Qubit hat geschrieben:Wenn man die (natur)wissenschaftliche Erkenntnis als Basis für das Verständnis von Naturalismus versteht, dann stellt sich die Thematik etwas vielschichtiger dar
Sie führt nämlich mit der Quantentheorie (QT) zur Beschränkung des Verständnis raumzeitlicher Vorgänge als im "Ensemble" statistisches und im Einzelnen probabilistisches, objektiv indeterministisches Phänomen; d.h. dieses kann prinzipiell nicht raumzeitlich deterministisch beschrieben werden.
Weder der Naturalismus noch der Physikalismus ist unbedingt mit dem Determinismus verknüpft. Beide eng verwandten Ismen lassen Raum für probabilistische Kausalität.
(
http://plato.stanford.edu/entries/causa ... babilistic)
Das tut der Behauptung eines universellen kosmischen Kausalnexus, in den alle konkreten Entitäten eingebettet sind, keinerlei Abbruch.
Qubit hat geschrieben:Erhebt man nun die RaumZeit zu einem (philosophisch verstandenen) "absoluten Bezugsystem der Naturvorgänge", z.B. weil jeder uns bekannte Messvorgang raumzeitlicher Natur sein muss, dann erhebt man auch den "objektiven Zufall" zu einem absoluten Prinzip der Natur.
Charles Peirce hat die Bezeichnung "Tychismus" geprägt:
"Tychism, or the doctrine that absolute chance is a factor of the universe."(
http://www.helsinki.fi/science/commens/ ... chism.html)
Als Naturalist kann man Tychist sein, d.h. an das Vorkommen absolut-objektiver Zufallsereignisse glauben.
Qubit hat geschrieben:Dies war zB auch die Position der "Kopenhagener Deutung" ("Er/Sie/Es würfelt").
Es gibt allerdings auch Interpretationen der QT, welche diese Beschränkung auf raumzeitliche Beschreibung so nicht akzeptieren wollen, wenngleich sie die gleichen statistischen RaumZeit-Konfigurationen beschreiben müssen. Z.B. die "Bohmsche Mechanik" ist solcher Art und führt Elemente der Natur ein, die ausserhalb der RaumZeit liegen. "Moderne" QTs gehen genau in diese Richtung.
Ich verstehe von der QM im Allgemeinen und von der BM im Besonderen nicht allzu viel; aber was ich weiß, ist, dass Bohm zur Erklärung der Verschränkungsphänomene einen höherdimensionalen Raum postuliert, der den gewöhnlichen dreidimensionalen Raum umfasst. Es mag also durchaus sein, dass in der QT etwas postuliert wird, das den dreidimensionalen Raum bzw. die vierdimensionale Raumzeit überragt; aber selbst eine Raumzeit mit 100 Raum- und 25 Zeitdimensionen wäre ja nichts, das außerhalb, jenseits von Raum und Zeit
schlechthin existiert.
Die Sache ist allerdings doch problematischer, als es zunächst scheint.
Denn über die ontologische Interpretation der zentralen quantenphysikalischen Begriffe des Konfigurationsraumes und der Wellenfunktion herrscht große Unklarheit:
"[Objection:] [T]he wave function which is part of the state description of—and hence presumably part of the reality comprising a Bohmian universe, is not the usual sort of physical field on physical space to which we are accustomed, but a field on the abstract space of all possible configurations, a space of enormous dimension, a space constructed, it would seem, by physicists as a matter of convience." (p. 9)
"We propose that the reason, on the universal level, that there is no action of configurations upon wave functions, as there seems to be between all other elements of physical reality, is that the wave function of the universe is not an element of physical reality. We propose that the wave function belongs to an altogether different category of existence than that of substantive physical entities, and that its existence is nomological rather than material. We propose, in other words, that the wave function is a component of physical law rather than of the reality described by the law." (p. 10)
(Dürr, Detlef, Sheldon Goldstein, and Nino Zanghi. "Bohmian Mechanics and the Meaning of the Wave Function." In
Experimental Metaphysics: Quantum Mechanical Studies for Abner Shimony, Volume One (Boston Studies in the Philosophy of Science, Vol. 193), edited by Robert S. Cohen, Michael Horne, and John Stachel, 25-38. Dordrecht: Kluwer Academic, 1997.)
Sind der Konfigurationsraum und die Wellenfunktion Teile der konkreten, physischen Realität oder abstrakte mathematische Entitäten oder gar nichts weiter als nützliche Fiktionen?
Die Wellenfunktion als eine nichtphysische "nomische" Entität, d.h. als eine Art Naturgesetz, wäre abstrakt.
Dagegen fasst Bohm die Wellenfunktion als eine konkret-physische Entität auf, d.h. für ihn ist sie ein "Führungsfeld", das die Teilchenbewegungen lenkt:
"What the physical world consists of besides particles and besides force fields, on this theory, is (oddly) wave functions. That's what the theory requires in order to produce its account of the particle motions. The quantum-mechanical wave functions are conceived of in this theory as genuinely physical things, as something somewhat like force fields (but not quite), and anyway as something quite distinct from the particles; and the laws of the evolutions of these wave functions are stipulated to be precisely the linear quantum-mechanical equations of motion (always, period; wave functions never collapse on this theory); and the job of these wave functions in this theory is to sort of push the particles around (as force fields do), to guide them along their proper courses; and there are additional laws in the theory (new ones, un-quantum-mechanical ones) which stipulate precisely how they do that.
([Footnote 2]: Perhaps all this is worth spelling out in somewhat more pedantic detail. Here's the idea:
What quantum mechanics takes the wave function of a particle to be is merely a certain sort of mathematical representation of that particle's state.
What this theory [= Bohmian mechanics] takes the wave function of a particle to be, on the other hand, is a certain sort of genuinely physical stuff.
And the physical properties of such wave-functions-considered-as-stuff are (as with force fields) their amplitudes at every point in space.
And those amplitudes will invariably have determinate values (just as they invariably do, as purely mathematical objects, in quantum mechanics).)"(Albert, David Z.
Quantum Mechanics and Experience. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1992. pp. 134-5)
Qubit hat geschrieben:Aus naturalistischer Sicht besteht nun das Dilemma, jene nicht raumzeitlichen Entitäten überhaupt als Natur verstehen und beschreiben zu können, insofern unsere gesamte Sensorik wie wohl auch mentalen Vorgänge wie der Messvorgang in der RaumZeit "hängen".
Die entscheidende Frage ist, ob der Naturalist durch die Quantenphysik tatsächlich genötigt wird, Dinge als real anzuerkennen, die nicht Teil eines raumzeitlichen Systems sind. — Ich bezweifle das, zumal ja unter den Physikern selbst keine Einigkeit über die ontologische Interpretation der Quantenmechanik besteht.
(Und zumindest die Bohm'sche Interpretation der Wellenfunktion als eines realen physischen Feldes bereitet dem Naturalismus und dessen "Spatiotemporalismus" keinerlei Probleme.)
Qubit hat geschrieben:Myron hat geschrieben:Als Supernaturalist kann man allerdings behaupten, dass auch Seelen, Geister, Gespenster und unpersönliche nichtphysische Mächte Teil des raumzeitlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs sein können bzw. sind.
Da gibt es für mich 2 Möglichkeiten:
1. Sie _verhalten_ sich wie Natur und wirken so. Dann _sind_ sie Natur ("Duck-Typing")
2. Sie _verhalten_ sich nicht wie Natur aber wirken auf diese. Dann setze ich voraus, dass sie keine bekannten Naturgesetze aushebeln können, sich somit unbekannter Naturgesetze bedienen müssen. Diese wiederum "infizieren" sie mit Natur, so dass uns ihre mögliche Übernatürlichkeit rein aus Unwissenheit als Trugschluss erscheint, der durch naturwissenschaftliche Forschung korrigiert werden kann (resp. auch vorher schon zu vermeiden ist).
Es kommt darauf an, wie weit man den Begriff des Naturgesetzes fasst: Wenn man darunter nur die rein physikalischen Gesetze versteht, dann würden hyperphysische, d.i. rein geistige Wesen, die innerhalb der Raumzeit existieren, darunter gar nicht fallen und sie somit auch nicht "verletzen" können. Wenn aber auch (mögliche) hyperphysikalische Gesetze, d.i. psychophysikalische oder rein psychologische Gesetze zu den Naturgesetzen gezählt werden, dann würde auch das Wirken spiritueller Individuen zum raumzeitlichen Kausalnexus gehören.