Atanar hat geschrieben:Wie kommt man darauf das das Reproduktionsinteresse von der Fitness losgelöst sein sollte? Für mich ist dieser Gedankengang zweifelhaft, da Verhaltensweisen ja nicht "ausgesucht" werden,
Gemäß der Systemischen Evolutionstheorie braucht es für eine Handlung
a) einen Impuls, die Handlung auszuführen und
b) die Fähigkeit, die Handlung auszuführen.
a) gilt in diesem Zusammenhang als Interesse, b) als Fitness.
Beispiel:
Die Personen A und B können Klavier spielen. A hat spät angefangen und ist ziemlicher Anfänger, setzt sich aber jede freie Minute an das Piano. B lernte als Kind Piano, kann die Beethoven-Sonaten fast perfekt spielen, setzt sich aber nur noch am Wochenende für 2 Stunden ans Klavier. Dann hat A das höhere Klavierspielinteresse, aber die geringere Klavierspielfitness als B.
Ganz ähnlich sieht das in Bezug auf die Reproduktion aus. Im Grunde wird der Impuls (d. h. a) bei den meisten Lebewesen durch eine Homöostasefunktion ausgelöst. Irgendwann ist ein Schwellwert überschritten, und dann erfolgt der Impuls zur Fortpflanzung. Seit der freie Wille des Menschen bestritten wird, könnte man sagen, dass auch die angeblich bewussten menschlichen Entscheidungen nur eine komplexere Variante solcher Homöostasefunktionen sind. Man könnte MSS (Jenseits von Gut und Böse), Wuketits (Der freie Wille. Die Evolution einer Illusion) und andere dementsprechend interpretieren.
Allerdings sollte man wissen, dass die Systemische Evolutionstheorie den Begriff Reproduktion sehr weit fasst. Es geht nämlich hierbei generell um die Reproduktion von Kompetenzen, die nicht nur in den Genen, sondern in Gehirnen, Datenbanken, Büchern etc. gespeichert sein können. Wenn ein Mensch ein wissenschaftliches Buch schreibt oder Kinder unterrichtet, dann hat er in dem Sinne auch ein Reproduktionsinteresse, was sich aber auf nichtgenetische Kompetenzen bezieht. Die Systemische Evolutionstheorie löst sich folglich von der engen Gen-Beschränkung. Für sie geht es nur um Information.
Ferner kann man den Begriff Reproduktionsinteresse auch auf Superorganismen anwenden. Man betrachte zwei Unternehmen A und B. Wenn A viel erfolgreicher am Markt ist, die höheren Gewinne erzielt, den höheren Börsenwert hat etc., dann ist es gemäß Systemischer Evolutionstheorie auf dem Markt (dem Lebensraum) fitter als B. Wenn aber A alle Gewinne für die Dividende verwendet und nichts investiert, B dagegen den gesamten Gewinn fast ausschließlich in die Forschung & Entwicklung (= Reproduktion) steckt, dann hat B das höhere Reproduktionsinteresse. Auch hier sieht man: Fitness und Reproduktionsinteresse sind zwei unterschiedliche Dinge. Fitness ist sozusagen die Anpassung, das Reproduktionsinteresse steht dagegen für das Bestreben, die Anpassung zu erhalten. Erst mit einem Reproduktionsinteresse werden Individuen zu Lebewesen.
Das war übrigens ein Hauptproblem bisheriger Evolutionstheorien. Diese versuchten u.a. die Evolution nichtbiologischer Entitäten (z. B. wissenschaftlicher Hypothesen) zu beschreiben. Gemäß der Systemischen Evolutionstheorie können dagegen nur Populationen, deren Individuen Reproduktionsinteressen besitzen (also quasi lebendig sind) eigendynamisch evolvieren.
Nun ist aber bei Sozialstaaten das folgende Problem aufgetreten: In solchen Gebilden arbeiten alle für den Selbsterhalt aller. Hierdurch verliert die individuelle Fitness an Bedeutung. Richard Dawkins beschreibt das für menschliche Wohlfahrtsstaaten so (Das egoistische Gen, S. 309f.):
"Nun ist, was den modernen, zivilisierten Menschen betrifft, folgendes geschehen: Die Größe der Familie ist nicht mehr durch die begrenzten Mittel beschränkt, die die einzelnen Eltern aufbringen können. Wenn ein Mann und seine Frau mehr Kinder haben, als sie ernähren können, so greift einfach der Staat ein, das heißt der Rest der Bevölkerung, und hält die überzähligen Kinder am Leben und bei Gesundheit. Es gibt in der Tat nichts, was ein Ehepaar, welches keinerlei materielle Mittel besitzt, daran hindern könnte, so viele Kinder zu haben und aufzuziehen, wie die Frau physisch verkraften kann. Aber der Wohlfahrtsstaat ist eine sehr unnatürliche Sache. In der Natur haben Eltern, die mehr Kinder bekommen, als sie versorgen können, nicht viele Enkel, und ihre Gene werden nicht an zukünftige Generationen vererbt. (...) Doch man kann keinen unnatürlichen Wohlfahrtsstaat haben, wenn man nicht auch unnatürliche Geburtenkontrolle hat, andernfalls wird das Endergebnis noch größeres Elend sein, als es in der Natur vorherrscht. Der Wohlfahrtsstaat ist vielleicht das größte altruistische System, das das Tierreich je gekannt hat. Aber jedes altruistische System ist von Natur aus instabil, weil es dem Missbrauch durch egoistische Individuen offensteht. Die einzelnen Menschen, die mehr Kinder bekommen, als sie versorgen können, sind in den meisten Fällen wahrscheinlich zu unwissend, als dass man sie böswiller Ausnutzung beschuldigen könnte. Mächtige Institutionen und führende Persönlichkeiten, die sie bewusst dazu ermutigen, scheinen mir von diesem Verdacht weniger frei zu sein."Übersetzt heißt das: Der Reproduktionserfolg ist in solchen Sozialstaaten einzig eine Folge des Kinderwunsches (des Reproduktionsinteresses), und nicht mehr der Fitness. Jeder kann im Grunde so viele Kinder haben, wie er haben möchte.
Die Demografie hat durch die ökonomische Theorie der Fertilität noch mehr Licht ins Dunkeln gebracht: Der Kinderwunsch fällt häufig durch eine ökonomische Abwägung, bei der die Opportunitätskosten von Kindern eine entscheidende Rolle spielen. Der Kinderwunsch (das Reproduktionsinteresse) wird also maßgeblich durch die soziale Rolle (z. B. das berufliche Engagement), und kaum noch durch die individuelle genetische Fitness bestimmt.
Das stellt einen Widerspruch zu Grundannahmen der Darwinschen Evolutionstheorie dar. Und: Dieser Widerspruch besteht nicht nur in modernen menschlichen Sozialstaaten, sondern auch in einigen Insektensozialstaaten (z. B. Honigbienen).
Schließlich: Über das Reproduktionsinteresse lässt sich den Individuen eines Sozialstaates unmittelbar Altruismus zuweisen. Ein Individuum mit einem niedrigen Reproduktionsinteresse verhält sich in dem Sinne altruistisch, eins mit einem hohen Reproduktionsinteresse dagegen egoistisch. Die Systemische Evolutionstheorie besitzt folglich eine integrierte soziale Komponente. Sie ist Sozialstaat-tauglich, die Theorie der egoistischen Gene dagegen nicht. Diese nimmt nämlich an, dass alle Gene und damit ihre Überlebensmaschinen gleichermaßen egoistisch sind. Folglich muss sie soziales Verhalten als gen-egoistisches Verhalten interpretieren. Die Systemische Evolutionstheorie hält dies für viel zu limitierend. Sie lässt zu, dass sich Individuen originär altruistisch verhalten, z. B. als Teil ihrer sozialen Rolle. Dieser Altruismus muss nicht einmal auf genetischen Merkmalen beruhen. All das ist mit Darwin und Dawkins nicht vereinbar.
Atanar hat geschrieben:ich halte die "Memetik" für wahrscheinlicher.
Ich halte die Memetik für Unsinn. Sie ist mit einem naturalistischen Weltbild nicht vereinbar.
Bunge+Mahner („Über die Natur der Dinge“) schreiben dazu:
S. 115: "Die begriffliche Existenz, die wir logischen, mathematischen, mythischen oder anderen Objekten zuschreiben, besteht in ihrer Möglichkeit, von lebenden Wesen gedacht zu werden."
S. 125: "Da Ideen im Gegensatz zu Organismen weder lebendig sind noch eine eigenständige Existenz haben, sind sie weder selbstreplizierend noch evolutionsfähig."
S. 126: "Ein jüngster metaphorischer Ansatz schließlich ist die Theorie der Meme: die Memetik (...). Dabei ist das Wort 'Mem' lediglich ein überflüssiges Synonym für 'Idee' (...). In Analogie zu Genen werden Ideen (Meme) als selbstreplizierende Entitäten aufgefasst, die Gehirne gleichsam als geistige Viren parasitieren und so weitergegeben werden. Die Anhänger der Memetik versprechen sich von ihrem Ansatz eine selektionstheoretische Erklärung der Weitergabe und Ausbreitung von Ideen. Die Memetik ist jedoch zum einen konzeptuell so unklar, dass sie an Sinnlosigkeit grenzt, zum anderen ignoriert sie praktisch die gesamte psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung zur menschlichen Kommunikation (...). Idealistische Fantasien werden nicht dadurch akzeptabler, dass sie in evolutionsbiologischem Gewande daherkommen."
Selbstständig evolvierende Ideen sind mit den Gesetzen der Physik unvereinbar. Auch weisen andere Autoren (z.B. Richersen/Boyd) darauf hin, dass sich etwa neue Melodien dadurch entstehen, dass Komponisten Melodien komponieren. Dies ist exakt die Sichtweise der Systemischen Evolutionstheorie: Komponisten komponieren Melodien aus den gleichen Gründen, aus denen Nachtigallen neue Melodien ausprobieren. Sie haben ein Reproduktionsinteresse (oder Selbsterhaltungsinteresse) und wollen gefallen (siehe Gefallen-wollen-Kommunikation der Systemischen Evolutionstheorie).
Atanar hat geschrieben:Am meisten stört mich, das er bei
seiner Kritik am "Egoistischen Gen" einfach behauptet das Dawkins Theorie falsch sein, mit der Begründung, das es in der Soziologie ein anderes Modell gebe.
Vor allem glaubt er die Darwinistische Evolutionstheorie gerade am Beispiel des Menschen korrigieren zu wollen, wobei es ja völlig klar sein muss, das die Evolution längst nicht mehr auf den Menschen zutrifft, da dieser Lösungen für die Verknappung gefunden hat.
Es tut mir Leid das sagen zu müssen, aber meiner Meinung nach bringt er einfach keine stichhaltigen Beweise für seine Aussagen, auch wenn sein Gedankengang interessant ist.
Die Theorie der egoistischen Gene behauptet, dass sie allgemein gültig ist. Sie behauptet, das Leben (die Welt) generell erklären zu können. Sie beruht auf der Verwandtenselektion, einem ökonomischen Gen-Konzept. Die Verwandtenselektion versucht z. B. die Organisationsweise von Insektensozialstaaten zu erklären. Das scheitert aber bereits bei den Honigbienen (Voland: „Grundriss der Soziobiologie“, 2. Auflage, 2000, S. 76). Die „soziologische“ Erklärung der Systemischen Evolutionstheorie ist dagegen verblüffend einfach:
In einem Bienenstaat werden alle Aufgaben von den Weibchen (Königinnen, Arbeiterinnen) erledigt. Die männlichen Drohnen dienen nur der Fortpflanzung. Es gibt sie bei der westlichen Honigbiene ohnehin nur von April bis Juni. Deshalb denken wir sie uns einfachheitshalber weg. Ein Bienenstaat ist also weiblich. Stellen wir uns jetzt vor, die Königinnen verlangten Gleichberechtigung, und zwar exakt so wie in menschlichen Gesellschaften: sie wollten ebenfalls von Blüte zu Blüte durch die wunderschöne Natur fliegen und köstlichen Nektar und Blütenpollen sammeln, d.h. eine Arbeiterin und nicht länger die 'Queen' von jemand anderem sein. Jede Biene sollte ihre eigenen Eier legen dürfen, und zwar so viele, wie sie haben möchte. Man überlegte sich, wie man dafür die Vereinbarkeit von Nektarsammeln und Eierlegen verbessern könnte.
Einfache Frage: Könnte dieses Modell funktionieren?
Die Antwort der Systemischen Evolutionstheorie ist: Der Insektensozialstaat würde dann an den Opportunitätskosten für Nachkommen zugrunde gehen. Denn es würden diejenigen die meisten Nachkommen haben können, die die wenigste soziale Arbeit leisten. Altruistisches Verhalten hätte auf Dauer keine Chance mehr, und der Sozialstaat löste sich auf.Mit anderen Worten: Die Arbeitsteilung zwischen Arbeiterinnen und Königinnen ist eine organisatorische Notwendigkeit. Dabei sind jedoch unterschiedliche Varianten denkbar: 1 Königin und viele Arbeiterinnen, mehrere Königinnen, die Königinnen paaren sich mit einem Männchen, die Königinnen paaren sich mit vielen Männchen. Entscheidend ist einzig die strikte Arbeitsteilung zwischen Arbeiterinnen und Königinnen. Die Verwandtschaftsverhältnisse sind dagegen egal.
Für den Menschen gilt die Theorie der egoistischen Gene sowieso nicht. Indirekt gibt dies Dawkins auch zu, in dem er behauptet, der Mensch und nur der Mensch könne sich dem Diktat seiner egoistischen Gene entziehen. Warum gesteht man nicht auch anderen Wissenschaftlern zu, sich so beliebig und vor allem unbelegt zu äußern?
Dein Satz
“dass die Evolution längst nicht mehr auf den Menschen zutrifft, da dieser Lösungen für die Verknappung gefunden hat“ verstehe ich leider überhaupt nicht. Wie kann die Evolution nicht mehr für den Menschen zutreffen? Das wäre ein Wunder. Und was hat das mit Verknappung zu tun.