ujmp hat geschrieben:In mir streubt sich immer etwas, wenn Menschen meinen, man könnte ein beliebig aufgestelltes Modell (z.B. Aberglaube) gleich setzen mit Modellen, die auf sorgfältiger, fleißiger Beobachtung der Natur beruhen. Aber natürlich darf man auch mal spinnen...
Ich verstehe Dein Unbehagen. Es scheint dem "gesunden Menschenverstand" zu widersprechen, wenn Natureignisse (und: Kulturgeschichte nehme ich jetzt kurzerhand auch einmal als Teil der Naturgeschichte) nicht auf beobachtbare, wenigstens dem Prinzip nach beobachtbare Ursachen zurückgeführt werden, sondern auf Geister, die irgendwo in den Büschen hausen.
Die Angst oder das Unbehagen vor exotischen, wissenschaftsfernen Konzeptionen der Wirklichkeit rührt m.E. von einer bestimmten Anwendung des Modellbegriffs. Für gewöhnlich sagt man, dass die Wissenschaft bestimmte Naturvorgänge im Modell abbildet, nachbaut, sie
modelliert. Zwischen Natur und dem - nachträglich gewonnenen - Modell der Wissenschaftler besteht - idealerweise - Kongruenz: bei der Betrachtung des Modells können wir im Kleinen studieren, wie es im Grossen ist.
Man kann den Modellbegriff aber auch auf andere Weise verwenden: Die Welt, in der wir leben, besteht aus den Modellen einer Vielzahl unterschiedlichster Theorien und Vorstellungen. Nicht die Theorien sind es, die die Natur abbilden - umgekehrt: die Natur bildet die Theorie ab. Die Natur - oder ein bestimmter Ausschnitt der Natur - ist das Modell einer bestimmten Theorie. Dieses Modell exemplifiziert den empirischen Gehalt einer empirischen Theorie. Nicht unsere Theorien und kausalen Überzeugungen sind Modelle für Planetenbewegungen, Entwicklung der Arten usw., sondern: die Planetenbewegungen, die Entwicklung der Arten sind Modelle, die wir mit den dazu passenden Theorien erst gebaut haben. Die Natur ist immer nur Modell für eine bestimmte Theorie und wir können die Welt um uns herum nur durch die Brille einer Theorie sehen: Einmal war ein fallender Stein eine Pendelbewegung (in der Keplerschen Astronomie), dann war ein fallender Stein ein paar Jahre später ein Modell für die Newtonsche Himmelsmechanik oder kurz: eine Newtonsche Himmelsmechanik. Kurz: die Theorie geht der Natur voraus und die Natur beugt sich der Theorie.
Vor diesem Hintergrund bereitet es mir keine Schwierigkeiten mehr, kausale Überzeugungen anzuerkennen, die z.B. Krankheiten auf Schadenszauber zurückführen. "Anerkennen" meint dabei, daß ich mir vorstellen kann, in einer Welt zu leben, die kohärent als durch Magie und Zauberei verursacht gedacht wird. Wenn ich so einer wäre, dann würde ein beliebiges Naturereignis modellhaft eine magische Beschwörung oder einen Schadenszauber abbilden. Mit dieser Weltsicht könnte ich prima leben. Warum auch nicht? Denn der theoretische Rahmen, innerhalb dessen die Welt modelliert wird, ist ja nie das ganze, ist niemals die ganze Welt. Darwin, Newton, Einstein, Tod und Teufel - all diese Dinge bilden immer nur einen möglichen
Orientierungsrahmen für die Menschen. Daneben gibt es und gab es immer und allerorten so etwas wie einen common sense, gab es den pragmatischen
shop keeper von Karl Marx.