Tobi444 hat geschrieben:Ohne die Religion müssten die Kriegstreiber dieser Welt oftmals sehr kreativ sein, um Gründe für Konflikte zu finden, die eigentlich gar keine Gründe haben.
Das ist meiner Meinung und meines Wissens nach um Potenzen zu simpel gedacht, genauer gesagt: falsch.
Historische Prozesse sind hyperkomplexe Abläufe, in denen unzählige Systeme und Subsysteme aufeinander einwirken. Es ist nicht so, dass es auf der Welt ein paar Leute gäbe, die zufällig Lust am Krieg und die Mittel, ihn umzusetzen, besitzen würden und dann ganz bewusst nach einer Ausrede suchen, weil sie aus einer aus dem Nichts entstandenen Eingebung h eraus einfach mal ein paar Panzer losschicken wollen. Natürlich wird Religion instrumentalisiert, aber das heißt weder, dass die Mächtigen dies immer gezielt tun (also eigentlich heimliche Atheisten sind, die sich ins Fäustchen lachen angesichts der Leichtgläubigkeit des einfachen Volkes) oder gar wüssten, welchen Effekt dies am Ende hat. Für die Päpste der Kreuzfahrerzeiten dürfte zwischen der Überzeugung, das Richtige zu tun, und dem willkommenen Nebeneffekt wirtschaftlicher und politischer Zugewinne keinerlei für sie wahrzunehmender Bruch bestanden haben, genausowenig, wie G. W. Bush die Welt mit seinem göttlichen Missionsgeschwafel bewusster Propaganda unterzogen hat. Diese Dinge zu trennen und zu behaupten, Kriegslust wäre von selbst entstanden und dann hätte jemand sich den Kopf zerbrochen, aus welchem Grund man eigentlich Soldaten und Geld verheizen soll, ist so simplifizierend, das darin keinerlei Erkenntnisgehalt mehr steckt.
Als Naturalist ist es völlig unmöglich, die Aussage zu akzeptieren, ein Konflikt hätte keinen Grund. Und gerade im Bezug auf den Irak (und auch die USA) fallen mir auf Anhieb mindestens zwanzig gute Gründe ein, weshalb die Leute dort der Überzeugung sein könnten, sich die Köpfe einschlagen zu müssen. Es kann sein, dass du einen Grund wie den begehrenswerten Ölreichtum des Landes oder ideologische Differenzen nicht als Gründe akzeptieren willst, weil DU dich deshalb mit niemandem duellieren würdest (oder dieses lautere Selbstbild zumindest gerne vor dir selbst aufrechterhältst). Das heißt aber nicht, dass es keine Gründe gäbe, oder dass diese Gründe "schlecht" wären. Sie mögen es aus normativer Sicht sein, aus deskriptiver Sicht geht es einfach um Aktion und Reaktion: Achmed, Kind von irakischen Sunniten, wächst unterernährt und mit mangelhafter, aber dafür ideologisch durchtränkter Schulbildung auf, seine Gesellschaft ist in Orientierungslosigkeit, Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber einem kulturell, wirtschaftlich und militärisch als stark überlegen wahrgenommenen Westen gefangen und erstarrt im Glauben an die Notwendigkeit der Einhaltung strenger sozialer und ritueller Vorschriften, die zumindest das Gefühl von Kontrollfähigkeit über eine an und für sich unkontrollierbare Situation geben. Alle in Achmeds Umfeld sind wütend und aufgrund
ganz banaler sozialer Prozesse wird diese Wut auf jemanden gelenkt, in diesem Fall auf den schiitischen Nachbarn, dessen größeres Ladengeschäft man ihm schon immer geneidet hat. Nun kommen die Amerikaner, übrigens auch nicht "ohne Grund", sondern wegen der regionalen Vorherrschaft, wegen des Öls, wegen der Hoffnung auf willfährigere Regime im Nahen Osten, leider aufgrund einer übertriebenen Technikbegeisterung von D. Rumsfeld mit viel zu viel Elektronik, viel zu wenig Fachleuten und viel zu wenig Soldaten, das Land versinkt im Chaos, in der Nachbarstraße reißt eine smart bomb einen kompletten Häuserzug weg, alle sind wütend, hasserfüllt, traumatisiert, erschöpft und von Ohnmachtsgefühlen überwältigt. Wie immer, wenn Menschen diese Erfahrungen machen (übrigens, auch du wirst aggressiv, wenn du nichts zu essen hast. Mach mal den Selbsttest: faste mal zwei Tage bei erhöhter Arbeitsbelastung und sag deinen Arbeitskollegen vorher, sie sollen notieren, wann du das erste Mal ausfallend wirst.), suchen ihre Gehirne verzweifelt nach Rettungsstrategien, nach Sündenböcken, nach Kontrolle und Übersicht. Achmed erschlägt zwei Wochen später den schiitischen Nachbarn aufgrund eines Anlasses, der ihnen zu anderen Zeiten Anlass zum Scherzen gegeben hätte. That's life. Und da soll es keine Gründe geben? Da soll jemand Religion vorschieben? Die meisten Leute, auch Politiker, haben weder die Kompetenz, noch die Zeit, sich grand strategies für derart komplexe Situationen zu überlegen. Religion ist Religion, ein komplexes soziales Phänomen, also brich es bitte nicht darauf herunter, es sei simple Propaganda für Konflikte ohne Gründe. Sowas gibt es nicht.