Kulturspezifische Baustandards

Kulturspezifische Baustandards

Beitragvon emporda » Do 7. Feb 2008, 23:18

Abgetrennt von: http://www.forum.brights-deutschland.de/viewtopic.php?f=6&t=1895&p=30206#p30206

JustFrank hat geschrieben:Ich übernehm mal die Korrektur (endlich Spießer!). Die amerikanische Pappschachtel erklärt sich mehr aus den dort üblichen Temperaturen. Und natürlich aus der völlig irrigen Annahme heraus, dass schon nichts passieren wird. Amerikaner neigen dazu Leichtsinn als wertvolle Ausprägung ihres Way of Life zu betrachten.

So ganz stimmt das nicht, Ich habe an der Golfküste (Houston, Baton Rouge) gelegentlich durchaus Glatteis aus der Straße gehabt und morgens Eisblumen am Autofenster - allerdings nur an wenigen Tagen im Jahr.Dafür waren es im Sommer dan 40°C bei 99% RH, wie eine Sauna

Das sind dann auch die Grenzen der wärmetechnischen Möglichkeiten einer 100er Wand bestehend aus 2,5 cm Blendplatte, 1,25 cm Gipskarton, 10 cm Steinwolle und nochmals 2 Lagen 1,25 cm Gipskarton. Auf so einer Ständer-Konstruktion mit Holzrahmen von 10 x 5 cm und Aussteifung von 10 x 2,5 cm ist absolut nichts, woran man ein Dach haltbar festschrauben kann. Das liegt mehr oder weniger lose drauf und fliegt als erstes weg. Innerhalb von 1 Minute zerlegt der Wind den Rest in kamingroße Teile.

Übrigens habe ich in Riyadh/Saudi Arabien in so einem Pappdeckel-Haus gewohnt, dort hatten wir 55°C bei 15% RH im Sommer und 25°C bei 35% RH im Winter. Das Problem waren die schweren Wandklima-Anlagen. Wenn die vereisten und anfingen zu vibrieren, sind sie aus der Wand gefallen, es gab fast nichts um die Schrauben reinzudrehen.

Bei der extrem trockenen Luft ist der Kaltleim der Ikea-Möbel in 6 Monaten zu Pulver geworden, die Dinger fielen einfach auseinander. In jedem Tisch, Stuhl, Couch, Sessel Bett usw waren riesige Schrauben.

Qualität sieht einfach anders aus.
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Re: Kassandras kontra Wissenschaft

Beitragvon JustFrank » Fr 8. Feb 2008, 08:51

Es gibt ihn halt nicht, den Bau für die Welt. Gerade was Hausbau angeht, ist die Kenntnis der geologischen und klimatischen Bedingungen vor Ort entscheidend für die Lebensdauer von Gebäuden.

Offenbar hatten uns da die frühen Hochkulturen in einigen Gegenden der Welt etwas voraus, denn einige Butzen stehen seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden rum. Dazu muss man natürlich auch sagen, dass die Erbauer wesentlich weniger von ökonomischen Zwängen abhängig waren, als wir und einfach weniger Gebäude zu errichten hatten.

Das erklärt natürlich immer noch nicht, weshalb Amerikaner glauben, dass Pappe vor Tornados schützt. Aber die benutzen ja auch in New Mexico Wäschetrockner.
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Re: Kassandras kontra Wissenschaft

Beitragvon emporda » Fr 8. Feb 2008, 11:42

JustFrank hat geschrieben:Offenbar hatten uns da die frühen Hochkulturen in einigen Gegenden der Welt etwas voraus, denn einige Butzen stehen seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden rum. Dazu muss man natürlich auch sagen, dass die Erbauer wesentlich weniger von ökonomischen Zwängen abhängig waren, als wir und einfach weniger Gebäude zu errichten hatten.

Das erklärt natürlich immer noch nicht, weshalb Amerikaner glauben, dass Pappe vor Tornados schützt. Aber die benutzen ja auch in New Mexico Wäschetrockner.

Das sollte man nicht überschätzen. Die Baumeister kannten keine Dezimalstellen und Bruchrechnung, keine Biegemomente, keine Zug- und Druckkräfte in liegenden Trägern und vor allem keinen armierten Beton. Also hat man behauende Blöcken frei nach Schnauze und Erfahrung aufeinander geschichtet. Die sind besonders schnell bei leichten Erdbeben eingestürzt. Erst im Mittelalter fing man an, die Blöcke durch gegossene Bleizapfen gegeneinander zu sichern, sonst würde heute keiner der klassischen Kirchendome mehr stehen.

Die heutige gängige Statik-Methode der Finiten Elemente gibt es theoretisch erst seit Mitter der 20er Jahre, erst seit Ende der 60er Jahre konnten Computer den Rechenaufwand bewältigen. Bei Diskusionen mit Professoren der Uni Wroclaw, die ich 1995 hatte, wurde das nicht einmal unterrichtet, weil sich weder Uni noch Studenten die notwendigen PCs leisten konnten. Die Studenten dieser Zeit gehen erst um 2040 in Rente, und arbeiten bis dahin nach Cremona-Plan

Die FE-Statik führt zum totalem Ausknautschen der Tragwerke aufs absolute Minimum, ein riesiges Reservoir an Kostenminimierung. Wenn aber ein tragendes Element versagt, dann sind per Dominoeffekt sofort die benachbarten Elemente überlastet, versagen usw. Der Bau bricht zusammen wie das klassische Kartenhaus. Vielfach sind bei den Bauten bestimmte Lastannahmen vorgeschrieben wie etwa Schneelasten, Windlasten, Verkehrslasten usw. Werden die zufällig überschritten, Pech gehabt lieber Bauherr. (Eissporthalle Rosenheim)
Zuletzt geändert von emporda am Fr 8. Feb 2008, 12:37, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Kassandras kontra Wissenschaft

Beitragvon stine » Fr 8. Feb 2008, 12:00

emporda hat geschrieben:Die FE-Statik führt zum totalem Ausknautschen der Tragwerke aufs absolute Minimum, ein riesiges Reservoir an Kostenminimierung. Wenn aber ein tragendes Element versagt, dann sind per Dominoeffekt sofort die benachbarten Elemente überlastet, versagen usw. Der Bau bricht zusammen wie das klassische Kartenhaus. Vielfach sind bei den Bauten bestimmte Lastannahmen vorgeschrieben wie etwa Schneelasten, Windlasten, Verkehrslasten usw. Werden die zufällig überschritten, Pech gehabt lieber Bauherr. (Eissporthalle Rosenheim)

Wenn die Chinesen ihre Wolkenkratzer so bauen, wie ihre Autos oder sonstige optische Täuschungen einiger Markenartikel, dann ist die erste Katastrophe schon vorprogrammiert.

LG stine
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Re: Kassandras kontra Wissenschaft

Beitragvon emporda » Fr 8. Feb 2008, 12:53

stine hat geschrieben:Wenn die Chinesen ihre Wolkenkratzer so bauen, wie ihre Autos oder sonstige optische Täuschungen einiger Markenartikel, dann ist die erste Katastrophe schon vorprogrammiert.
LG stine
Um diese Prestigebauten mit Kosten in Milliardenhöhe habe ich weniger Angst, dort hat man wirkliche Fachkräfte herangezogen.

Sorge sollen eher die Bauten in Stadtvierteln von Istanbul und anderen Orten bereiten, die oft wild ohne Genehmigung und ohne Statik gebaut wurden, bei denen minderwertiger Beton B-15 zum Einsatz kam weil viel geschmiert wurde und last-but-not-least noch einige Etagen obendrauf gepackt wurden, obwohl das Tragwerk bereits ausgelastet war. Wenn dort 3 Tauben auf die gleiche Stelle scheißen, dann knickt die Kiste ein.
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Re: Kassandras kontra Wissenschaft

Beitragvon JustFrank » Fr 8. Feb 2008, 19:42

....und in Istanbul steht ein Hochhaus am nächsten.
Ich war im vergangenen Jahr beruflich in ein paar dieser Bauten dort unterwegs, speziell in den Aufzugsschächten. Da kann einem relativ anders werden, wenn man sieht, dass die Dübelungen in den Wänden teilweise mit Gips zugeschmiert worden sind. Okay, da hängen ja auch nur die Aufzugsschienen dran. Ich hoffe nur, dass diese Aufzüge dort niemals voll besetzt über die volle Förderhöhe fahren.
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Re: Kassandras kontra Wissenschaft

Beitragvon emporda » Sa 9. Feb 2008, 10:44

JustFrank hat geschrieben:....und in Istanbul steht ein Hochhaus am nächsten.
Ich war im vergangenen Jahr beruflich in ein paar dieser Bauten dort unterwegs, speziell in den Aufzugsschächten. Da kann einem relativ anders werden, wenn man sieht, dass die Dübelungen in den Wänden teilweise mit Gips zugeschmiert worden sind. Okay, da hängen ja auch nur die Aufzugsschienen dran. Ich hoffe nur, dass diese Aufzüge dort niemals voll besetzt über die volle Förderhöhe fahren.

Um nicht mehr aus dem Kopfschütteln rauszukommen, da braucht man nur nach England zu fahren.
Die Maschinenräume des Ausfzugs, der in der BRD als brandfester Abschnitt ausgebildet werden muß, wird dort oft nur durch einen Maschendraht vom Rest des technischen Raumes abgetrennt. Es gab auch schon Abtrennung durch eine Sperrholzplatte oben offen, auf die die Schaltanlage dr Aufzugtechnik montiert war.

In Lüftungsystem brauchen nur die Zuluftkanäle eine Brandschutzklappe, der Abluftkanal hat gar nichts. Im Brandfall geht der Rauch darüber schnell in alle Räume.

Die Abtrennung der Räume durch feuerhemmende F-60 Wände kann schlicht aufgehoben werden, in dem man Plastikrohre (grau) durchführt, die ab 60°C einfach dahinschmelzen und große Löcher offen lassen.

In der Bautechnik gehört BS (British Standard) zu einer Sammlung geraduzu widersinniger Bestimmungen, die aber genau eingehalten werden müssen. Die Diskusionen mit den Zulassungsbehördern außerhalb des UK erfolgen dann am besten in einer Gummizelle.
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Re: Kassandras kontra Wissenschaft

Beitragvon JustFrank » Sa 9. Feb 2008, 12:33

Inzwischen haben wir ja den maschinenraumlosen Aufzug (kürzlich sogar den ohne Gegengewicht) erfunden, der uns die Sache ein wenig erleichtert, da wirklich alles im Schacht sitzt.

Die Briten hatten damit die wenigsten Probleme, weil nach deren Bauordnungen so eine Bauweise keine Probleme bereitet. Schwierig war die Einführung hier in Deutschland, weil die Gesetzestexter unbedingt den Begriff Maschinenraum auch bei maschinenraumlosen Aufzügen beibehalten wollten. Inzwischen geht aber auch das.

Nach dem, was mir bislang so auf europäischen Baustellen begegnet ist, spiegelt sich dort immer (ist ja auch logisch) die lokale Mentatlität wieder. Unsere britischen Freunde sind da ja eher so drauf, dass sie erst etwas bauen und dann irgendwann feststellen "Gosh! Don't know why, but it work's!"
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Re: Kassandras kontra Wissenschaft

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Sa 9. Feb 2008, 12:57

emporda hat geschrieben: Erst im Mittelalter fing man an, die Blöcke durch gegossene Bleizapfen gegeneinander zu sichern, sonst würde heute keiner der klassischen Kirchendome mehr stehen.
Sowas kannte man schon in der Antike.

emporda hat geschrieben: (Eissporthalle Rosenheim)
Was hat die damit zu tun? Die steht noch.
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Re: Kassandras kontra Wissenschaft

Beitragvon emporda » Sa 9. Feb 2008, 13:32

1von6,5Milliarden hat geschrieben:
emporda hat geschrieben: (Eissporthalle Rosenheim)
Was hat die damit zu tun? Die steht noch.

Irgend eine Eissporthalle ist wegen zu großer Schneelast weit über der baulichen Auslegung von 80kg/m^2°eingestürzt hat einige Tote verursacht. Das war glaube ich in Rosenheim
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Re: Kulturspezifische Baustandards

Beitragvon Ari » So 10. Feb 2008, 14:00

Ich glaub du meinst Bad Reichenhall.

Wenn ihr noch mehr über Aufzüge redet trau ich mich bald im Ausland in keinen mehr (bin schonmal stecken geblieben, macht Spaß).
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Re: Kulturspezifische Baustandards

Beitragvon JustFrank » So 10. Feb 2008, 19:02

Keine Hektik, Aufzüge sind eines der sichersten Beförderungsmittel überhaupt. Selbst wenn etwas geschieht, kommen doch selten Menschen dabei zu Schaden. Und wenn, handelt es sich glücklicherweise meist nur um kleinere Verletzungen.

Und abstürzende Aufzüge gibt es nur im Kino. Die Dinger haben so viele Sicherheitseinrichtungen, dass die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Absturzes gegen Null tendiert.

Trotzdem können einem auf manchen Baustellen (auch in Deutschland) die Haare zu Berge stehen.

Überraschend gut sind Sicherheitsstandards in Osteuropa. Dort ist auch die sicherheitstechnische Ausbildung der Leute bemerkenswert.
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Re: Kulturspezifische Baustandards

Beitragvon emporda » Mo 11. Feb 2008, 12:03

JustFrank hat geschrieben:Keine Hektik, Aufzüge sind eines der sichersten Beförderungsmittel überhaupt. Selbst wenn etwas geschieht, kommen doch selten Menschen dabei zu Schaden. Und wenn, handelt es sich glücklicherweise meist nur um kleinere Verletzungen.

Und abstürzende Aufzüge gibt es nur im Kino. Die Dinger haben so viele Sicherheitseinrichtungen, dass die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Absturzes gegen Null tendiert.

Trotzdem können einem auf manchen Baustellen (auch in Deutschland) die Haare zu Berge stehen.

Überraschend gut sind Sicherheitsstandards in Osteuropa. Dort ist auch die sicherheitstechnische Ausbildung der Leute bemerkenswert.

Du solltest besser sagen Personenaufzüge.
Bei einem Bauaufzug mit Zahnstangenantrieb am Posthochhaus in Köln (etwa 42 Etagen) ist 1989 die Antriebswelle gebrochen. Abgerutscht aus etwa 30 Etagen, klatsch und 3 Mann waren tot - ehemalige Kollegen von mir.

Es war ein Konstruktionsfehler, bei der Berechnung der Antriebswelle hat jemand durch 2 geteilt anstelle mit 2 zu multiplizieren, die Welle der hölländischen Firma war um das 4-Fache zu schwach ausgelegt und niemand hat es gemerkt.
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Re: Kulturspezifische Baustandards

Beitragvon JustFrank » Mo 11. Feb 2008, 20:58

Sicher gibt es Ausnahmen und auch Schlampereien. Manchmal auch unvorhergesehene Materialermüdungen. Gerade Bauaufzüge waren lange Zeit eine rechtliche Grauzone. Erst mit der Betriebssicherheitsverordnung und der neuen Aufzugsrichtlinie ist da Klarheit geschaffen worden.

Kritisch sind bei älteren Anlagen vor allem falsche oder mit falschen Drehmomenten angezogene Schrauben. Das hat in Getrieben, Maschinen und an Schienenbefestigungen schon zu Schäden geführt. Die Materialermüdung setzt in diesen Fällen früher ein.

Ansonsten sind in einem Aufzug aber mehr Sicherungen, als in einer Uzi - Maschinenpistole. Fangvorrichtungen, Geschwindigkeitsbegrenzer, Lastwiegevorrichtungen, Lichtgitter und Positionsschalter sorgen da für die nötige Sicherheit. Deshalb sind Unfälle statistisch betrachtet sehr selten.
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Re: Kulturspezifische Baustandards

Beitragvon Ari » Mo 11. Feb 2008, 21:16

JustFrank hat geschrieben:Ansonsten sind in einem Aufzug aber mehr Sicherungen, als in einer Uzi -

Aber die Uzi auch nicht gerade sicher. Ich habe sie einige Zeit lang benutzt (schon wieder Bundeswehr erinnerungen, urgs) und kann mir wirklich was sichereres vorstellen als eine Uzi :)

Mal eine Frage (weils so schön reinpasst):
Wie oben zu lesen ist sind die Standards in Europa ja sehr unterschiedlich. Gibt es da keine (üblichen) harmonisierungsbestrebungen in der EU?
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Re: Kulturspezifische Baustandards

Beitragvon emporda » Mo 11. Feb 2008, 22:29

Ari hat geschrieben:Mal eine Frage (weils so schön reinpasst):
Wie oben zu lesen ist sind die Standards in Europa ja sehr unterschiedlich. Gibt es da keine (üblichen) harmonisierungsbestrebungen in der EU?

Bei Aufzügen und Rolltreppen weiß Frank sicher besser Bescheid, zumal hier 3 bis 5 Hesteller den Markt dominieren und ganz Europa und teilweise auch die Welt beliefern.

Beim Bauen ist das anders, da hat jedes Land andere Baugesetze und Traditionen. Ich kann mich entsinnen zu irgend einem Punkt in der Berliner Landesbauordnung gab es mal die 4.te Anpassungsänderung zur 22.zigsten Ausführungsverordnung des Landesbaugesetzes zum Dingsda (ich glaube es waren für Versammlungsräume und Gebäude mit Personen)

Was mir 2004 über den Weg gelaufen ist, war eine holländische Ausnahme zur EU-Elektronorm. Es war möglich für Kraftstrom noch alte 4-Leiter Kabel zu installieren und durch eine grün-gelb markierte Ader (normalerweise Erdung) von etwa 350 mm^2 einen Strom von 1000 Ampere zu schicken. Der Feuerwehrmann, der im Brandfall den 630 kVA Trafo mit der Axt isoliert, der macht das nie wieder. Ich konnte als Vertreter des Bauherrn nichts dagegen machen, nach Rücksprache mit der lokalen Feuerwehr von Soesterberg/Utrecht war es gesetzmäßig und abnahmefähig

Das Problem sind nicht so sehr die überregionalen Richtlinien, sondern die regionalen Ausnahmen, die ganze Bibliotheken füllen. Diese Ausnahme sind Gefälligkeitsverordnungen, die Handwerksammern und Hersteller über ihr Lobbykanäle durchdrücken. Ich habe selber einmal 4 Jahre in einem DIN-Normenauschauß gesessen, das funktioniert wie ein Reiseclub mit Damen auf Firmenkosten.
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Re: Kulturspezifische Baustandards

Beitragvon JustFrank » Di 12. Feb 2008, 19:20

Ja, eine Uzi sollte man besser nicht fallen lassen, selbst wenn alle Sicherungen drin sind.

Für Aufzüge gilt ein einheitliches Recht in Europa, die Aufzugsrichtlinie. Da ist die Harmonisierung auch relativ weit fortgeschritten und es gibt eine enge Zusammenarbeit mit den Notified Bodies (benannte Stellen, wie in Deutschland der TÜV oder die DEKRA).

Ich denke, die Big Four in der Branche (Otis, Schindler, Kone und Thyssen) sind da alle recht gut bei der Sache.
Es gibt aber seitens chinesischer Hersteller immer wieder Versuche, minderwertige Konstruktionen über fingierte Abnahmen in der EU in Verkehr zu bringen.

Ich hatte erst kürzlich so einen Fall, wo ein chinesischer Hersteller einen unserer Kunden gekauft hatte. Der Chinese hat ihm einen Aufzug geschenkt und eingebaut. Mit dem dem kleinen Haken, dass die Anlage durch eine benannte Stelle der EU oder durch ein Fachunternehmen, das nach der Aufzugsrichtlinie zertifiziert ist abgenommen werden müsste. Das ist notwendig, damit der Aufzug eine CE - Kennzeichnung bekommt und in Verkehr gebracht werden kann. Der Kunde hat sich also locker flockig ans Telefon gehängt und unser Verkaufsbüro in Hamburg kontaktet, ob ihm nicht einer für gutes Geld diesen Aufzug prüfen könnte. Unser Abnehmer hat auch zunächst zugesagt (Geschäft ist Geschäft), dann aber doch irgendwie Skrupel bekommen und sich an mich gewandt. Wir haben dann ein paar Tage später den Aufzug gemeinsam besichtigt. Das war echt ein innerer Reichsparteitag: Das Geschenk aus China hatte unter anderem keine automatische Türverriegelung, die Aufsetzpuffer waren falsch, und die Tragseile falsch berechnet. In der EU ist das Einschalten solcher Geräte mindestens eine Ordnungswidrigkeit, solange keiner dabei zu Schaden kommt.

Das Kalkül der Chinesen war dabei, eine gültige Inverkehrbringung in der EU zu erhalten. Hätten sie die bekommen, würden sie die Schrottaufzüge jetzt ohne weitere Prüfung in der gesamten EU verscheuern dürfen.

Solche Fälle sind mir auch von unseren Mitbewerbern bekannt.
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