Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon molosovsky » Mo 24. Sep 2007, 13:10

Ein enorm kluger Vortrag, den Jan Philipp Reemtsma beim Philosophicum in Lech/Österreich gehalten hat: »Muss man Religiösität respektieren«. Hier zum Bericht der Wiener Tageszeitung »Der Standard«. Dort gibt es den ganzen Vortrag (15 Seiten) auch als PDF zum runterladen. (Der Vortrag beruht auf einem Essay, den Reemtsma im August 2005 in der deutschen Ausgabe von »Le monde diplomatique« veröffentlicht hat.)

Hier meine Lieblingsstelle aus dem erweiterten Text:
Religiös ist also nicht derjenige, der meint, mehr und anderes über die Welt zu wissen, als viele andere, sondern derjenige, der der Überzeugung ist, dass in letzter Instanz solches Wissen die Welt in ihrer Gesamtheit – oder in ihrem Kern – oder in ihrem Sinn – nicht erfassen kann. Dass es aber auf dieses Erfassen ankommt und es auch in gewissem Sinne möglich ist. Aber nicht prinzipiell jedem, sondern nur dem, der einen ganz bestimmten Zugang wählt, dessen wesentlicher Bestandteil die Empfindung dieser Zweiteilung ist. In dieser Empfindung treffen sich die Religionen – in der Art und Weise, wie sie mit dieser Empfindung in Ritualen, Überzeugungen, Lehren, Schriften, sozialem Verhalten umgehen, unterscheiden sie sich. Religiosität bedeutet die Überzeugung, über einen privilegierten Zugang zur einer nur in diesem Zugang als einheitlich zu verstehenden Welt – sagen wir: zur Wahrheit – zu verfügen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Religiöse meint, alle Menschen sollten über diesen Zugang verfügen, oder ob er im Gegenteil sein
Privileg hütet.


Viel Vergnügen.
Grüße
Alex / molo
Zuletzt geändert von molosovsky am Mo 24. Sep 2007, 17:21, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiösität

Beitragvon Myron » Mo 24. Sep 2007, 15:16

"Religiosität besteht in der Überzeugung, dass die Welt nicht aus sich heraus verstanden werden kann.
(...)
Religiös ist derjenige, der meint, was immer wir auf diesem oder jenem Wege noch über die Welt herausbekommen können: das, was die Welt im Innersten
zusammenhält, das Geheimnis der Welt, ihr Sinn – also irgendwie: das Eigentliche wird
es nicht sein. Und: auf dieses Eigentliche kommt es an. Denn wer sagt, die Wissenschaften könnten auf alle diese Fragen keine Antwort geben, aber er empfinde das auch keineswegs als Mangel, ist deutlich nicht religiös. Religiös ist derjenige, der die Welt aufteilt in das, was unserem Wissenwollen zugänglich und gerade darum nicht das Wesentliche ist, und das andere, Wesentliche, zu dem es einen anderen Zugang geben muss.
(...)
Religiös ist also nicht derjenige, der meint, mehr und anderes über die Welt zu wissen, als viele andere, sondern derjenige, der der Überzeugung ist, dass in letzter Instanz solches Wissen die Welt in ihrer Gesamtheit – oder in ihrem Kern – oder in ihrem Sinn – nicht erfassen kann. Dass es aber auf dieses Erfassen ankommt und es auch in gewissem Sinne möglich ist."


(http://images.derstandard.at/20070921/reemtsma.pdf)


"Vom Dufte der Blüten berauscht. - Das Schiff der Menschheit, meint man, hat einen immer stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er sich schätzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Tieren wird, - je mehr er als das Genie unter den Tieren erscheint, - um so näher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntnis kommen: dies tut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er meint dies noch mehr durch seine Religionen und Künste zu tun. Diese sind zwar eine Blüte der Welt, aber durchaus nicht der Wurzel der Welt näher, als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge gerade gar nicht besser verstehen, obschon dies fast jedermann glaubt. Der Irrtum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine solche Blüte, wie Religionen und Künste, herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu außerstande gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vorstellung (als Irrtum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoße tragend. Dies Resultat führt zu einer Philosophie der logischen Weltverneinung: welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegenteile vereinigen lässt."

(Nietzsche: "Menschliches, Allzumenschliches", Bd. 1, "Von den ersten und letzten Dingen", §29)
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiösität

Beitragvon ostfriese » Mo 24. Sep 2007, 15:52

Hab mir Reemtsmas Essay durchgelesen und hätte dagegen einen grundsätzlichen Einwand. Reemtsma hängt das Sinn- und Erklärungsbedürfnis der Religiösen im Kontrast zum angeblichen Relativismus der Säkularen viel zu hoch.

Grundsätzlich haben alle Menschen ein Sinn- und Erklärungsbedürfnis, natürlicherweise sogar ein personalisiertes: Irgendwer muss schuld sein, irgendwer muss sich was dabei gedacht haben.

Dieses Wissenwollen gibt niemand beim Eingang in die säkulare Gesellschaft an der Garderobe ab.

Nun tut Reemtsma so, als könne Religion jenes angeblich spezifische Bedürfnis seiner Anhänger tatsächlich befriedigen. Und genau dies stimmt ja nicht. Wenn Religionen ad hoc Übernatürliches zur Schließung wissenschaftlicher Erklärungslücken postulieren, dann erklären diese Lückenfüller ja nicht wirklich etwas. Sondern werfen nur neue Fragen auf.

Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass sich Religiöse mit Scheinerklärungen / Scheinsinngebungen zufrieden geben und es insgesamt nicht so genau wissen / bedenken wollen. Ihr "privilegierter Zugang zur Wahrheit" ist überhaupt kein Zugang. Hier wird kein Erkenntnisweg beschritten, sondern Beliebigkeit bemüht. Nicht das Geglaubte ist bedeutsam, sondern das Glauben.

Ich halte es für einen Fehler, Religiösen die Auffassung zuzugestehen, eine Gesellschaft oder Kultur ohne Gott sei defizitär. Es ist im rationalen Diskurs recht eindeutig klärbar, dass dies unzutreffend ist, in jeder Hinsicht.
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiösität

Beitragvon Myron » Mo 24. Sep 2007, 16:59

Myron hat geschrieben:Reemtsma: "Religiosität besteht in der Überzeugung, dass die Welt nicht aus sich heraus verstanden werden kann."


Dass es uns nicht gelingen wird, unser kosmologisches Wissen auf empirischem Wege zu vervollständigen, liegt daran, dass uns das Universum, die Natur nicht genug Informationen über sich liefert (insbesondere darüber, was vor dem Urknall war) oder/und die Spezies Mensch schlicht geistig nicht weit genug entwickelt ist, um bestimmte vorhandene Informationen wahrnehmen und richtig deuten zu können.

Myron hat geschrieben:Reemtsma: "Religiös ist derjenige, der meint, was immer wir auf diesem oder jenem Wege noch über die Welt herausbekommen können: das, was die Welt im Innersten
zusammenhält, das Geheimnis der Welt, ihr Sinn – also irgendwie: das Eigentliche wird
es nicht sein. Und: auf dieses Eigentliche kommt es an. Denn wer sagt, die Wissenschaften könnten auf alle diese Fragen keine Antwort geben, aber er empfinde das auch keineswegs als Mangel, ist deutlich nicht religiös."

(http://images.derstandard.at/20070921/reemtsma.pdf)


Wer sich nicht mit der Einsicht abfinden kann, dass wir niemals über ein 100%ig sicheres und 100%ig vollständiges Weltwissen verfügen werden, ohne deshalb "religiös" zu werden, der ist in meinen Augen ein armer Geisteszwerg.
Es ist anzunehmen, dass es Dinge gibt, die über den menschlichen Verstand hinausgehen; und wenn wir wollen, können wir es mit Lichtenberg halten:

"Ist denn wohl unser Begriff von Gott etwas weiter als personifizierte Unbegreiflichkeit?"

(Lichtenberg, Sudelbuch L, §737)

Damit erschöpft sich die gesamte "Theologie" in der Anerkennung eines für uns unbegreiflichen, unfassbaren "ganz Anderen", das wir nicht aussprechen, sondern ehrlicherweise nur "ausschweigen" können.
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiösität

Beitragvon ostfriese » Mo 24. Sep 2007, 17:06

Myron hat geschrieben:Damit erschöpft sich die gesamte "Theologie" in der Anerkennung eines für uns unbegreiflichen, unfassbaren "ganz Anderen", das wir nicht aussprechen, sondern ehrlicherweise nur "ausschweigen" können.

:2thumbs: Diesen Satz würde ich gern in den Thread der besten Forenbeiträge aufnehmen. Wo war der doch gleich?

Übrigens klopp ich mich gerade mit mehreren christlichen Müttern in einem anderen Forum. Falls es jemanden interessiert: http://forum.mysnip.de/read.php?15091,631642,page=1

Warnung: Wir sind schon bei 5 Seiten, und die Diskussion ist nicht durchgehend^^ von Sachlichkeit geprägt...
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiösität

Beitragvon stefan2 » Mo 24. Sep 2007, 17:14

Das erinnert doch an Wittgenstein: "Worüber man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen" - ich weiß nicht genau, ob ich das es richtig erinnere. Ich meine, es gehört in seinen "Tractatus". Das ist schon ein erstaunlicher Satz.
stefan2
 

Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon molosovsky » Mo 24. Sep 2007, 17:40

@Ostfriese:
Hmmm, irgendwie gehen unsere Lesarten ziemlich auseinander.
Nun tut Reemtsma so, als könne Religion jenes angeblich spezifische Bedürfnis seiner Anhänger tatsächlich befriedigen.

Ich halte es für einen Fehler, Religiösen die Auffassung zuzugestehen, eine Gesellschaft oder Kultur ohne Gott sei defizitär.

Wo im Reemtsma-Text steht das denn? Er stellt vielmehr heraus, dass Glaubensvorstellungen die Welt arg vereinfachen, was Leuten mir entsprechenden Bedürfnis entgegenkommt. Er spricht vom Stolz des Sekularen auf die "Sünde", dass hier Menschen selbst urteilen was Gut und Böse sei.

@Myron zu Ergänzung:
Dass die Menschheit das Universum nicht zur Gänze in Wissens-Enzyklopädien abbilden kann, wird auch z.B. vom Rätsel einer Karte des Reiches im Maßstab 1 zu 1 behandelt. Siehe z.B. Jorge Luis Borges.
Damit erschöpft sich die gesamte "Theologie" in der Anerkennung eines für uns unbegreiflichen, unfassbaren "ganz Anderen", das wir nicht aussprechen, sondern ehrlicherweise nur "ausschweigen" können.

Für mich schon lange ein klarer Fall, dass Theologie eigentlich unter vergleichende Literaturwissenschaft (da wo die Theo Dichtung, also Phantastik ist) und/oder vergleichende Philosophie (da wo die Theo vernünftiger ist) subsummiert werden könnte.

@stefan2:
Du erinnerst Dich richtig. Das mit dem Schweigen ist der letzte Satz aus dem »Tractatus Logicus-Philosophicus«.

Grüße
Alex / molo
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiösität

Beitragvon Myron » Mo 24. Sep 2007, 18:31

stefan2 hat geschrieben:Das erinnert doch an Wittgenstein: "Worüber man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen" - ich weiß nicht genau, ob ich das es richtig erinnere. Ich meine, es gehört in seinen "Tractatus". Das ist schon ein erstaunlicher Satz.


Der Schlusssatz des Tractatus lautet genau:

TLP 7: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Das hat allerdings etwas Paradoxes an sich, denn wovon man nicht sprechen kann, darüber hat man soeben gesprochen.
Denn ich spreche/schreibe ja hier gerade über dasjenige, worüber man nicht sprechen/schreiben kann.
Über dasjenige, wovon man nicht sprechen kann, kann also sowohl gesprochen als auch nicht gesprochen werden.
Graham Priest bringt diesen Umstand auf den Punkt:

"Whereof one cannot speak, thereof one has just contradicted oneself."

"Worüber man nicht sprechen kann, darüber hat man sich soeben widersprochen."

(Priest, Graham. Beyond the Limits of Thought. 2nd ed. Oxford: Oxford University Press, 2002. p. 233)

Auch Hegel war sich dieser Paradoxie bewusst:

"Es pflegt zuerst viel auf die Schranken des Denkens, der Vernunft u.s.f. gehalten zu werden, und es wird behauptet, es könne über die Schranke nicht hinausgegangen werden. In dieser Behauptung liegt die Bewußtlosigkeit, daß darin selbst, daß etwas als Schranke bestimmt ist, darüber bereits hinausgegangen ist. Denn eine Bestimmtheit, Grenze, ist als Schranke nur bestimmt, im Gegensatz gegen sein Anderes überhaupt, also gegen sein Unbeschränktes ; das Andere einer Schranke ist eben das Hinaus über dieselbe."
(Wissenschaft der Logik: 1. Teil: Objektive Logik -> 1. Buch -> 2. Kapitel -> B -> c -> beta -> Die Schranke und das Sollen -> Anmerkung)

"Es ist darum die größte Inkonsequenz, einerseits zuzugeben, daß der Verstand nur Erscheinungen erkennt, und andererseits dies Erkennen als etwas Absolutes zu behaupten, indem man sagt, das Erkennen könne nicht weiter, dies sei die natürliche, absolute Schranke des menschlichen Wissens. Die natürlichen Dinge sind beschränkt, und nur natürliche Dinge sind sie, insofern sie nichts von ihrer allgemeinen Schranke wissen, insofern ihre Bestimmtheit nur eine Schranke für uns ist, nicht für sie. Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist."
(Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, §60)

Wenn es eine absolute Grenze des Verstandes gibt, dann ist diese paradoxerweise sowohl geistig unüberschreitbar als auch geistig überschreitbar, indem das Jenseitige dieser Grenze, das "ganz Andere", notwendigerweise bei ihrem Gedachtwerden mitgedacht wird.
Unsere Verstandesgrenze, unsere, wie ich es nenne, "kognitive Artgrenze", ist also sowohl absolut als auch nichtabsolut. :schweig:
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiösität

Beitragvon Myron » Mo 24. Sep 2007, 18:44

stefan2 hat geschrieben:Das erinnert doch an Wittgenstein: "Worüber man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen" - ich weiß nicht genau, ob ich das es richtig erinnere. Ich meine, es gehört in seinen "Tractatus". Das ist schon ein erstaunlicher Satz.


Ich sage gerne in Abwandlung von Boethius' Diktum "Si tacuisses, philosophus mansisses":

"Si tacuisses, theologus mansisses!"

"Wenn du geschwiegen hättest, wärst du Theologe geblieben!

:rollsmile:

"Gott ist die Stille."
(Gunnar Björnstrand in der Rolle des Pfarrers Tomas Ericsson in Ingmar Bergmans "Licht im Winter" [1962])
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon ostfriese » Mo 24. Sep 2007, 21:14

Das wird ja immer besser! Myron, danke für diese erhellenden Verweise! Auch ich war mit Wittgensteins Satz nie glücklich, hätte allerdings nicht präzise angeben können, woran das liegt. Ähnliche Probleme hatte ich mit dem Positivismus in der Physik, der mit dem naiven Verständnis von Realität gleich die ganze Realität zu Grabe trug (weil man über die ja nicht reden, sondern nur mathematische Modelle beschreiben kann).
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiösität

Beitragvon dvrvm » Mo 24. Sep 2007, 21:38

Myron hat geschrieben:
stefan2 hat geschrieben:Das erinnert doch an Wittgenstein: "Worüber man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen" - ich weiß nicht genau, ob ich das es richtig erinnere. Ich meine, es gehört in seinen "Tractatus". Das ist schon ein erstaunlicher Satz.


Der Schlusssatz des Tractatus lautet genau:

TLP 7: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Das hat allerdings etwas Paradoxes an sich, denn wovon man nicht sprechen kann, darüber hat man soeben gesprochen.
Denn ich spreche/schreibe ja hier gerade über dasjenige, worüber man nicht sprechen/schreiben kann.
Über dasjenige, wovon man nicht sprechen kann, kann also sowohl gesprochen als auch nicht gesprochen werden.
Graham Priest bringt diesen Umstand auf den Punkt:

"Whereof one cannot speak, thereof one has just contradicted oneself."

"Worüber man nicht sprechen kann, darüber hat man sich soeben widersprochen."


Hmm...
Halte ich für falsch.
Im einen Fall geht es um die Klasse des Nicht-Besprechbaren, diese kann man beschreiben mit "nicht besprechbare Dinge" und also über sie sprechen.
Das Andere ist das, was dieser Klasse angehört. Über dieses kann man nicht sprechen. (Im letzten Satz habe ich aber wiederum über die Klasse gesprochen, nicht über ein Ding selbst.)
Analog zu Definition und Implementation in Programmiersprachen: In einem gewissen Teil des Programms kann die Definition einer Funktion bekannt sein, und diese Funktion verwendbar, ohne dass zu diesem Zeitpunkt die Implementation dieser Funktion bekannt ist. Niemand würde das aber für paradox halten.
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiösität

Beitragvon Myron » Mo 24. Sep 2007, 22:05

dvrvm hat geschrieben:Halte ich für falsch.
Im einen Fall geht es um die Klasse des Nicht-Besprechbaren, diese kann man beschreiben mit "nicht besprechbare Dinge" und also über sie sprechen.
Das Andere ist das, was dieser Klasse angehört. Über dieses kann man nicht sprechen. (Im letzten Satz habe ich aber wiederum über die Klasse gesprochen, nicht über ein Ding selbst.)


Nein, mit "dieses" beziehst Du Dich auf die Elemente der Klasse, d.h. darauf, was dieser Klasse angehört, und nicht auf die davon verschiedene Klasse.
Sobald man sagt, dass die Mitglieder der Menge des Unsagbaren unsagbar seien, hat man sich selbst widersprochen, da man damit ja über die Mitglieder aussagt, dass man nichts über sie aussagen könne.
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon dvrvm » Mo 24. Sep 2007, 22:36

Nach nochmaligem Überlegen sehe ich, du hast recht. Wenn man behauptet, "über Religiöses kann man nicht sprechen", hat man über das Religiöse eine Aussage getroffen.
Das führt aber dazu, dass wir diese Aussage entweder als "sinngemäss richtig, man versteht ja was gemeint ist" beschreiben können (das ist aber nicht gerade philosophisch...), oder eine genauere Aussage suchen müssen.
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon Myron » Di 25. Sep 2007, 00:11

dvrvm hat geschrieben:Nach nochmaligem Überlegen sehe ich, du hast recht. Wenn man behauptet, "über Religiöses kann man nicht sprechen", hat man über das Religiöse eine Aussage getroffen.
Das führt aber dazu, dass wir diese Aussage entweder als "sinngemäss richtig, man versteht ja was gemeint ist" beschreiben können (das ist aber nicht gerade philosophisch...), oder eine genauere Aussage suchen müssen.


Es gibt eine Richtung, die sich "negative Theologie" nennt und in der Ansicht besteht, dass man über Gott nichts Positives aussagen könne.

Nietzsche schreibt (in "Menschliches, Allzumenschliches", §9):

"[M]an könnte von der metaphysischen Welt gar nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften."

Wenn das "ganz Andere" (Rudolf Otto) bloß ein Ding mit negativen Eigenschaften ist, dann kann man eigentlich nicht einmal mehr sagen, dass es existiere. Auch von einem allliebenden, allgütigen, allmächtigen, allwissenden Gott kann dann keine Rede mehr sein, da all dies ja positive Bestimmungen sind.

Der Gegenstand der rein negativen Theologie ist ein reines Nichts.
Besser gesagt, als Personifikation der absoluten Transzendenz ist Gott zumindest unser Nichts.
So mündet die negative Theologie letzten Endes in einen religiösen Nihilismus.
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon pinkwoolf » So 30. Sep 2007, 00:33

@ molosovsky
Für mich schon lange ein klarer Fall, dass Theologie eigentlich unter vergleichende Literaturwissenschaft (da wo die Theo Dichtung, also Phantastik ist) und/oder vergleichende Philosophie (da wo die Theo vernünftiger ist) subsummiert werden könnte.


Vergleichende Literaturwissenschaft = Phantastik?
Die vergleichende Literaturwissenschaft bemüht sich, teils auf tödlich ermüdende Weise, die Entwicklung von Ideen und, mehr noch, formalen Traditionen über die Jahrhunderte und über Grenzen hinweg minutiös aufzudröseln.
:schlafen:

Vielleicht:
Literatur = Phantastik = unvernünftig?
Z.B.:
Jedermann kann für die Leiden eines Freundes Mitgefühle aufbringen. Es bedarf aber eines wirklich edlen Charakters, um sich über die Erfolge eines Freundes zu freuen.
Oscar Wilde


Müsste man das etwas theoretischer ausdrücken, damit es nicht unvernünftig ist? Vielleicht: Empathie ist evolutionsbedingt höher ausgeprägt, wenn das empathisierende Subjekt seine eigene Wertigkeit durch diesen Akt nicht relativiert.
:tomate:
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon Kival » So 30. Sep 2007, 00:55

pinkwoolf hat geschrieben:@ molosovsky
Für mich schon lange ein klarer Fall, dass Theologie eigentlich unter vergleichende Literaturwissenschaft (da wo die Theo Dichtung, also Phantastik ist) und/oder vergleichende Philosophie (da wo die Theo vernünftiger ist) subsummiert werden könnte.


Vergleichende Literaturwissenschaft = Phantastik?


(Wobei Theo = Theologie)

Das steht da überhaupt nicht, sondern, dass ein Teil der Theologie, also das was Theologen schreiben, meinen und sagen, in der vergleichenden Literaturwissenschaft als Phantastik gelten würde und als solche auch im Rahmen dieser zu behandeln ist und sie keinen eigenständigen Bereich verdient hat, sondern nur die Betrachtung durch die vergleichende Literaturwissenschaft verdient! (Dazu gibt es dann noch einen Teil der Theologie der eher zur PHilosophie gehört nach Molos Ansicht...) - aber keinesfalls meint Molo, dass die vergl. Literaturwissenschaft selbst Phantastik wäre, sie behandelt sie!

Der Rest deines Postings ist dementsprechend gegenstandslos, da du etwas angreifst, was Molo niemals behauptet hat.
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon molosovsky » So 30. Sep 2007, 08:10

Danke Kival. Hast mich richtig ausgedeutet.
Grüße
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon pinkwoolf » So 30. Sep 2007, 12:04

@ Kival

Du zitierst Molo:
vergleichende Literaturwissenschaft (da wo die Theo Dichtung, also Phantastik ist)


Mit deiner Analyse hast du mich auf den richtigen Weg gebracht (der erste war mir selbst nicht ganz geheuer).
:up:

Damit ist der zweite Teil meiner Post aber noch nicht hinfällig. Ich habe jetzt im Zitat ein anderes Wort hervorgehoben.
Alle Dichtung ist Phantastik? Großenteils beschäftigt sie sich doch mit ganz realen Erscheinungen in der Welt, geringerenteils sogar logisch-analytisch.

Auch der Umkehrschluss würde nicht stimmen, denn ein Teil der Phantastik ist ja Theologie.
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon Kival » So 30. Sep 2007, 22:12

pinkwoolf hat geschrieben:Damit ist der zweite Teil meiner Post aber noch nicht hinfällig. Ich habe jetzt im Zitat ein anderes Wort hervorgehoben.
Alle Dichtung ist Phantastik? Großenteils beschäftigt sie sich doch mit ganz realen Erscheinungen in der Welt, geringerenteils sogar logisch-analytisch.


Ok, das ist aber eine ganz andere Frage, hier stimme ich dir zu das Dichtung mehr als Phantastik ist, allerdings glaube ich, dass Phantastik bei molo nicht so negativ konnotiert ist wie bei mir (und dir?).
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Re: Vortrag Jan Philipp Reemtsma: Religiosität

Beitragvon Myron » So 30. Sep 2007, 23:09

molosovsky hat geschrieben:@Myron zu Ergänzung:
Für mich schon lange ein klarer Fall, dass Theologie eigentlich unter vergleichende Literaturwissenschaft (da wo die Theo Dichtung, also Phantastik ist) und/oder vergleichende Philosophie (da wo die Theo vernünftiger ist) subsummiert werden könnte.


Der Textfetischismus der Theologen erklärt sich aus dem Umstand, dass ihnen außer ihren "heiligen" Schriften kein anderer greifbarer Untersuchungsgegenstand zur Verfügung steht.
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