Überraschend schwer an verbindliche Zahlen für die Größe des Bürgertums zu kommen:
Auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung waren ein paar ganz gute Artikel übers Bürgertum, auch über die Höhe der Einkommen der veschiedenen Berufsstände, aber kaum Zahlen, wer nun wozu gehörte. Eine rare Quelle bei wiki:
http://de.wikipedia.org/wiki/Hochindust ... le_Gruppen
Ich glaube, das waren schon ein paar mehr, als Du annimmst, ist aber vielleicht auch egal.
Im Grunde genommen verbinde ich mit den meisten Ideen des Bürgertums recht warme Gefühle, ein bisschen schlecht wird mir immer bei der Obrigkeitshörigkeit der Bürgerlichen und ihren miefigen Vorurteilen. Aber gleichzeitig bietet genau das natürlich auch eine Nestwärme und die Berechtigung sich mitunter auch in Private zurückzuziehen, finde ich nach wie vor mehr als nur in Ordnung. Eine ganz schöne und ausgewogene Darstellung hierzu:
http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-g ... bewegungen
Ich mag die liebevolle Ironie im Blick und den Bildern eines Carl Spitzweg auf die Welt, der die Biedermeierzeit weder boshaft karikiert noch kritiklos verherrlicht.
Man spürt das Sehnsuchtsvolle aber in meiner Interpretation sehe ich auch, dass die möglicherweise als Ersatzbefriedigungen begonnenen Aktivitäten mehr sind als bloße Ersatzbefriedigungen und mitunter eigene Welten emergieren lassen, in denen man sich verlieren (oder finden) und geborgen fühlen kann.
Ich finde es auch ironisch, dass über den Umweg der Hirnforschung nun exakt wieder jene bürgerlichen Werte und Tugenden in die reaktiviert werden sollen, auf die man so großspurig meinte verzichten zu können. Ob Werteerziehung, gemeinsames Essen oder Hausmusik, so falsch ist das alles nicht, schon allein, weil Traditionen ja nicht einfach nur so tradiert wurden und werden, sondern weil sie gelebtes Wissen beinhalten.
Dass dieses Wissen auch unzeitgemäß werden kann, darf man nicht vergessen, aber ich vermute, dass die basalen Formen des Zusammenlebens sich nicht groß ändern und als kulturell wünschenswert durchaus definiert werden können.
Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob eine „Überfremdung“ eine reale Gefahr oder eine irrationale Angst ist, mir fällt nur auf, dass die vermeintliche Rückständigkeit zum Beispiel des Islam in dem was als rückständig deklariert wird, in vielem dem entspricht, was als gut bürgerlich erscheint und nicht im tiefsten Mittelalter, sondern durchaus noch vor 100 Jahren an der Tagesordnung waren. Ganz en passent liest man von religiösem Fundamentalismus im Schwaben um die vorletzte Jahrhundertwende in eienr Hesse-Biographie und dieser skurrile Ehrbegriff der uns bei den Moslems so sauer aufstößt, findet seine Entsprechung in jenen „tapferen“ Soldaten, für die die Vorstellung die Ehre zu verlieren bei weitem schlimmer war, als einen Arm oder gar das eigene Leben.
Das Bürgertum hob sich von den Proleten ab, was irgendwie auch notwendig war, denn die größere Mehrheit im Land der Dichter und Denker war noch bis vor kurzem erschreckend ungebildet, wie Götz Aly, den Du ja kennst, nachweist.
Es muss Dir, als empfindsamem Menschen doch den Magen umdrehen, Dich in der rechten oder meinetwegen konservative Ecke so oft in einem Boot mit Grenzdebilen und pathologisch Verirrten zu finden. Allzuoft ist das stilisierte Bild vom feinen Herren, der, wenn er ein paar Bier zuviel drin hat, mal daneben greift doch verlogen. Die gute Gesinnung im Verein mit primitiven Affekten, das geht nicht auf.
Wenn Du Dich wirklich mal auf die Psychologie stürzten solltest, dann findest Du unter amderem sowas:
Otto Kernberg hat geschrieben:„In Übereinstimmung mit Green vertrat ich die Ansicht, dass die Unfähigkeit, sich einem Wertesystem verpflichtet zu fühlen, das über Grenzen selbstsüchtiger Bedürfnisse hinausgeht, gewöhnlich eine schwere narzisstische Pathologie wiederspiegelt. Die Verpflichtung gegenüber einer Ideologie, die sadistische Perfektionsansprüche stellt und primitive Aggression oder durch konventionelle Naivität geprägte Werturteile toleriert, gibt ein unreifes Ich-Ideal und die mangelnde Integration eines reifen Über-Ichs zu erkennen. Die Identifizierung mit einer "messianischen" Ideologie und die Akzeptanz gesellschaftlicher Klischees und Banalitäten entspricht daher einer narzisstischen und Borderline-Pathologie. Dem gegenüber steht die Identifizierung mit differenzierten, offenen, nicht totalistischen Ideologien, die individuelle Unterschiede, Auotnomie und Privatheit respektieren und Sexualität tolerieren, während sie einer Kollusion mit der Äußerung primitiver Aggression Widerstand leisten - all diese Eigenschaften, die das Wertesystem eines reifen Ich-Ideals charakterisieren. Eine Ideologie, welche die individuellen Unterschiede und die Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen respektiert und Raum für eine reife Einstellung zur Sexualität läßt, wird den Personen mit einem höher entwickelten Ich-Ideal attraktiv erscheinen. Kurz, Adorno, Green und ich stimmen darin überein, dass Ich- und Über-Ich-Aspekte der Persönlichkeit das Individuum zu übergroßer Abhängigkeit von konventionellen Werten prädisponieren. Es ist berechtigt zu sagen, dass der spezifische Inhalt des Konventionellen durch soziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflusst wird: Die Universalität der Struktur der Konventionalität in der Massenkultur jedoch und ihre Attraktivität für die Massen sind nach wie vor erklärungsbedürftig.“
(Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta, 1998, S.297f )
Du wirst dann vielleicht erleben, und ich würde es Dir von Herzen wünschen, dass man kleinkarierte Stereotypisierungen wie rechts oder links, atheistisch oder gläubig, samt affektiver Verstrickung und den dabei nicht ausbleindenden Verschwörungsideen (von denen man natürlich nicht denkt, dass, während man sie vertritt, es sich um Verschwörungsideen handeln könnte) wirklich komplett hinter sich lassen kann. Etwas, was Du derzeit bei Nanna mitverfolgen kannst, der mit einem Thema einfach durch ist.
Und „durch“ heißt hier nicht, dass man komplett anders denkt und nun die Fronten wechselt oder alle alten Einstellungen verliert oder verrät, sondern die affektive Komponente ist einfach raus.
Das Denken dahinter ist einfach eine andere Liga, aber in der spielen eben gerade nicht die, die sich gezwungen sehen fortwährend zu betonen, dass sie in einer anderen Liga spielen. Diese pseudoelitäre Herabsetztung anderer zeigt, dass es jemand nötig hat. Manchmal kann man das als Stilmittel einsetzen, aber muss dann auch erkenen, wo man wieder umschaltet und wer das nicht kann der mutiert zum McGeifer, wir ahnen,wer alles gemeint sein könnte.
Das klingt zwar etwas hanseatisch, aber Du hast da ja eine emotionale Nähe und viele Händler und Ökonomen folgten damals einem Ethos der heute flöten gegangen ist.
Vielleicht kannst Du Dich ja sogar der These von Nida-Rümelin anschließen, das ganze Interview finde ich lesenswert, auch wenn es Dir bei der Formulierung „Regulierung der Finfnanzmärkte vermutlich kalt den Rücken runterläuft. Aber versuch mal den ganzen Kontext zu erfassen, das ist nicht aus Primitivfloskeln wie: „Die Linken wollen ja immer die Märkte regulieren, damit die von der Leistungsfähigkeit anderer profitieren und sich als Gutmenschen generieren können“. Klar, kann man das auch so lesen:
Julian Nida-Rümelin hat geschrieben:Auch hier spielt die Philosophie eine zentrale Rolle. Aus der Beschäftigung mit diesem Thema ist ein Buch entstanden, das in diesen Tagen auf den Markt kommt, die „Optimierungsfalle". Darin geht es um eine Philosophie einer humanen Ökonomie. Ich bin nicht so blauäugig anzunehmen, dass allein eine andere Einstellung, eine anders motivierte Praxis ausreicht. Natürlich braucht es Institutionen, Regeln, braucht auch Regulierung auf den Weltfinanzmärkten, dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass ein wesentlicher Teil dieser Weltfinanzkrise, auch was uns möglicherweise jetzt noch bevor steht, damit zusammenhängt, dass sich die Ökonomie als System aus allen kulturellen und moralischen Kontexten zunehmend, vor allem die Weltfinanzmärkte, herausgelöst – oder zumindest versucht hat sich herauszulösen.
Um ein konkretes Beispiel zu nehmen, das derzeit vor vielen Gerichten verhandelt wird und daher nicht uninteressant ist: Sie gehen zu einem Bankschalter und bitten als ganz normaler Bürger um Beratung, wie ihr Geld mit einem gewissen Zinsertrag angelegt werden kann. Sie bekommen eine Auskunft: Und hier müssen sie davon ausgehen können, dass diese erstens wahrhaftig ist, dass die Person, die ihnen die Auskunft gibt, das glaubt, was sie sagt und nicht nur danach Auskunft gibt, was sie als Belohnung erhält, wenn es zum Vertragsabschluß kommt. Zweitens muss das, was gesagt wird übereinstimmen mit dem, was am Ende im Kleingedruckten steht. Niemand kommt in einer humanen Ökonomie auf die Idee, dass man jeden Nebensatz lesen und zum Anwalt laufen und sich beraten lassen muss, was dort drin steht – wenn man also damit einverstanden ist, geht man davon aus, dass das, was gesagt wurde mit dem Vertragsinhalt übereinstimmt. Das ist aber offenkundig nicht selbstverständlich. Deswegen wird gegenwärtig in Tausenden von Fällen vor Gericht gestritten.
Das heißt aber: Grundregeln der menschlichen Verständigungspraxis, Wahrhaftigkeit, Vertrauen, Verläßlichkeit sind systematisch verletzt worden und zwar mit zunehmender Tendenz. Von älteren Bankern hört man oft, dass es einen Generationswechsel gegeben hat – mit Hinblick auf das Ethos des anständigen Kaufmanns. Dieses Ethos war für diese Generation noch unverzichtbar gewesen – für eine neue Generation aber, die anderes sozialisiert wurde, ist dies nicht mehr selbstverständlich.
Es ist eine Illusion zu meinen, man könnte alles rechtlich regeln. Man kann viel rechtlich regeln, aber wie schwierig dies ist, zeigt sich zum Beispiel beim Strafrecht. Wir als Normalbürger kennen die Bestimmungen des Strafrechts nicht, nur ganz wenige vielleicht. Wir verhalten uns im Alltag anständig nicht deswegen, weil wir befürchten, eine bestimmte Norm im Strafrecht zu übertreten und deswegen bestraft zu werden. Dennoch brauchen wir das Strafrecht, weil es genügend Menschen geben würde, die Regeln verletzten, und andere, die dann davon betroffen und in ihren Rechten verletzt werden, die ihrerseits dann wieder die Rechte anderer verletzen. Man braucht das Strafrecht, aber die Vorstellung, dass das Strafrecht steuert, die primäre Steuerungsinstanz ist, ist völlig abwegig. Zuerst muss es ein Ethos anständigen Verhaltens im Alltag geben. Und wir hoffen alle, wenn wir uns anständig verhalten, dann auch keine strafrechtlichen Normen zu verletzen. Und so ähnlich ist es mit der ökonomischen Praxis. Gerade im Bankenwesen, in der Finanzkrise 2008 und möglicherweise 2011, gab es zu viele unsittliche Verträge, selbst wenn diese rechtsförmig waren. Es bedarf also institutioneller Regelungen, aber es ist eine Illusion zu meinen, eine humane, ökonomische Praxis funktioniert ohne Tugenden wie Anständigkeit, Verläßlichkeit, Vertrauenskultur und Kooperationsbereitschaft.
http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_3705/
Mit der Forderung dieser Tugenden, über das was rechtsgültig ist hinaus, knüpft man dann natürlich wieder an einen Bereich durchaus bürgerlicher Moralvorstellungen an.
Wie gesagt man kann sich das auch von Manfred Spitzer erklären lässen, wenn man den Zusatz „hat die Wissenschaft herausgefunden“ für sein Seelenheil dringend benötigt.
@ Gandalf:
Na, hauste wieder kräftig auf die Brechtrommel?
Du bist für Ironie völlig verloren, wie alle notorischen Rechthaber.