Wie sieht eure politische Vision aus?

Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon mat-in » Sa 2. Jul 2011, 09:45

Arathas hat geschrieben:Jetzt ernsthaft?

Abgeschlossenes naturwissenschaftliches Studium (diplom) netto unter 1000 Euro.
850-1100 netto ist die ganz normale Ausbeutung, wenn du noch eine Doktorarbeit machst.
Und dann entlastet dich die Bundesregierung noch bei deinem 80-stunden-job (das ist in dem fall doppeldeutig), dadurch das du Zusatzbeitrag bei der Krankenversicherung zahlst und beim Gehalt auch 8 Euro weniger rauskommen. 25 Euro pro Monat mag sich nicht viel anhören, aber in der Gehaltsklasse macht es sich wirklich bemerkbar.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Sa 2. Jul 2011, 09:58

stine hat geschrieben:
1von6,5Milliarden hat geschrieben:...seit der Kohlära...
Liest sich irgendwie wie Colera...
Ja, ich habe auch beim Tippen zweimal hingesehen, =) mein Aug' erwartet Ära irgendwie mit großem Ä, aber ich wollte keinen nicht nötigen Bindestrich (Kohl-Ära) einbauen, die auch hier so beliebten "Deppenleerzeichen" natürlich erst recht nicht. An Pest und Cholera (danke :applaus: )habe ich zwar nicht gedacht, aber die Wortumstellung "Ära Kohl" hätte den Fokus zu sehr auf Kohl gerichtet, ich hatte ja auch auch nicht die Ära von Kohl gemeint, sondern den Zeitrahmen.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon stine » Sa 2. Jul 2011, 11:37

mat-in hat geschrieben:850-1100 netto ist die ganz normale Ausbeutung,


So schlecht zahlt die Erzdiözese ihre Leute, mit Theologiestudium schaffst du ein Einstiegsgehalt mit Entgeltgruppe 5 : http://www.onlineabd.de/dcms/sites/bistum/extern/abd/sdindex.html?f_action=show&f_element_id=28192

So wird der öffentliche Dienst bezahlt: http://oeffentlicher-dienst.info/tv-l/tr/2011/
Bayern fährt, obwohl nicht am besten zahlend, auch in 2012 wieder eine Nullrunde!

Du solltest dich damit abfinden, dass 1000 € netto viel Geld sind.
Auch wenn eine vernünftige Miete damit nicht mehr bezahlt werden kann.

:( stine
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon mat-in » Sa 2. Jul 2011, 16:27

Es sind ja nur um 1000 netto weil man steuerlich so gut liegt. Brutto sind es 1400... bzw. im Moment auf der schlechteren stelle nur 1100. Und das ist nun wirklich nihct viel, das hat jeder Facharbeiter am Ende seiner Lehre... wenn nicht mehr.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon musicman » Sa 2. Jul 2011, 18:26

Das erscheint mir als ein sehr mageres Salär für ein abgeschlossenes naturwissenschaftliches Studium, wieviel % von den 80 Std/Woche bist du denn für die Firma tätig und wieviel davon gehen für deine Doktorarbeit drauf, das muss man natürlich auch berücksichtigen.
Trotzdem ist es wenig, mein Neffe hat letztes Jahr sein Studium beendet und ist mit einem Anfangsgehalt von 3600 Brutto eingestiegen, er hat Maschinenbau studiert. Kann man nicht direkt vergleichen, aber das solche enormen Unterschiede bestehen bei Berufsanfängern mit Hochschulabschluß ist schon verwunderlich, vor allem wenn man bedenkt, dass Biologie (ich glaube das hast du mal erwähnt) ja auch nicht gerade ein Orchideenfach ist.

@Stine

Gehälter von Theologen können wir nicht als Referenzgröße nehmen, die arbeiten für den Herrn, das ist etwas anderes :mg:

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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon mat-in » So 3. Jul 2011, 10:39

orchideenfach? nein ich bin kein botaniker ;)

Die 3600 brutto sind wohl grob was man als biologe nach der doktorarbeit bekommen kann wenn man nicht an der uni bleibt.

bezahltbekomme ich 20 stunden, daher das gehalt. Klar kann man jetzt argumentieren, daß die restlichen 60 ja "mein privatvergnügen sind" für das ich auch noch das Labor nutzen darf... aber wer schafft denn dem Labor die Daten ran, die es dann erfolgreich publiziert und mit denen dann wieder geld eingeworben wird? Das entsteht in 80, nicht in 20 Stunden.

Ein Leben im Luxus ist ja unnötig (die Zeit hätt ich gar nicht das zu genießen), aber wenn mir die Sohlen von den Schuhen abfallen weil 80 euro für ein par neue Schuhe fehlen ist das schon... doof. (ja, es gibt auch schuhe für 30 euro, das sind die, bei denen gerade nach einem halben jahr die sohlen abfallen).

Wäre alles nicht so schlimm wenn sich nicht zum Beispiel Politiker mal eben eine Bezugserhöhung gönnen würden die mehr als mein halbes gesamtgehalt ist... wahrscheinlich von den 8 Euro die sie mir zusätzlich wegnehmen. Meine politische vision wäre eine, in der Leute für das was sie leisten bezahlt werden. Das würde nicht zu letzt auch beim Kinder bekommen helfen... ich werde jedenfalls keine in die Welt setzen, wenn ich nicht weiß, ob und wo ich nächstes Jahr arbeite und mir nicht mal Schuhe kaufen kann. Da sind Grippenplätze und Elterngeld für junge Managerinnnen keine Hilfe.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon stine » So 3. Jul 2011, 12:03

Hast du keine Oma, mat-in?

:winkgrin: stine
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon musicman » So 3. Jul 2011, 13:05

mat-in hat geschrieben:orchideenfach? nein ich bin kein botaniker ;)


So nennt man doch die Fächer, die keiner braucht - oder ?
Koptologie, Tibetanistik, ect so meinte ich das, wo von vornerein klar ist, nach dem Studium kommt Taxi fahren.

Die 3600 brutto sind wohl grob was man als biologe nach der doktorarbeit bekommen kann wenn man nicht an der uni bleibt.


Na also, dann ist es ja kein Dauerzustand und es ist Land in Sicht.
Sieh`s so, andere schreiben an ihrer Doktorarbeit und müssen kellnern, da sagt auch keiner, mein Ober ist Doktorand, der bekommt 3000/pM.

Jedenfalls hast du nach der Durststrecke von 2/3 Jahren, wenn die Doktorartbei fertig ist reelle Aussicht auf einen anständig bezahlten Job, das ist absehbar - also :2thumbs:

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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon Lumen » So 3. Jul 2011, 15:03

Siehe auch: Das kreative Prekariat -- Es lohnt sich nicht, fleißig und gebildet zu sein

Essenz: Abi, Studium, Überstunden, moderne Nomaden, Zukunftsbranche wird von Politikern angepriesen, aber das alles lohnt sich nicht. Das zu erwartende Gehalt mit allen Widrigkeiten kann gegen eine Lehre bei der örtlichen Industrie, halbwegs sicheren Arbeitsplatz, Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb usw. und das alles mit unter 20 gut bezahlt nicht mithalten.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon Nanna » So 3. Jul 2011, 18:04

Katja Kullmann, eine gescheiterte Selbstverwirklicherin, die sich wundert, dass man, jetzt mal sehr polemisch gesagt, nicht davon leben kann, in Berlin anderen beim Bloggen zuzuschauen - sorry, jemand ist da schon auch selber schuld.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon ujmp » So 3. Jul 2011, 19:50

Lumen hat geschrieben:Essenz: Abi, Studium, Überstunden, moderne Nomaden, Zukunftsbranche wird von Politikern angepriesen, aber das alles lohnt sich nicht. Das zu erwartende Gehalt mit allen Widrigkeiten kann gegen eine Lehre bei der örtlichen Industrie, halbwegs sicheren Arbeitsplatz, Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb usw. und das alles mit unter 20 gut bezahlt nicht mithalten.


Jedenfalls haben Akademiker eine geringere Arbeitslosenquote. Man darf aber mal hinterfragen, ob Akademiker per se mehr verdienen müssen. Es ist schon ein Privileg, bestimmte Jobs machen zu dürfen, die viel bequemer sind, als z.B. auf einer Bautelle zu areiten. Vor meinem Studium hatte ich schon einen Handwerksberuf - es war sooooooo langweilig! Da geht man auf die Dauer kaputt. Es reicht da nicht, sich im Privatleben mit intellektuell Interessierten zu umgeben, man braucht einfach einen Job der einen beansprucht. Ich rede dann gar nicht von "Überstunden", wenn ich meine Arbeit nach 18 Uhr noch fertig mache, weil es mich befriedigt, dieses Ziel zu erreichen oder eine Sache perfekt zu machen.

Ich finde aber andererseits auch, dass man zu einseitig von Arbeitslosen verlangt, sich mit geringerem Gehalt zufrieden zu geben. Man kann nämlich mit gleichem Recht von den Arbeitgebern verlangen, den Anreiz zu erhöhen.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon musicman » So 3. Jul 2011, 21:04

Lumen hat geschrieben:Das zu erwartende Gehalt mit allen Widrigkeiten kann gegen eine Lehre bei der örtlichen Industrie, halbwegs sicheren Arbeitsplatz, Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb usw. und das alles mit unter 20 gut bezahlt nicht mithalten.


Man kann deshalb nicht oft genug betonen: Augen auf bei der Berufswahl

Die Zeiten in denen eine akademische Ausbildung automatisch in einer wohldotierten Karriere mündete sind vorbei, nur haben das viele noch nicht realisiert.
Ziel der Bildungspolitik war und ist es, eine möglichts hohe Anzahl eines jeden Jahrgangs zur Hochschulreife zu führen. Natürlich ist nichts dagegen eizuwenden, dass Kinder mit bildungsfernem familiären backround die selben Chancen haben wie andere, das ist nicht der Punkt.
Die Kehrseite des Volksabiturs ist aber leider eine gewisse Inflationierung. Mein oben erwähnter Neffe, der Maschinenbau studierte, berichtete von Kommilitonen aus den nördlichen Bundesländern, die in Mathe/Physik einen Wissenstand hatten, der bei weitem von den Grundvorraussetungen entfernt war, die für den Studiengang unabdingbar sind, bei den Studienanfängern aus BW und Bayern aber vorhanden waren. Einige seiner Studienkollegen waren deshalb gezwungen den nötigen Stoff in teurem Privatunterricht nachzuholen, wollten sie nicht riskieren, von ihrem Prof nach 2 Semestern eine Empfehlung für das Studium der Sozialpädagokig zu erhalten.
Zum anderen entsteht ein Überangebot an Akademikern in bestimmten Fächern (in der Regel da, wo die Anforderungen an das Studium eher moderat sind). Die Gesetze des Marktes sind aber gnadenlos und führen dazu, dass Firmen sich unter einer Vielzahl von Bewerbern die geeigneten aussuchen und gleichzeitig die Gehälter flach halten können.
Eine sinnvolle Alternative ist sicher eine gute mittlere Reife/Fachhochschulreife/Abitur, je nach Neigung und Talent, mit anschliesender Ausbilung und dann, wenn es einem liegt, noch ein Studium draufsetzen.

Oder so wie ich, it`s only Rock`n Roll, but I like it. :mg:

(Hab ich meinen Kindern aber nicht empfohlen)

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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon Nanna » So 3. Jul 2011, 22:31

Das alles wird nicht mehr lange so bleiben. Innerhalb der nächsten zehn Jahre gehen derart viele Leute aus der Babyboomergeneration in Rente, dass die Wirtschaft schon sehr bald mit einem deutlichen Mangel an Fachkräften zu kämpfen haben wird, der auch von zunehmender Automatisierung und Erhöhung des Renteneintrittsalters nicht aufgefangen können wird. Natürlich hilft das unqualifizierten Arbeitskräften überhaupt nicht weiter und auch Lebensentwürfe wie die "digitale Bohéme", die "irgendwas Kreatives mit Medien" macht werden davon nicht allzu viel haben, aber für alle, die irgendwie "solide Arbeit", wie man so schön sagt, leisten, brechen definitiv bessere Zeiten an.
Die Firmen werden in Zukunft häufig froh sein können, einen halbwegs geeigneten Bewerber zu finden, den sie im Zweifelsfall dann selber nochmal weiterbilden müssen, die Zeiten der Generation Praktikum, meiner Meinung nach ohnehin zu mehr als der Hälfte ein urbaner Mythos, sind jedenfalls demographischen Zahlen zufolge bald vorbei. Am ehesten wird man das natürlich in den harten Disziplinen merken, also in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen, Leute wie ich, die eher generalistische geisteswissenschaftliche Studienfächer studieren, tuen sich naturgemäß immer schwerer, aber nach meinem letzten Gespräch mit der Berufsberatung an der Uni bin ich eigentlich mehr als guten Mutes, eine einigermaßen brauchbar bezahlte und interessante Arbeitsstelle zu finden.
Das Herumgejammere von wegen akademischem Prekariat kommt meistens doch eher aus einer bestimmten Ecke von Leuten, die sich in Studium und Berufswahl am Markt völlig vorbeiorientiert haben und sich dann wundern, dass "Kreativer" keine Berufsbezeichnung ist und die Wirtschaft sich nicht für selbstumkreisende Lebensentwürfe von Leuten interessiert, die "irgendwas Kreatives" machen wollen.

Natürlich gibt es daneben eine Reihe von Berufen, gerade im sozialen Bereich (z.B. Sozialpädagoge), die keine Lobby haben und volkswirtschaftlich kaum messbare Beiträge zum Bruttosozialprodukt leisten (was nicht heißt, dass die nicht da sind, sie lassen sich nur kaum ermitteln) und daher oft mies bezahlt werden. Da halte ich Klagen auch für berechtigt und es gehört natürlich ein gewisser Idealismus dazu, sich wissend auf diese Schiene zu begeben. Dass man da schlecht bezahlt wird, ist aber seit Jahrzehnten bekannt und sicherlich kein Problem des "neuen" akademischen Prekariats, das ich, wie wohl deutlich heraushörbar, auch durchaus zumindest zu einem ansehnlichen Teil selbst für sein Scheitern verantwortlich mache. Insofern muss ich musicman auch etwas widersprechen: Mit einer akademischen Ausbildung konnte man auch schon vor vierzig Jahren prima arm bleiben, auch wenn man sich dafür sicherlich etwas mehr anstrengen musste als heute. Sinologen, die keine Professoren wurden, sind aber auch schon 1970 eher nicht reich geworden. Ansonsten hast du aber natürlich recht mit dem, was du sagst.

ujump hat auch noch etwas wichtiges gesagt:
ujmp hat geschrieben:Ich finde aber andererseits auch, dass man zu einseitig von Arbeitslosen verlangt, sich mit geringerem Gehalt zufrieden zu geben. Man kann nämlich mit gleichem Recht von den Arbeitgebern verlangen, den Anreiz zu erhöhen.

Hier gibt es, gerade im geisteswissenschaftlichen Bereich, ein Problem: Erstens ist das Angebot meistens relativ reichlich, so dass Arbeitgeber die Löhne relativ stark drücken können. Die geisteswissenschaftlichen Absolventen, die sich sowieso ihr ganzes Studium schon diese erbärmlichen Taxifahrerwitze anhören mussten, denken natürlich meist auch nicht daran, etwas fordernder in die Verhandlungen zu gehen, sondern geben sich notgedrungen mit dem erstbesten zufrieden, was sie finden. Dazu kommt die Marktverzerrung durch die wohlhabenden Eltern, die oftmals noch bis Ende der Zwanziger ihre Kinder unterstützen, so dass die trotz schlechter Bezahlung in überfüllten Branchen mit einem gewissen Lebensstandard überleben können, anstatt sich entweder mit kleineren Brötchen zufrieden zu geben oder die Profession wechseln. Das führt natürlich ebenfalls dazu, dass die Arbeitgeber die Löhne niedrig halten können und auch das hat, irgendwo, wieder mit meiner These zu tun, dass in manchen Branchen das Elend zu einem signifikanten Teil auch selbstgewählt ist. Nicht falsch verstehen: Nicht alles ist deshalb fair und ich bin kein Freund neoliberaler Positionen. Aber die Marktlogik im Studium zu ignorieren, irgendwelche pseudoidealistischen Argumente bringen und dann hinterher rumweinen, dass die gewählte Branche genauso überfüllt ist, wie man vorher genau wusste, finde ich nicht gerade mitleidserregend.

Vielleicht merkt man, dass mir ein bisschen der Hut hochgeht. Das liegt daran, dass ich solche Betroffenheitsbücher wie das von Fr. Kullmann nicht besonders gut leiden kann. Wenn Kullmann und ihre Bloggergenossen, ohnehin Mitglieder einer selbstzentrierten Randgruppe, sich darüber enervieren, dass sie für das, was sie gerne machen, nicht den Lohn bekommen, der ihnen ihrer Meinung nach zusteht (ganz gleich, wie relevant oder produktiv das ist, was sie eigentlich tun) und dann ein bisschen so tun, als wäre ein Brotjob so etwas ähnliches wie ein Aufenthalt in einem Straflager, dann ist das realitätsfremd und das ganze Gequengel reichlich infantil. Es gibt kein Menschenrecht auf genau den Job, den man gerne hätte. end of story.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon Lumen » So 3. Jul 2011, 23:10

Sehe ich anders. Bessere Noten in der Schule, Abitur und Studium gelten allgemein als wünschenswert. Sind sie aber nicht. Es ist schön, dass ihr das erkannt hat, aber das ist dennoch nicht die übliche Botschaft. Allein Abitur zu machen kostet 2-3 Jahre ohne eigenen Verdienst, während der Schulabgänger schon ein Azubi-Einkommen erhält und seine ersten Schritte in der Karriere machen kann. Ein Studium dauert regulär 3-5 Jahre. Mit angemessenem Leistungsnachweis ist es wohl nicht falsch anzunehmen, dass es sich irgendwie lohnen sollte.

Es ist aber entlarvend, dass ihr den Betreffenden mindere Fähigkeiten, nutzlose Tätigkeiten ("Bloggerin") oder "Selbstverwirklichung" vorwerft. Das sind alles Strohmänner. Kanalarbeiter und Altenpfleger werden ja nicht proportional am besten bezahlt. Außerdem betrifft es am Ende oft Bürojobs. Dort wo es konservative Strukturen und klassische Angestellte betrifft, wird sehr gut bezahlt, dort wo solche Strukturen und Lobbies noch nicht existieren, wird eben hemmungslos ausgebeutet. Da sitzen dann Leute wie ihr und da heisst es: "Macht dir ja Spaß, der Beruf. Da kannst du ja gerne 12std. am Tag arbeiten". Allein die Denke ist doch schon pervers. Warum sollte es ein Vorteil für den Arbeitgeber sein, dass mir meine Arbeit gefällt? Und was ist den anderen Berufen? Die Leute gehen doch (teilweise) auch gerne zur Arbeit und deswegen wird nicht der Lohn mal eben halbiert und die Überstunden als unbezahlte Freiwilligkeit deklariert?

Überprüft mal Marktmechanismen und werft endlich eurer Bild des Homo Oeconomicus auf den Müll.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon Nanna » Mo 4. Jul 2011, 00:22

Ich habe kein Bild des homo oeconomicus und dieses Konzept hat auch nichts mit dem zu tun, was wir hier bereden.

Ich sage ja nicht mehr als das: Gewisse Tätigkeiten werden einfach nicht nachgefragt. Einfach nur Dinge zu lernen bringts nichts, es muss auch eine Nachfrage dafür geben.

Wer Theaterwissenschaft studiert hat und erwartet, danach ganz sicher an einem Theater beschäftigt zu werden, hat einfach an der Realität vorbeigehofft. In einer angrenzenden Branche kommt er/sie vielleicht irgendwie unter, kann dort aber seine Schlüsselfertigkeiten nicht ausspielen und bleibt deshalb unter seinen (theoretischen) Möglichkeiten. Abitur dauert 2-3 Jahre, Studium 3-5, alles richtig - aber was sagen diese Zahlen aus? Willst du das Studium der Germanistik ernsthaft mit dem der Chemie gleichsetzen? Ein Germanist kann nunmal einfach nicht nach dem Studium im Labor bei BASF anfangen und der Chemiker nicht bei suhrkamp. Wenn aber drei Leute Chemie studiert haben und sieben Leute Germanistik und nachher bei suhrkampf zwei Stellen frei sind und bei BASF fünf, dann ist die Sache klar, egal wie gut die Noten der Germanisten sind. Fünf Germanisten werden arbeitslos sein oder andere, wahrscheinlich schlechter bezahlte Jobs machen. Dass die Arbeitschancen mit Germanistik auch für gute Akademiker durchwachsen sind, ist eine seit Jahren konstante Tatsache, die jeder kennt, der dieses Studium aufnimmt.
Ich bin niemandem böse, der das studiert, aber ich will hinterher keine Beschwerden darüber hören, dass es zu wenige Arbeitsplätze gibt und die existierenden dank Bewerberschwemme nur mittelmäßige Löhne bringen. Soviel Mathe muss auch ein Germanist können. Das hat nichts mit "minderen Fähigkeiten" im intrinsischen bzw. normativen Sinne zu tun, sehr wohl aber damit, dass Fähigkeiten, die inflationär vorhanden sind, im ökonomischen Zusammenhang tatsächlich nutzlos sein können. Selbstverständlich ist Linguistik eine wertvolle Profession für die Gesellschaft (habe ich selber in meinem Studium, kann ich durchaus beurteilen; bringt viel für die Erarbeitung historischer Zusammenhänge und auch für die Völkerverständigung). Man kann aber weder Krebs zu Tode reden noch ein Kernkraftwerk durch die Aufspaltung von Wörtern betreiben. Da kann man noch so viel protestieren, das ist wie mit Religion: Bloß weil man Dinge postuliert, lässt sich der Kosmos noch lange nicht vorschreiben, wie er zu sein hat.

Auch was du über Strukturen schreibst, ist doch erstmal nichts neues. Selbstverständlich schützen Strukturen sich selbst. Wo starke Organisationsgrade vorherrschen, ist natürlich nicht so leicht der Geldhahn zuzudrehen. Aber hey, was hindert "die Blogger" denn daran, sich zu organisieren? Ich würde sagen, zwei Dinge: Erstens, sog. "kreative", selbstverwirklichende Berufe haben sehr viel mit Individualismus und Strukturfeindlichkeit zu tun, was angreifbar macht, zweitens, sorry, die harte Wirklichkeit ist, es interessiert keinen, wenn hundert Blogger ihre Arbeit niederlegen (außer es ist ein Dissident in China, der tatsächliche Probleme und nicht nur selbstzugeschriebene politische Relevanz hat).
Ich neide den Bloggern den Spaß an ihrer Arbeit nicht, aber die Blogosphäre interessiert mich nicht und ich messe ihr auch nicht dieselbe Relevanz bei, wie den Kanalarbeitern oder Altenpflegern. Wenn die sich über schlechte Bezahlung beschweren, sehe ich, wo das Problem ist, denn deren Tätigkeiten schätze ich tatsächlich als deutlich relevanter für das Gemeinwesen ein. Anders gesagt, ich brauche jemanden, der meinen Kanal saubermacht, aber keine Katja Kullmann, die mir twittert, wie schlecht sie bezahlt wird.
Ich kenne selbst persönlich jemanden, der aus Berlin ausgewandert ist und sich gerade noch selbst davor geschützt hat, dort im kreativen Prekariat zu versumpfen, der jetzt einen anderen, solideren Beruf macht und mit erstaunlicher Selbstkritik erzählt, wie sehr im dortigen Milieu Schönfärberei und Selbstbetrug regieren und wie viele Leute sich dort gescheiterte Existenzen als alternative Lebensmodelle erträglich reden.
Ich kenne auch junge Künstler, in erster Linie eine junge Band, die davon träumen, einmal von ihrer Musik leben zu können. Dankenswerterweise haben die mir irgendwelche Selbstmitleidstouren erspart und sind illusionslos und realistisch an ihre Projekte herangegangen, was wenig erstaunlicherweise dazu geführt hat, dass sie sich allesamt auf dem aufsteigenden Ast befinden. Sich "kreativ" zu nennen und es zu sein, indem man statt Betroffenheitsliteratur ein innovatives Vertriebsmodell erfindet, sind halt zwei verschiedene Dinge. Wobei, wahrscheinlich kriegt man durch solche Bücher auch ein bisschen Geld in die Kasse. Hat schonmal jemand gefragt, wie moralisch es ist, mit dem Ausbreiten der eigenen Probleme Geld zu verdienen? (Kleiner Tipp: Wer jetzt ökonomistisch antwortet "solange es sich verkauft", hat das Ganze komplett ad absurdum geführt und seine Glaubwürdigkeit in die Tonne gekloppt. ;-))

Lumen hat geschrieben:Da sitzen dann Leute wie ihr und da heisst es: "Macht dir ja Spaß, der Beruf. Da kannst du ja gerne 12std. am Tag arbeiten". Allein die Denke ist doch schon pervers.

Das mag ja sein, nur haben sich ökonomische Systeme noch nie dafür interessiert, ob sie pervers sind. Menschen- und Waffenhandel funktioniert ja auch prima, obwohl er stockpervers und noch dazu verboten ist.

Letztlich geht es immer um eine Machtfrage: Kann ich, wenn der Chef mir soetwas Fieses ins Gesicht sagt, aufstehen und gehen (übrigens: würde es etwas ändern, wenn der Chef sagte: "Hey, sorry, mir ist das extrem peinlich, aber du musst 12 Stunden täglich arbeiten, weil wir sonst nicht gegen die Konkurrenz bestehen, pleite gehen und dein Job ganz weg ist. Steht nicht im Arbeitsvertrag, aber ich kanns nicht ändern."?)? Kann ich bei der Konkurrenz unterkommen oder mich selbstständig machen? Hätte ich von vornherein einen anderen Arbeitgeber wählen können?
Wenn ja, stehe ich auf und gehe. Wenn nein, muss ich mich fragen: Betrifft das Problem nur mich oder die ganze Branche? Betrifft es nur mich, gibt es höchstwahrscheinlich eine juristische Lösung oder ich kann wenigstens auf die Solidarität meiner Kollegen vertrauen. Wenn es die Branche als Gesamtes betrifft, muss ich mir u.U. eingestehen, dass das Pflaster, das ich gewählt habe, zu heiß für meine dünnen Sohlen ist. In dem Fall stellt sich schon die Frage, mit welchem Recht ich mich beschwere, wenn ich vorher genau wusste, was mich in dieser Branche erwartet. Ich kann mich sicherlich empören, aber das Problem geht doch immer wieder zum selben Ausgangspunkt zurück: Ist meine Fähigkeit wertvoll, und zwar ausschließlich im ökonomischen Sinne "wertvoll", genug, dass ich Gegendruck entwickeln kann? Denn wenn das nicht so ist, ist die "Ausbeutung" kein persönliches Problem eines perversen Vorgesetzten, sondern ein strukturelles Problem. Je einfacher sich ein Arbeitnehmer ersetzen lässt, desto eher können feudale Beschäftigungssysteme bestehen. Ich habe nicht gesagt, dass ich das angenehm finde, aber es die Realität und die lässt sich nur bedingt manipulieren.

Zudem gibt es da ja ein massiven Selbstwiderspruch: Gerade im Umfeld idealistischer Berufe und ganz besonders Milieus wie der von mir nicht gerade geliebten "digitalen Bohéme" gibt es ja ein unheimliches Bedürfnis nach Freiheit. Freiheit wird aber immer mit einem genausogroßen Maß an Risiko geliefert. Nur, das scheinen viele Leute irgendwie nicht zu wollen. Der Job soll möglichst alle Freiheiten der Welt lassen, möglichst wenig Gängelung erlauben, aber gleichzeitig auch so risikolos sein, dass auch noch das unsinnigste und unbrauchbarste Geschäftsmodell per default vor dem Bankrott geschützt ist. Wenn dir da nicht auffällt, wo das Problem ist, drücke ich mich entweder extrem unklar aus oder wir reden über zwei völlig verschiedene Dinge ohne das zu merken.

Als Gegenmittel gibt es grundsätzlich politische Mobilisierung, Organisation der Arbeitnehmer etc., was jeder Branche offensteht, wobei nicht jedes Milieu dieselben Artikulations-, Organisations- und Konfliktfähigkeiten besitzt (das sog. AOK-Modell). Wie soll eine Branche wie die Blogosphäre Mindestlöhne durchsetzen? Gegen wen überhaupt? Und, Verzeihung, aber die Frage ist ethisch durchaus erlaubt: Mit welchem Recht eigentlich? Menschen haben denselben Wert, Berufe nicht. Ich muss mich nicht dafür schämen, den Arzt wichtiger zu finden als den Plakatpinsler. Die Blogosphäre hat Artikulationsfähigkeit, ja, aber keine Organisations- und Konfliktfähigkeit, so wie z.B. auch Studenten, weshalb Studentenproteste meist ohne große Wirkung bleiben, weil es einfach keinen interessiert, wenn die Studenten streiken. Und bei allem Respekt, man kann derartige Machtstrukturen nicht aus Prinzip und weil man Fairness so sehr liebt ablehnen und für nichtexistent erklären.

Wenn strukturelle Gründe (simple Rechnung: Mehr Arbeitnehmer als Arbeitsplätze) die Löhne niedrig halten, die Arbeitsbedingungen verschlechtern oder für Arbeitslosigkeit sorgen, kann man noch so sehr über die Perversität der Zustände schimpfen, es ändert einfach nichts an den simplen natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Marktes. Wenn einem das nicht passt, muss man politische Gegenmaßnahmen treffen (Mindestlöhne, Alimentierung / "Aufstocken", Grundeinkommen etc.) oder gleich planwirtschaftlich arbeiten. Sowas ist durchaus möglich, aber das ist ein anderes Spielfeld.

Unter den Bedingungen eines Marktes entscheiden nunmal Angebot und Nachfrage - nicht Zahl der Abschlüsse, Schuljahre, Idealismus oder moralische Integrität. Still end of story.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon ujmp » Mo 4. Jul 2011, 05:45

Nanna hat geschrieben:Die geisteswissenschaftlichen Absolventen, die sich sowieso ihr ganzes Studium schon diese erbärmlichen Taxifahrerwitze anhören mussten, denken natürlich meist auch nicht daran, etwas fordernder in die Verhandlungen zu gehen, sondern geben sich notgedrungen mit dem erstbesten zufrieden, was sie finden.


Ja, alles Image-Frage. Die Ärzte schaffen es immer wieder den Leuten noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen. Ihre Konspiration beruht m.E. auf einer Intelligenz, die Geisteswissenschaftler nicht haben. :mg: Der Rest schon gar nicht. Die Gesellschaft zwingt leider die Leute , zu Preisen zu arbeiten, die an der Armutsgrenze entlang laufen - in dem sie Arbeitslose zwingt, irgend einen Job anzunehmen. Da sollten wir lockerer werden und uns freuen, das es Leute gibt, die den Arbeitsmarkt ab und zu "entlasten".
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon Nanna » Mo 4. Jul 2011, 09:34

ujmp hat geschrieben:Die Gesellschaft zwingt leider die Leute , zu Preisen zu arbeiten, die an der Armutsgrenze entlang laufen - in dem sie Arbeitslose zwingt, irgend einen Job anzunehmen.

Das halte ich für eine grobe Vereinfachung. Es sind eben nunmal nicht beliebige Jobs da und ein Job ist für den Einzelnen wie die Gesellschaft im Zweifel besser als kein Job. Ich gehe davon aus, dass - außer vielleicht im unqualifizierten Bereich - so ziemlich jeder eine bessere Arbeitsstelle finden könnte, wenn er/sie bereit wäre, beispielsweise den Wohnort zu wechseln.

Ich bin ja durchaus offen für egalitäre Gedankenspiele und fände es z.B. auch sehr sinnvoll, mal einen großangelegten Feldversuch mit einem Grundeinkommen zu machen. Ich sehe es aber schon kritisch, wenn die Verantwortung des Einzelnen pauschal auf die Gesellschaft oder Gruppen wie "die Ärzte" abgewälzt wird, so als wäre "die Gesellschaft" daran interessiert, dass möglichst viele Leute arbeitslos oder prekär beschäftigt sind.
Ich sehe schon die strukturellen Probleme, die zu Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung führen, allerdings, zumindest bis zu einem gewissen Alter ist man in den meisten Fällen mit einer gewissen Ausbildung normalerweise in der Lage, eine Arbeit zu finden (Akademikerarbeitslosenquote ist um die 5%, Vollbeschäftigung gilt ab unter 3%, wo ist denn da bitte die prekäre Situation?). Das Problem ist in manchen Milieus schon, dass Traumarbeit, Traumwohnort und das, was der Arbeitsmarkt hergibt, nicht zusammengehen. Das muss man akzeptieren, das ist das persönliche Risiko des Lebens und der persönlichen Berufsentscheidung und wer nicht bereit ist, für seinen Traumberuf das ein oder andere Opfer zu bringen (Wohnortwechsel, kleinere Wohnung etc.), der kann sich nicht bei der Gesellschaft darüber beschweren, dass die sich weigert, ökonomisch unproduktive Lebensentwürfe über eine gewisse Grenze hinaus zu alimentieren.

Es gibt strukturelle und gesellschaftspolitische, also kurz gesagt kollektive Ursachen, aber eben auch individuelle. Keine der beiden Seiten darf einfach ignoriert und damit von ihrer Verantwortung entlastet werden. Es ist eben nur so, dass abhängig von Milieu und Berufsfeld durchaus variiert, wer mehr Verantwortung für das Scheitern trägt, der Einzelne oder die Gesellschaft.
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon musicman » Mo 4. Jul 2011, 11:03

Nanna hat geschrieben:[Das Problem ist in manchen Milieus schon, dass Traumarbeit, Traumwohnort und das, was der Arbeitsmarkt hergibt, nicht zusammengehen. ......
der kann sich nicht bei der Gesellschaft darüber beschweren, dass die sich weigert, ökonomisch unproduktive Lebensentwürfe über eine gewisse Grenze hinaus zu alimentieren.


Wir haben in Freiburg zwei Fachhochschulen für Grafik-Design mit einem output von 80 Grafikern/Jahr und die Mehrzahl will hier bleiben nach Abschluß ihres Studiums, eine ähnliche Situation im Bereich Psychologie/Sozialpädagokig ect.
Mir sind Leute bekannt die wollen nicht von hier wegzuziehen, ich kann das durchaus verstehen, die Altstadt ist lauschig, die Bächle kühlen im heißen Sommer, jede Menge Baggerseen, im Winter in 30 Min auf den Skiern, zum Essen in die badische Toscana oder ins nahe Elsaß, Elton John war auch hier vor ein paar Tagen, mit dem Intercity in 20 Min in Basel, dort schnell mal morgens im Tenguely oder beim Beyeler vorbeischauen und abends einen Schwatz mit Jogi Löw beim Edelitaliener in der Enoteca, alles gut und schön, aber kein Mensch braucht hier 80 Grafiker/Jahr und gefühlte 10.000 Psychotherapeuten.
Es gibt aber Leute die genau das anders sehen, sich weigern nach NRW zu ziehen, nur weil es dort einen Job gibt, wo sind wir denn ? Als nächstens schlagen sie mir bei der Arbeitsagentur womöglich noch Mecklenburg-Vorpommern vor, ja geht`s noch ?
Es sind mir einige dieser tragischen Existenzen persönlich bekannt, es ist ein Trauerspiel und einige wären auch Jahre nach Studienabschluß nicht in der Lage sich satt zu essen, würde die elterliche Unterstützung ausbleiben.

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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon stine » Mo 4. Jul 2011, 12:59

Nanna und musicman, ihr habt ja so recht!
Andererseits: Handwerksberufe, vor allem im Bauwesen, sind überall gefragt, nur das Ansehen der so Beschäftigten ist ein anderes. Als Maurer kann man heute auch nur punkten, wenn man vorher ein überflüssiges Germanistikstudium absolviert hat.

Wir leben in einer Gesellschaft die Bildung als Status sieht und der soll so hoch, wie möglich sein. Ein arbeitsloser Akademiker ist immer noch höher angesehen, als ein arbeitsloser Hilfsarbeiter. Da macht es nichts aus, dass das Orchideenfach zum Verdienen nicht geeignet war. Und deswegen werden auch die Kinder des hochgeschätzten Mittelstandes ins Abitur gezwungen, weil die früher noch übliche Lehre mit Gesellenprüfung heute im Mittelstand gar nicht mehr vorkommt.
Bildung wird somit inflationär und richtet sich nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel.

LG stine
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Re: Wie sieht eure politische Vision aus?

Beitragvon Lumen » Mo 4. Jul 2011, 16:47

Nur muss man, um im Orchideenfach (oder auch als Stohmann-Konstrukeur) vorher bestimmte Anforderungen erfüllt haben, die nicht jeder schafft und dabei mindestens Zeit opfern. Was Marktanforderungen angeht, liegt ihr auch falsch: die moderne Nomadin trägt diesen Titel, weil sie eben häufig umziehen muss. Dies wird von der Politik mit Begriffen wie "Flexiblisierung im Arbeitsmarkt" und "Mobilität" belegt.

Auch die Behauptung, es gäbe simple Angebot und Nachfrage-Prinzipien hauen so pauschal hinten und vorne nicht hin. Es gibt etliche Firmen, wo schlecht bezahlt wird, Hire und Fire gilt und trotzdem massiv Leute gesucht werden. Dann dreht sich das Personalkarusell eben schneller und die üblichen Angestellten müssen die höhere Arbeitsbelastung eben aushalten (deshalb ist in manchen Branchen die "freiwillige" Mehrarbeit nach Feierabend auch üblich).

Das ist deshalb so, weil es keine Lobbies gibt, die Firmen Regelungen leicht unterlaufen und obendrein z.B. Qualität nicht wirlich als festes Kriterum gilt. Klar möchte die Firma eine hohe Qualität erzielen, aber eben zum geringen Preis. Das kann man Leute wunderbar gegeneinander ausspielen, die ihre Gehälter in der Regel auch nicht kennen (und interessanterweise vertraglich oft zu Verschwiegenheit verpflichtet sind).
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