Warum gibt es Religionen?

Warum gibt es Religionen?

Beitragvon msitu » Sa 3. Jul 2010, 05:23

Es gibt nahezu keine Gesellschaft, in der keine Religion entstanden ist.
Viele wiedersprechen sich und dadurch kann ja keine absolut recht haben.
Was ist somit der (evolutionäre) Sinn von Religion?
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon stine » Sa 3. Jul 2010, 07:27

So ein ähnlicher Thread existiert schon: Religionsnutzen?.
Vielleicht ist dort schon so etwas wie eine Antwort auf deine Frage?
Religionen gibt es weil sie für manche von Nutzen waren, sie sind kulturelle Einrichtung, seelische Stärkung, persönicher Sinn eines irdischen Lebens usw.
Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Religionen. Das störte niemanden, bevor es Flugzeuge und Fernsehen gab! :mg:

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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Sa 3. Jul 2010, 11:07

stine hat geschrieben:Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Religionen. Das störte niemanden, bevor es Flugzeuge und Fernsehen gab!
Klar es gab ja keine religiös begründeten Kriege bevor das Flugzeug erfunden wurde, gell? :santagrin:
Religion dürfte einer sehr früher Grund für Mord, Totschlag und Krieg gewesen sein, nach dem Kampf ums Fressen. Da allerdings einen - noch dazu evolutionären - Sinn zu suchen ist eigentlich schon wieder religiöse Verblendung.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon stine » Sa 3. Jul 2010, 14:32

1von6,5Milliarden hat geschrieben:[Religion dürfte einer sehr früher Grund für Mord, Totschlag und Krieg gewesen sein, nach dem Kampf ums Fressen.
Es waren immer Kämpfe um Rohstoffe, Land und Macht, ganz egal, welche Religion gelebt oder welcher Gott vorgeschoben wurde. Kriege religös zu erklären ist die einfachste Art, Mitläufer für den Machtkampf zu gewinnen.
Gotteskrieger aller Herren Länder sind genauso Krieger und Machtsklaven, wie andere Soldaten auch, egal, ob sie einem Dikatator, einem König oder einem Kardinal dienlich waren (oder sind).
Die Religion ist nebensächlich und befriedigt auf einfachste Weise den Erklärungsnotstand.

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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Pete » So 4. Jul 2010, 15:38

Der Griff nach Rohstoffen und Macht erklärt aber nicht die Auswirkungen in Kriegen wie z.B. Völkermord, ethnische Säuberung usw. usf. wie zuletzt z.B. erlebt im eh. Jugoslawien. Dort wurden bewusst Muslimas vergewaltigt, erniedrigt und verjagd um so den Islam in regionalen Gebieten auszulöschen.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon stine » So 4. Jul 2010, 16:09

Ich denke, es geht um Kulturen. Nicht um Religion im herkömmlichen Sinn.
Es ist Stammeskrieg im weitesten Sinn.

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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Nanna » So 4. Jul 2010, 18:20

stine hat geschrieben:Es ist Stammeskrieg im weitesten Sinn.

Mein Kompliment stine, ich glaube, dass du einiges durchblickst, auch wenn man dir das wegen deiner Nähe zur Religion als Kulturphänomen hier nicht immer zugesteht. Musste ich einfach mal wieder sagen. ;-)
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Bionic » So 4. Jul 2010, 18:31

msitu hat geschrieben:Viele wiedersprechen sich und dadurch kann ja keine absolut recht haben.
Was ist somit der (evolutionäre) Sinn von Religion?

Was hat das Sich Wiedersprechen, mit einem möglichen evolutionären Nutzen zu tun??
Ich denke Religionen sorgten für einen Zusammenhalt. Außerdem sucht das Gehirn immer nach Erklärungen.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Arathas » Mo 5. Jul 2010, 09:40

msitu hat geschrieben:Was ist somit der (evolutionäre) Sinn von Religion?


Falls (und ich halte das für ein sehr großes FALLS) Religionen irgendwann mal einen evolutionären Sinn hatten, dann würde ich den am ehesten mit dem Blinddarm vergleichen. Im Zuge der Evolution werden viele Dinge überflüssig, die irgendwann mal nützlich waren. Dennoch schleppen die Menschen sie weiter mit sich herum (wie den Blinddarm oder eben Religiösität), auch wenn man sie nicht mehr braucht. Manchen wird ihr Blinddarm entfernt, und manche werden Atheisten oder Agnostiker. ;-)
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon ganimed » Mo 5. Jul 2010, 20:37

Der Hang des Menschen zu religiösen Vorstellungen scheint auch mir evolutionär eher wenig Nutzen zu haben.

Viel Nutzen hat aber bestimmt all das, was der frontale Kortex sonst so macht. Sinn suchen, Absichten unterstellen, Dinge personifizieren, soziale Bindungen eingehen können etc.

Und das mit der Religion ist nur eine Nebenwirkung, eine unbeabsichtigte Überfunktion unseres Hypersozialhirns. Da sehen wir einen Sinn, wo es keinen gibt. Da personifizieren wir das Schicksal und unterstellen eine Absicht und wir ordnen uns unter und stellen eine soziale Verbindung her zum unsichtbaren, sinnvollen, absichtsvoll gütigen und allmächtigen Vater. Bisher hat die evolutionäre Selektion gegen diese Fehlfunktion noch nichts einzuwenden gehabt.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Nanna » Mo 5. Jul 2010, 22:22

Zumal ein übergeordneter Sinn ja durchaus sinnvoll sein kann, um eine Gruppe zusammenzuhalten. Und im Zweifel ist da ein Schlachtruf wie "Gott will es" einer tumben Masse auch wesentlich einfach einzubläuen als "Wir führen Krieg gegen die Bewohner dieses Landes, weil wir es auf ihre Ressourcen abgesehen haben, von innenpolitischem Versagen ablenken wollen, einem gegnerischen Angriff zuvorkommen wollen und unsere Kultur für überlegener halten, außerdem könnten wir ein paar neue Konsumenten und Absatzmärkte und natürlich das Prestige des Siegers gut gebrauchen." Oder würde jemand in die Schlacht ziehen und dabei "63% der wahlberechtigten Bürger wollen es!" singen? ;-)
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Dissidenkt » Do 8. Jul 2010, 22:40

Die Frage nach einem Schöpfer ist unauflöslich mit der Evolution des Bewusstseins verbunden.
Ein SELBST-Bewusstsein MUSS sich irgendwann fragen wie es entstanden ist. Diese drängende und nicht zu beantwortende Frage wird dann mit dem Platzhalter "Gott" und später mit Inhalt gefüllt.

Religionen wiederum haben sich deshalb durchgesetzt, weil sie gemeinschafts- und identitätsstiftend sind und dem Sterben im Krieg einen Sinn geben konnten.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon apfelsine » Mo 16. Aug 2010, 22:22

Religionen bieten Erklärungen für Vorkommnisse, die mit den vorhandenen Mitteln nicht erklärbar sind. Sie vermitteln vermeintlich Sicherheit indem man den / die Götter durch Opfer, Gebete ... für sich einnimmt. Sie bieten die Aussicht auf ein glückliches Leben nach dem Tod für diejenigen, die im Leben vielleicht nicht so viel Glück und Anerkennung geniessen. Und sie bieten Trost an.

Für die Vertreter der Religionen bieten sie ein hervorragendes Mittel Macht auszuüben. Ausserdem lassen sich mit Religionen gesellschaftliche Regeln begründen.

Für diesen Zweck gibt es heutzutage die Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Psychotherapien.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon laie » Fr 20. Aug 2010, 22:51

apfelsine hat geschrieben:Für diesen Zweck gibt es heutzutage die Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Psychotherapien.

und was, wenn Vertreter dieser Wissenschaften religiös sind? Zum Beispiel die Jesuiten. Ich meine, die naturalistische Deutung von einem Phänomen wie der Religion und religiösen Erfahrungen geht komplett an des Pudels Kern vorbei: Vom naturalistischen Standpunkt aus gesehen, wollen Religionen angeblich immer irgendetwas erklären (Krankheit, Blitz und Donner, die Planetenbewegungen etc.). Das mag vielleicht manchmal und in einigen Fällen so sein. Aber es hilft nicht recht weiter, erst selbst den Spielplatz und und die Spielregeln aufzustellen (z.B.: den Darwinismus mit seiner Apparatur aus Selektion und Innovation) und dann dem jeweiligen "Gegner" ein Versagen beim eigenen Spiel zu unterstellen. Das ist selbstreferentiell und in meinen Augen dogmatisch. Das wäre etwa so, als würde ein Gläubiger einem Naturalisten unterstellen, dieser betreibe Wissenschaft nur, um Gott nicht zu finden.

Der Gläubige spielt nicht auf dem naturalistischen Spielplatz. So kommen Naturalisten dem Phänomen der Religion nicht näher (wenn es sie denn tatsächlich interessiert). Es gibt unter sehr gläubigen Menschen herausragende Wissenschaftler. Das muss kein Widerspruch sein. Ich denke eher, Stine hat einen Punkt, wenn sie ein bestimmtes Grundbedürfnis des Menschen anspricht - das Bedürfnis nicht nach einer Erklärung, warum die Banane krumm ist, sondern nach Ruhe, nach Selbsterfahrung, nach un(ver)mitteltem Erleben.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon laie » Fr 20. Aug 2010, 23:09

Nanna hat geschrieben:Zumal ein übergeordneter Sinn ja durchaus sinnvoll sein kann, um eine Gruppe zusammenzuhalten. Und im Zweifel ist da ein Schlachtruf wie "Gott will es" einer tumben Masse auch wesentlich einfach einzubläuen als "Wir führen Krieg gegen die Bewohner dieses Landes, weil wir es auf ihre Ressourcen abgesehen haben, von innenpolitischem Versagen ablenken wollen, einem gegnerischen Angriff zuvorkommen wollen und unsere Kultur für überlegener halten, außerdem könnten wir ein paar neue Konsumenten und Absatzmärkte und natürlich das Prestige des Siegers gut gebrauchen." Oder würde jemand in die Schlacht ziehen und dabei "63% der wahlberechtigten Bürger wollen es!" singen? ;-)


"Gott will es" habe ich nicht gehört, als sich die Amerikaner aufmachten, Irak und Afghanistan zu befrieden. Wohl aber, dass der Krieg unter den wahlberechtigten Bürgern der USA eine Mehrheit vermuten liess. Und dass der Vietnamkrieg auch deshalb beendet wurde, weil er von der amerikanischen Öffentlichkeit nicht mehr getragen wurde, was im Umkehrschluss bedeutet, dass davor recht viele "nieder mit dem Kommunismus" gebrüllt haben.

An Parolen fehlt es leider nie. Es ist naiv zu glauben, mit dem Verschwinden der Religionen würde automatisch eine bessere Welt einhergehen. Den grössten Blutzoll in der Geschichte der Menschheit haben atheistische, naturalistische und materialistische Ideologien während der kurzen Zeit des 20. Jahrhunderts gefordert. Das sollte man nicht einfach so vergessen.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Klaus » Sa 21. Aug 2010, 10:28

laie hat geschrieben:Den grössten Blutzoll in der Geschichte der Menschheit haben atheistische, naturalistische und materialistische Ideologien während der kurzen Zeit des 20. Jahrhunderts gefordert. Das sollte man nicht einfach so vergessen.


Den gleichen Schwachsinn verkünden Ratzinger und Co. Müssen wir uns von solchen idiotischen, provokanten Äusserungen eigentlich behelligen lassen?
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Dissidenkt » Sa 21. Aug 2010, 11:34

Klaus hat geschrieben:
laie hat geschrieben:Den grössten Blutzoll in der Geschichte der Menschheit haben atheistische, naturalistische und materialistische Ideologien während der kurzen Zeit des 20. Jahrhunderts gefordert. Das sollte man nicht einfach so vergessen.


Den gleichen Schwachsinn verkünden Ratzinger und Co. Müssen wir uns von solchen idiotischen, provokanten Äusserungen eigentlich behelligen lassen?


Ein Kern Wahrheit steckt trotzdem darin! (trotz des bösartigen Hinweises auf Ratzinger :mg: )
Ich will die Historie gar nicht diskutieren, jedem dürfte klar sein, dass die Nazis allesamt christlich sozialisiert waren.

Dennoch sehe ich eine Notwendigkeit in den tradierten Religionen. Sie haben ein Potential zur Zivilisierung, das zumindest für ungebildete Menschen ein moralisches Grundgerüst bietet. Würde der "Glaube" von heute auf morgen ersatzlos aus der Welt verschwinden, wäre das alles andere als lustig.

Ich halte die Religionen für einen nicht nur zwangsläufigen, sondern auch aus humanistischer Sicht notwendigen Schritt in der Evolution menschlichen Bewusstseins und humanistischen Handelns.
Was wir brauchen ist ein nächster Entwicklungsschritt. Eine Philosophie, die Religionen vereinigt und im besten Fall überflüssig macht. Diese Philosophie/Weltsicht/Religion muss ein tragfähiges Gerüst für rational geleitete, kooperative und altruistisch orientierte Gesellschaften bieten.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon laie » Sa 21. Aug 2010, 13:54

Klaus hat geschrieben:
laie hat geschrieben:Den grössten Blutzoll in der Geschichte der Menschheit haben atheistische, naturalistische und materialistische Ideologien während der kurzen Zeit des 20. Jahrhunderts gefordert. Das sollte man nicht einfach so vergessen.


Den gleichen Schwachsinn verkünden Ratzinger und Co. Müssen wir uns von solchen idiotischen, provokanten Äusserungen eigentlich behelligen lassen?



Ich meine nicht, dass atheistisches, naturalistisches und materialistisches Gedankengut automatisch die Wurzel allen Übels des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Aber ich denke doch, dass mit der zunehmenden Aufklärung, der gleichzeitigen Entstehung von Nationalstaaten, Liberalismus, Sozialismus eine zunehmende Verschärfung und Verengung der Wahrnehmung andersartiger Lebensweisen eintrat. Die vielzitierten Religionskriege (Dreissigjähriger Krieg, Türkenkriege) waren zum einen überhaupt keine Kriege, die wegen unterschiedlicher Religion geführt wurden, sondern aufgrund handfester materieller Interssen. Türkische Sultane wurden von französischen Hofdamen erzogen, der wohl berühmteste Architekt des osmanischen Reiches war der Christ Sinan und beim Studium des Dreissigjährigen Krieges reibt man sich verwundert die Augen, wenn man liest, dass sich in Wallensteins katholischem Heer protestantische Offiziere befanden. Kurz: die Übergänge waren ziemlich fliessend. Freizügigkeit ist sicher das falsche Wort.

Die Fronten zwischen verschiedenen Weltanschauungen beginnen mit Nationalstaatsdenken und wissenschaftlichem Dünkel zu verhärten. Eine Radikalisierung der verschiedenen Ansichten (auch der christlichen übrigens), die in meinen kurzen Zeilen nicht wiederholt werden kann, die aber in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung kein Novum mehr darstellt. Es ist kein Zufall, das Herzl seine Lösung der Judenfrage gegen Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben hat, dass der radikale Islam, dem sich die "freie" Welt heute gegenübersieht, eine Ausgeburt aus den Jahrzehnten etwa von 1880 bis 1930 ist (also ziemlich modern) und der ganze christliche Kreationistenunsinn auch.

Dissendent hat geschrieben: Ich will die Historie gar nicht diskutieren, jedem dürfte klar sein, dass die Nazis allesamt christlich sozialisiert waren.


Und die Kader Maos und Stalins? Waren die auch allesamt christlich sozialisiert? Der Hinweis von Dissident ist nur auf den ersten Blick interessant und auf den zweiten schlicht falsch. Denn christlich zu sein und zu leben (was auch immer der einzelne damit assoziiert haben mag) war im zweiten Kaiserreich und erst recht danach überhaupt nicht karrierefördernd. Stichwort Kulturkampf in Deutschland und seine Folgen. Daher mag es schon sein, dass manche Nazis vielleicht getauft waren und ein paar mal in der Kirche waren - aber es war halt toll, sich jetzt einer Bewegung anschliessen zu können, die so wunderbaren - noch dazu offensichtlich wissenschaftlich begründeten, zumindest aber begründbaren - Fortschritt verhiess. Fortschritt, wissenschaftlich begründeter und quasi evolutionistisch notwendiger Fortschritt, das war auch der Kern in den Ideologien Stalins und Maos. Ich weiss, dass dies alles nichts mit Darwins ungerichteter Evolution zu hat.

Überhaupt Fortschrittsdenken. Hat das gar nichts gebracht? Waren die wissenschaftlichen Arbeiten und gedanklichen Vorstösse des 19. und 20. Jahrhunderts umsonst? Waren Marx und Ludwig Büchner und Pettenkofer und Pasteur, um nur ein paar herauszugreifen, nicht beseelt, etwas an den gesellschaftlichen Mißständen zu ändern? Doch, das waren sie. Sie waren guten Willens.

Dennoch taucht mit dem Anspruch, gesellschaftliches Leben plötzlich wissenschaftlich deuten und sogar verbessern zu wollen und auch zu können, ein häßlicher Zeitgenosse auf: der Rechthaber. Mal begegnet er uns als Mediziner, mal als Jurist, dann als Biologe und auch als Physiker. Auch als Ethnologe und Historiker taucht er auf. Durchweg ist er vor allem Wissenschaftler und nichts anderes, beseelt von seinem Wissen, das umso mächtiger ist, als dass er das, was er meint zu wissen, beweisen kann, und nicht auf den Glauben angewiesen ist, wie er es anderen unterstellt. Ohne einen bestimmten Berufsstand besonders hervorheben zu wollen, finden sich nicht von ungefähr Juristen, Historiker, Mediziner und Ethnologen unter den geistigen Förderern der Nazis. Keineswegs weil das alles Mengeles waren. Nein! Man darf doch wohl mal - rein wissenschaftlich versteht sich, es wird doch nicht etwa jemand seine Ohren vor der Wissenschaft verschliessen! - über lebensunwertes Leben sprechen. So ganz zwanglos. Kosten ja schliesslich eine Menge Geld, diese sabbernden Idioten. Und wenn wir schon dabei sind, auch diese Kommunisten und Christen und diese ......
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Mark » So 22. Aug 2010, 02:56

Auf gut Deutsch : Schuld war die Ignoranz im Kleide der Intellektualität ?
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon laie » So 22. Aug 2010, 12:00

Mark hat geschrieben:Auf gut Deutsch : Schuld war die Ignoranz im Kleide der Intellektualität ?


Nein. Das wäre zu kurz. Intellektuell war die Welt auch vor dem 19. Jahrhundert. Ich will auch nicht auf einen einfachen Determinismus hinaus. Aber es ist schon frappierend zu sehen, wie sich die verschiedenen geistesgeschichtliche Strömungen im 19. Jahrhundert radikalisieren: klerikale, sozialistische, materialistische, naturalistische. Das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes ist kein Spuk aus dem finsteren Mittelalter, sondern einer der Neuzeit. Biologismen finden Eingang in die Bewertung des Menschen und seines Lebens. Vielleicht von Darwin und anderen redlichen Naturforschern nicht gewollt, aber auch nicht zu leugnen. Rassistische Theorien werden salonfähig. In Deutschland macht sich Hans Friedrich Karl Günther als "Rassengünther" einen Namen. Andere Rassisten machen sich in anderen Ländern einen Namen. Max Weber sieht sich auf einem Vortrag genötigt, rassistische "Erklärungsversuche" gesellschaftlicher und kultureller Unterschiede zurückzuweisen. Das zeigt, wie gesellschaftsfähig rassistische Theorien im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert waren. Marx und seine Epigonen behaupten, gesellschaftliche Entwicklungen mit quasi naturwissenschaftlicher Exaktheit vorhersagen zu können. Die Liberalen erfinden die Ideologie des "freien Marktes". Und damit einen bis heute akzeptierten Apparat zur Begründung von Armut.

Ich glaube, es ist nicht das ungeheure Wissen, das die Menschheit im 19. Jahrhundert bereichert. Es ist die Art und Weise, wie es gewonnen und verbreitet wird. Mit welcher Attitüde. Selbstbewusst zu sein, stolz auf die eigenen Fähigkeiten zu sein, das sind jetzt positive Kriterien. Demut wird eine Schwäche. Stolz eine Tugend. Man redet mehr, als man zuhört. Man sagt, natürlich seine Meinung. Man stellt was dar, aufgrund eigener Leistung. Leistung, Leistung, Leistung. "Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich verdienen", "Jeder ist seines Glückes Schmied", an solchen Phrasen beginnt man sich auszurichten.
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