Arathas hat geschrieben:Das Reproduktionsinteresse kann der Antrieb des Überlebenswillens nicht sein. Ich jedenfalls habe kein Interesse daran, mich zu reproduzieren, aber ein gewaltiges Interesse daran, weiterhin zu leben. Und auch alle Menschen, die aus körperlichen, alterstechnischen oder sonstigen Gründen nicht in der Lage sind, sich zu reproduzieren, haben in der Mehrheit der Fälle ein großes Interesse am Leben selbst.
Das ist das Gleiche. Reproduktion bezieht sich auf Kompetenzen (in der Systemischen Evolutionstheorie). Wenn ein Tier Nahrung sucht, versucht es seine Lebensraumkompetenzen während seines aktuellen Lebens zur reproduzieren.
Deshalb definiert die Systemische Evolutionstheorie bei Lebewesen:
1. Selbsterhalt = Reproduktion der Kompetenzen während des aktuellen Lebens
2. Fortpflanzung = Reproduktion der Kompetenzen über das Leben hinaus (in die nächste Generation hinein).
Angetrieben wird beides durch Reproduktionsinteressen. Die können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Einige Menschen haben z. B. ein großes Interesse daran, ihre kulturellen Kompetenzen in die nächste Generation zu bringen. Die arbeiten dann etwa wissenschaftlich oder komponieren tolle Sachen. Die Kinderfrage stellt sich für sie vielleicht gar nicht. Eventuell sind sie sogar homosexuell und interessieren sich auch deshalb nicht für eine Familie.
Andere Menschen möchten dagegen eher ihre genetischen Kompetenzen über ihr Leben hinaus bewahren. Sie haben dann ein hohes Fortpflanzungsinteresse (ein Spezialfall des Reproduktionsinteresses).
Noch anderen geht es nur darum, jetzt ein gutes Leben zu führen. Was mit der Nachwelt passiert, interessiert sie nicht. Wenn sie sterben, möchten sie an einem anonymen Ort verscharrt werden, sodass man sie möglichst bald vergisst. Sie haben dann ein hohes Reproduktionsinteresse bzgl. Selbsterhalt aber ein niedriges Reproduktionsinteresse für ihre Kompetenzen über ihr Leben hinaus.
Die Theorie der egoistischen Gene (Dawkins) lässt solche Feinheiten nicht zu. Derzufolge geht es stets vor allem um den Erhalt genetischer Kompetenzen (um Fortpflanzungserfolg). Das ist gemäß der Systemischen Evolutionstheorie eine unzweckmäßige Einschränkung.
Allerdings stellt sich weiterhin die Frage, wann unter solchen allgemeinen Bedingungen noch Evolution möglich ist. Das Prinzip der natürlichen Selektion, so wie es die Evolutionsbiologen formulieren, ist offenkundig zu eingeschränkt (es handelt nur von genetischen Kompetenzen), um die menschliche Situation erfassen zu können. Die Systemische Evolutionstheorie hat deshalb ein zusätzliches Prinzip in die Evolutionstheorie eingeführt, welches sich aus der Price-Gleichung herleiten lässt.
Sehr zu empfehlen ist meiner Meinung nach der Kommentar "Zu den Hintergründen der Theorie", den Mersch am unteren Ende des Knol-Artikels über die Systemische Evolutionstheorie selbst gepostet hat. Da erklärt er - auch im Zusammenhang mit der Unternehmenswelt, die keine Fortpflanzung kennt - warum "die Theorie so ist, wie sie ist", d.h. warum er von Reproduktionsinteressen spricht.
Wie auch immer: Das Reproduktionsinteresse (in Bezug auf Lebensraumkompetenzen, die nicht zwingend genetischer Art sein müssen, sondern auch kulturell sein können) ist das Hauptmerkmal, das Lebendiges von Nichtlebendigem unterscheidet. Wer vom Aussterben redet, sagt nichts anderes, als dass kein Interesse mehr daran besteht, die vorhandenen Kompetenzen (egal ob angeboren oder erworben) zu bewahren. Damit verabschiedet man sich endgültig vom Sinn des Lebens. Ist meine Meinung jedenfalls.