tertz hat geschrieben:Schön, daß sowas hier zu lesen ist.
Ja. Jetzt können wir's mal richtig der Reihe nach aufdröseln.
tertz hat geschrieben:Ich habe den Eindruck, diese Aussage bringt einen der wichtigsten Unterschiede zwischen Atheisten und Gläubigen auf den Punkt.
Nein. Atheisten - zumindest Naturalisten - und Gläubige unterscheiden sich hierin nur in marginaler Weise.
Siehe unten.
tertz hat geschrieben:Bereitschaft, sich erforderlichenfalls von liebgewonnenen Überzeugungen zu verabschieden.
Diese Bereitschaft existiert bei Naturalisten nur in dem Maße, wie sie bei Gläubigen (im Rahmen ihrer Erfahrungsdimension) auch existiert. Die Basis-Vorgaben werden auf beiden Seiten nicht aufgegeben.
tertz hat geschrieben:Wie geht der Gläubige vor: "Dem Glauben geht die Umkehr voraus." und "sich überhaupt erst einmal auf eine religiöse Erfahrungsweise einlassen."
Im Gegenzug muss sich ein Naturalist nicht nur auf die apriorischen Vorgaben naturwissenschaftlichen Denkens einlassen, als da sind: Strikte Subjekt-Objekt-Aufspaltung, methodischer Atheismus, Anerkennung von Mathematik als Verifikationswerkzeug, eine Reihe von apriorischen Prämissen in Bezug auf die Physik, allgemeine Grundsätze wie zB Ockhams Rasiermesser, etc.
Hinzu kommen - nicht notwendigerweise für den Wissenschaftler, aber für den Naturalisten - die Anerkennung weiterer, nicht durch Erfahrung gedeckter Vorgaben, zB der Glaube, dass sich die Realität mit wissenschaftlichen Mitteln immer besser abbilden ließe, dass sich aus reiner Naturbetrachtung mit Vernunftmitteln bestimmte verbindliche ethische Werte ("Humanismus") ableiten ließen, die "Verontologisierung" des methodischen Atheismus in einen realen Atheismus (denn die agnostische Behauptung, man würde ja an Gott glauben, wenn er sich beweisen ließe, ist unerfüllbar, da Gott rational immer nur auf postulatorische Weise bejaht oder verneint werden kann, um Zirkelbezüge zu vermeiden)...
Langer Rede kurzer Sinn: Naturalisten sind gerne bereit, sich erforderlichenfalls von liebgewonnenen Überzeugungen zu verabschieden, wenn es nicht gerade um diese obigen handelt, die sich empirisch weder verifizieren noch falsifizieren lassen.
Auch sie fordern von ihren Adepten eine Art Umkehr; eine doppelte sogar: die Übernahme des wissenschaftlichen Denkens in Form einer Weltanschauung.
tertz hat geschrieben:Auf deutsch: Eine religiöse Annahme machen und anschließend Indizien für deren Rechtfertigung sammeln. Wenn überzeugende, überprüfbare Argumente gegen diese Annahme sprechen: einfach die Argumente verneinen, damit die Annahme weiterbestehen kann.
Nein, es ist noch extremer: In der religiösen Erfahrungsdimension wird zwar logisch gedacht und geschlossen, es wird - entgegen der hier weitverbreiteten Ansicht - auch aus Erfahrungen gelernt und Meinungen ändern sich, auch Glaubenssätze, aber die Regeln, nach denen all dies geschieht, sind ganz anders als in der Naturwissenschaft. Die religiöse Erfahrungsdimension macht nicht alles zum Objekt, wie die Wissenschaft, sondern sie ist erfüllt mit Subjekten. Alle Anschauungen (im kantschen Sinn) laufen in andere Richtungen. Es besteht nicht einmal eine ernsthafte Vergleichsmöglichkeit für den, der "nicht drin" ist.
tertz hat geschrieben:Wie kann man die Evolutionstheorie widerlegen? Ganz einfach: Eine alternative Theorie entwickeln, welche die beobachteten Phänomene besser, eleganter, ökonomischer, widerspruchsfreier erklärt.
Ok, das mache ich mal schnell: Das Leben entstand nicht auf der Erde, sondern auf einem anderen Himmelskörper, auf dem die Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie möglich ist und auch laufend geschieht. Diese Theorie kann belegt werden, sobald dieser Himmelskörper, so er noch existiert, gefunden ist. Weiter: Die Erde wurde mindestens einmal, vor ca. 650 Millionen Jahren von Aliens besucht, die versehentlich oder absichtlich, ihr Aquarium auskippten oder ihre Küchenabfälle, whatever. Anders kann man sich kaum erkären, wieso es vorher fast nur Einzeller gab und wieso sich danach keine neuen Tierstämme mehr bildeten. Belege für die Theorie: Wenn sich auf einem fremden Himmelkörper Fossilien von noch lebenden oder ausgestorbenen irdischen Tierstämmen finden. Oder: Wenn ein Himmelskörper entdeckt wird, auf dem permanent neue Tierstämme (Makroevolution) entstehen.
tertz hat geschrieben:Das macht mir persönlich wissenschaftliche Erklärungsmodelle und deren Vertreter so sympathisch: Ihr aufrichtiger Versuch, die Realität zu beschreiben, und dabei notfalls auch zehn Jahre Forschungsarbeit in den Mülleimer zu werfen, wenn sie widerlegt wurden. Gläubige tun sich da schwerer.
Aber es gelingt ihnen ebenso. Da darf ich die Protestanten lobend hervorheben, die zB die unselige Tradition, dass Frauen den Männern von Gott her untergeordnet seien, überwunden haben. Auch da wanderten nicht nur Jahrzehnte, sondern sogar Jahrtausende gelehrter Unterdrückungsliteratur ganz tief in den Archivkeller.
Kurzum: All dies ist es nicht, was Religiöse von Naturalisten unterscheidet. Die Naturalisten klammern sich mit der gleichen Entschiedenheit an ihre Vorgaben wie die Gläubigen an die ihren, und das, obwohl die Naturalisten
nicht nur glauben, sondern das Geglaubte auch wissen und beweisen müßten.
Den Haupt-Pluspunkt des Naturalismus gegenüber den Religionen hat Genosse Lenin mal (sinngemäß) formuliert: Die Maschinen beweisen die Wahrheit der Wissenschaft.
Das ist doch die Frage: Soll ich an etwas glauben, das nur mit schlichten Freuden aufwartet, das ganz langfristig ausgelegt ist und auch noch eine Menge Sozialkompetenz abverlangt? Oder sollte ich nicht lieber an etwas glauben, das mich fast dauernd mit den unterhaltsamsten Spielerein und Zersteuungen zulullt?
Da fällt die Wahl nicht schwer.
Grüßle,
FF