust mitgewirkt haben, die sich äußerst bedauernd über das viele Leid geäußert haben, aber anführten, dass es eben "ein notwendiges Übel" sei, um die Welt von schädlichen Einflüssen zu reinigen. Gerade die Unverhandelbarkeit der ideologischen Grundwerte, die Betonfestigkeit, mit der das alles vertreten wurde, hat maßgeblich mit dazu beigetragen, dass Millionen Menschen der Fiktion von Alternativlosigkeit gefolgt sind, die Hitler, Stalin und Konsorten verbreitet (und sicherlich auch selber geglaubt) haben.
Das letzte, wofür Gulag und KZ stehen, sind Relativismus, Verhandelbarkeit von Normen, Diskurs, Pluralismus etc.
Wenn ich mal sehr auf die advocatus-diaboli-Schiene gehe, dann könnte ich dir im Prinzip auch vorwerfen, dass du die Gesellschaft mit exakt deiner spezifischen Freiheitskonzeption gleichschalten willst. Du folgerst (logisch korrekt), dass Auschwitz sich nicht wiederholen würde, würden alle Menschen im Grundansatz über die Freiheit so denken, wie du. Das ist allerdings nicht nur recht egozentrisch ("Wenn alle mit meinem Denken harmonieren würden, ginge es der Welt gut"), es ist vor allem auch weltfremd, weil genau das sicherlich nicht eintreten wird und wenn es würde, aus simplen psychologischen Gründen keinen Bestand hätte. Der Mensch hat in hundertausenden von Jahren mehr Erfolg damit gehabt, sich in Gruppen und hierarchisch zu organisieren, da steht eine teils kulturell eingeschleifte, teils aber auch genetisch bedingte conditio humana absolut quer zu deinen radikalen Vorstellungen.
Du gehst, und das ist in der Tat ein Vorwurf von Unreife, nach wie vor davon aus, dass im Geheimen die meisten Menschen eigentlich exakt dein psychologisches Setting besitzen und wenn sie sich dann nicht so verhalten, wie sie es im zurechtharmonisierten Weltbild in deinem Kopf tun müssten, wirst du extrem sauer, schlägst ins radikale Gegenteil um und diabolisierst sie als Schafe, Freiheitsfeinde und was weiß ich noch alles. Das ist keine gesunde Art, über seine Mitmenschen zu denken, weil hinter der vordergründigen Toleranz ("Ich lass die anderen doch sein, wie sie sind") extrem aggressive Anschuldigungen verborgen sind ("Die nehmen mir mit ihrer Blödheit und Passivität meine Freiheit weg!").
Es ist insofern eine sehr kontraproduktive Strategie, die du da verfolgst, dass du auf die Konventionen, denen der Großteil der Gesellschaft folgt, und die dir nicht gefallen, mit alternativen Konventionen anwortest, die stattdessen Gültigkeit besitzen sollen. Es wundert mich gar nicht, dass daraus nur ein Wettkampf zwischen "Libertären" und "Sozialisten" werden kann, die sich beide ihre spezifischen Wunschkonventionen um die Ohren hauen und
beide dem Wunschtraum erliegen, dass nur die Welt mit ihren spezifischen Vorstellungen auf Deckung gebracht werden müsste und schon würden Harmonie, Friede, Wohlstand, Selbstbestimmung usw. herrschen.
Der Gegenvorschlag ist immer der, sich nicht im stillen Kämmerlein Großstrategien zur Rettung der Welt an die Wand zu malen und dann anderen Leuten zu erklären, was sie denn tun müssten, damit alle glücklich werden, sondern sich eben über den Diskurs zu versuchen, Anderen zu nähern und gemeinsame Normen für das Zusammenleben auszuhandeln, auch wenn das weh tut, und auch, wenn man dabei schmerzhafte Kompromisse machen muss. Dass man sein Wunschleben in diesem Universum kaum verwirklichen kann, ist eine Kränkung, die jeder Mensch im Laufe der persönlichen Reifung durchmacht, und die man der Welt irgendwann zu verzeihen lernen sollte.