Lumen hat geschrieben:Zum Zeitpunkt der Abtreibungsmöglichkeit ist die Mutter die Handelnde und sie kann darüber entscheiden, was mit ihrem Körper passiert. Aber irgendwann wandert der Stab zur nächsten Staffel, hier dem Kind, das dann mit den Entscheidungen, die andere getroffen haben, leben muss.
Ja, aber das ist doch ein Allgemeinplatz. Jeder Mensch muss permanent mit den Entscheidungen leben, die andere (für ihn oder auch nur für sich) getroffen haben, und insbesondere das, was man als Eltern entscheidet, prägt einen für das ganze Leben. Entscheidungen über Leben und Tod sind dabei natürlich von besonderer Qualität, sind aber nicht exzeptionell in dem Sinne, dass andere Entscheidungen das Leben des Kindes nicht fatal belasten könnten. Zugespitzt gesagt hat ein Baby mit Down-Syndrom, das von seinen Eltern geliebt und umsorgt wird wesentlich weniger unter den kumulierten Entscheidungen seiner Eltern zu leiden als ein körperlich kerngesundes Kind, das mit gefühlskalten Eltern aufwächst und eine Bindungsstörung mit lebenslangen Pathologien entwickelt. Man könnte sogar ganz weit gehen (würde ich aber unter keinen Umständen!) und sagen, dass das Leben des Down-Syndrom-Kindes lebenswerter wäre als das des emotional misshandelten Kindes und dass man daher eher den lieblosen Eltern die Abtreibung hätte nahelegen müssen als den liebevollen Eltern des behinderten Kindes.
Natürlich muss das Kind mit den Entscheidungen seiner Eltern leben. Jeder muss das, das ist die Konsequenz aus der Kontingenz unserer Welt, in die man als Mensch hineingeworfen wird und mit der klarzukommen die wesentliche Kernfrage allen Reifens und Erwachsenwerdens ist. Die Betonung liegt hier aber in der Tat auf
leben. Damit tut man sich im Allgemeinen schwer, wenn man vorher abgetrieben wurde, weil für einen entschieden wurde, dass man zu schwach, depressiv und opfermäßig sein würde, um als Behinderte/r in dieser Welt ein Leben zu führen. Wenn eine Frau entscheidet, dass
sie selbst das Leben mit einem behinderten Kind nicht bewältigen können wird und sich für eine Abtreibung entscheidet, respektiere ich diese Entscheidung (auch wenn ich persönlich vielleicht anders entscheiden würde). Nur bitte sollen Eltern, egal ob sie das Kind behalten oder abtreiben, zu ihrer Entscheidung stehen und sich nicht mit solchen pseudoverantwortlichen Rührbröckchen herauswinden und behaupten, sie hätten das für das Kind getan. Das geht wirklich nur in eindeutigen Extremfällen (s.u. @Zappa).
Lumen hat geschrieben:Wenn du, Vollbreit und Myron auch der Ansicht sind, dass ein Kind "behindert gemacht werden kann" und das kein großes Problem darstellt, dann ist eure Position immerhin konsistent.
Ich habe keine Ahnung, was du mir sagen willst.
Lumen hat geschrieben:Ich würde nicht mit einer schweren Behinderung leben wollen und kann nicht von anderen verlangen, dass sie es tun müssen.
Jemand mit Down-Syndrom ist geistig und körperlich meist durchaus in der Lage, sich selber zu suizidieren (ist ja technisch so kompliziert jetzt auch wieder nicht), wenn jemand diese drastische Lösung um jeden Preis wählen will. Überlass das den Leuten mal selber. Die Frage ist doch eher, mit welchem Recht du für andere Personen entscheiden kannst, ihnen die eigene Meinungsbildung zu verweigern, noch dazu auf einer Grundlage, die du ja gar nichts hast. Denn du weißt nicht, wie es
wäre, am Down-Syndrom zu leiden, du bildest dir deine Meinung da auch nur anhand subjektiver Fantasien über das Behindert-Sein.
Was du für deine eigene Existenz wollen würdest ist für jede andere Person außerdem ungeachtet dessen völlig irrelevant, die haben ihre eigenen Existenzen. Wenn Eltern sagen, dass sie sich das Leben mit einem behinderten Kind für sich selbst nicht vorstellen können, berührt das sehr zentrale Aspekte der eigenen Lebensgestaltung und hier haben persönliche Präferenzen für die Entscheidung für eine Abtreibung zumindest in einem frühen Stadium ausreichende Relevanz, um den Eltern beide Wege ohne (moralische oder rechtliche) Verurteilung zu ermöglichen. Was aber überhaupt keine Relevanz hat, sind meine Vorstellungen für deine Entscheidung, deine Vorstellungen für meine oder unsere jeweiligen für irgendwen sonst, jedenfalls nicht im Sinne einer Empfehlung, die sich irgendwer für irgendwen anders anmaßen kann.
Lumen hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Darum noch mal. Wer hat mit welchem Recht darüber zu bestimmen, wer leben darf und wer es nicht wert ist zu leben?
Eltern entscheiden dass, indem sie verhüten oder Kinder bekommen.
Verhütung ist kein Schwangerschafts- oder etwas deutlicher ausgedrückt Lebensabbruch. Insbesondere geht es hier ja um die Selektion bestehender Föten, nicht um die Frage, ob ein Paar sich um den Eisprung herum für ungeschützten Sex entscheidet.
Lumen hat geschrieben:Wenn Eltern das Wohl eines Kindes absehbar nicht erfüllen können, sollten sie meiner Meinung nach davon absehen, Kinder in die Welt zu setzen.
Dem kann ich mit Vorbehalten zustimmen, allerdings geht es darum hier doch überhaupt nicht. Es geht nicht darum, ob die Eltern als solche geeignet sind, sondern ob das Kind als Mensch zum Leben geeignet ist. Dawkins hat nirgendwo gesagt, dass Eltern, die sich das zutrauen, ruhig Down-Syndrom-Kinder zur Welt bringen sollen, es war ein allgemeiner Appell an alle Eltern, solchermaßen behinderte Kinder aufgrund dieser Behinderung abzutreiben, also wegen einer Eigenschaft des Kindes, nicht der Eltern.
Du argumentierst hier wortreich um die eigentliche Frage herum: Warum sollte es ein moralischer Imperativ sein, Down-Syndrom-Kinder abzutreiben, wie Dawkins unterstellt? Wir reden hier nicht über deine persönlichen Präferenzen, von denen du meinst, auf Andere schließen zu dürfen, noch reden wir über die Frage, ob die Eignung der Eltern eine Rolle bei der Abtreibungsfrage spielen sollte. Wir reden darüber, dass ein Kind aufgrund einer körperlichen Eigenschaft als nicht lebenswert befunden wird und da das eine verdammt harte Forderung ist, dürfen wir, denke ich, eine verdammt gute, prägnante, stringente und plausible Begründung erwarten.
Zappa hat geschrieben:Das eigentliche moralische Dilemma, das Dawkins berührt ist die Entscheidung in einer Situation in der ein potentieller ethischer Mitspieler seine eigenen Interessen nicht artikulieren kann. Für Menschen, die prinzipiell der Diskusrsethik nahestehen, wie ich, ist dies ein ernstes Dilemma.
Ich habe irgendwann mal gelesen, was Habermas dazu äußert, weiß aber nicht mehr genau, wo ich den Text vergraben habe. Habermas lässt, soweit ich mich erinnere, die negative Eugenik, also die Abtreibung bei schweren Krankheiten, zu, wenn erhebliche Leiden zu erwarten sind ("lässt zu" heißt nicht "fordert"). Ich denke, dass wir übereinstimmen können, dass eine Existenz, die so gut wie ausschließlich aus Schmerzen und extremem Leid, gepaart mit der kognitiven Unfähigkeit, dies in irgendeiner Weise emotional und/oder intellektuell verarbeiten zu können, als lebensunwert betrachtet und abgetrieben werden darf. Dies kann man rein intersubjektiv begründen, weil vermutlich niemand eine gute Argumentation dafür anführen können wird, mit welchem Interesse jemand diese Existenz führen wollen würde und wir wissen, dass bei Patienten mit extremen, unbehandelbaren Schmerzen der Todeswunsch aufgrund dieser Schmerzen meist sehr ausgeprägt ist. ich denke, da darf man übertragen und analog schließen, dass die Abtreibung evtl. sogar geboten sein könnte. Allerdings reden wir über diesen Grenzfall hier nicht.
Zappa hat geschrieben:Es ist sicherlich moralisch nicht begründbar Interessen nicht artikulationsfähiger, aber fühlender Wesen (narkotisierte Wesen jeglicher Couleur, intelligente Wesen, deren Sprache wir nicht beherrschen, vorsprachliche Wesen die aber deutlich Leidensfähig sind etc.) einfach zu ignorieren. Deswegen ist die Behauptung: Es ist allein Sache der Mutter, was mit ihrem Körper passiert albern und geht am Problem vorbei, hier geht es halt nicht um Fußnägel schneiden, sondern um Abtreibung.
Die Entscheidungshoheit der Mutter würde ich in Anbetracht des Fehlens von Kriterien, die gut genug sind, dass sie intersubjektiv durch die Bank weg anerkannt werden, als schlichte Notlösung ansehen. Das Recht auf den Körper sehe ich nachrangig, denn es gibt durchaus moralische Gründe, von Menschen das Inkaufnehmen von möglichen Schäden am Körper moralisch zu verlangen, etwa bei der Hilfeleistung nach einem Unfall, bei der Landesverteidigung oder eben (zumindest ist da der Konsens klarer erkennbar) bei einer fortgeschrittenen Schwangerschaft.
Vorsprachlichen Lebewesen Interessen zuzusprechen klingt sehr nach Singer und nicht so sehr nach Diskursethik, oder? Habermas bringt da doch andere Argumente (Gattungsethik).
Zappa hat geschrieben:Ich empfinde nach wie vor die These Dawkins als öffentliche Darstellung seiner Meinung zu diesem Thema und er lässt EXPLIZIT zu, dass andere Menschen (expressis verbis Mütter) eine andere Meinung dazu haben, das sollte dann in dieser Diskussion schon Konsens sein - ansonsten diskutieren wir über was anderes, aber nicht die Meinungsäußerung von Dawkins.
Dawkins erhebt nichtsdestotrotz eine moralische Forderung und auch, wenn durch die Meinungsfreiheit im Prinzip erstmal alles mögliche gedeckt ist, heißt das nicht, dass es für einen gesellschaftlichen Diskurs zielführend ist, alles mögliche und noch unter Missachtung von Kontext, Gepflogenheiten und möglicher Wirkung zum Ausdruck zu bringen. Es gab hier vor ein paar Jahren heftige Diskussionen um die Mohammedkarikaturen, wo ich immer gesagt habe, dass diese selbstredend durch die Meinungsfreiheit gedeckt waren, es aber trotzdem respektlos und kontraproduktiv war, sie zu drucken, und die Verlage es also besser unterlassen hätten. Ich sage keinesfalls, dass die Autoren für die blutigen Folgen verantwortlich waren, aber eine kluge, konstruktive Handlung hätte anders ausgesehen. Wenn wir einen Selbstanspruch an unseren demokratisch-pluralistischen Diskurs und die von dir immer wieder ins Feld geführte Kraft des guten Arguments haben, dann können wir schwerlich sagen, dass jede Meinungsäußerung schon deshalb getan werden sollte, weil man es kann und darf. Wir sollten schon den Anspruch an uns selber haben, eine auf maximal möglichem Niveau geführte Diskussion anzustreben und insbesondere von einem klugen Kopf wie Dawkins darf man erwarten, dass er seine Worte mit mehr Bedacht wählt als der ungebildete Hilfsarbeiter aus der Eckkneipe (ich überspitze stark, ich weiß schon, aber es wird deutlicher so).
Zappa hat geschrieben:Ich würde Menschen mit verschiedenen Behinderungen befragen, ob sie Kinder zu Welt bringen würden, die dieselbe Behinderung wie sie hätten. Aber da käme natürlich nur wieder ein naturalistischer Fehlschluss bei raus, meinst Du.
Im Sinne intersubjektiver Argumentation sicherlich eine gute Methode zur Näherung und Projektion. Sofern nicht aus der Existenz Behinderter geschlossen wird, dass es weiterhin Behinderte geben müsse, liegt auch kein naturalistischer Fehlschluss vor. Die Behinderten sollten ja im Gegenteil bewerten, ob das, was
ist auch so sein
soll, also ob es gut ist, wie es ist.