ganimed hat geschrieben:Wieso muss jemand sein allgemeines Geschick auch für ihn uninteressante Sachen für eine Prüfung drauf zu haben so umständlich beweisen? Reichte da nicht vielleicht ein IQ-Test, dessen Ergebnis man dem Abitur-Zeugnis beifügt?
Nein. Eine Prüfung ist auch ein Auswahlverfahren, das nicht nur das konkrete Wissen oder eine bestimmte Fähigkeit abprüft, sondern auch andere Eigenschaften, beispielsweise, wieviel Biss jemand mitbringt, sich in eine Aufgabe reinzustressen, selbst wenn sie an sich uninteressant ist. Diese Fähigkeit braucht man ja auch im Arbeitsleben häufig genug. Den Spruch "...und jetzt vergessen Sie mal alles, was sie bisher gelernt haben, das brauchen Sie in diesem Job eh nicht" hören Berufsanfänger durchaus berechtigt, auch wenn er natürlich die Tatsachen überspitzt. Von jemandem, der Prüfungsaufgaben aber bisher zuverlässig lösen konnte, kann man eben auch in Zukunft eher erwarten, dass er die "Prüfungen" des Berufslebens meistern wird.
Ein IQ-Test ist dagegen nur eine Aussage über das intellektuelle Potential, das jemand mitbringt. Es gibt hochbegabte "Underachiever" (nennt man üblicherweise so), die bringen IQs von über 140 mit und kriegen trotzdem in Schule und Beruf kein Bein auf die Erde. Natürlich kann man das immer über das ungeeignete Umfeld entschuldigen, das den Betroffenen an der Entfaltung hindere, aber das interessiert einen Personaler, der Leute sucht, die sich gegen die Konkurrenz durchsetzen können, zu Recht wenig. Potential allein bringt nichts, so wie das berühmte Goethezitat sagt: "Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun."
Davon abgesehen schlägt Wissen auf Dauer Begabung. Wer einen großen Wissensschatz hat, kann auch mal länger für eine Schlussfolgerung brauchen, er wird sie trotzdem schneller erreichen als jemand, der mangels Wissen überhaupt nicht zur richtigen Fragestellung vorgedrungen wäre.
Es mag ja angesichts mancher persönlichen Schulerfahrung frustrierend sein, aber umfassende Bildung ist nunmal Trumpf und Wissen ist tatsächlich Macht.
Ich habe übrigens wirklich aus dem Chemieunterricht nur noch grobes Überblickswissen, aber ich kriege unsere Wohnung blitzsauber, weil ich weiß, wo Seife und wo Säure, wo warmes und wo kaltes Wasser angebracht ist. Das mag der ein oder anderen Hausfrau banal erscheinen, aber ich freue mich jedes Mal, wenn jahrealte Verkrustungen einfach abspringen, weil ich verstanden habe, wie der entsprechende chemische Prozess ungefähr funktioniert. Ich habe auch gelernt, in einem Fach, in dem ich nicht immer beste Noten geschrieben habe, mir trotzdem das Interesse zu erhalten und ich lerne immer mehr "unnützes Wissen" aus der Schule zu schätzen. Wusstest du beispielsweise, dass eine Quarte in der Musik eine alarmierende Wirkung entfaltet und deshalb auch das übliche Tonintervall eines Martinshorns ist (und mir ist neulich aufgefallen, dass viele spannende Motive von Filmmusiken mit Quarten beginnen, z.B. Harry Potter oder Star Wars), oder das Blaulicht eingesetzt wird, weil es wegen seiner kurzen Wellenlänge am besten durch Nebel dringt? Klar ist das kein Wissen, mit dem ich unmittelbar Geld verdienen kann, aber je mehr solcher Querverbindungen ich entdecke, desto leichter fallen mir weitere Wissenszuwächse, desto besser kann ich die Welt kategorisieren, einschätzen und damit auch manipulieren und desto reichhaltiger fühlt sich das Leben einfach an. Und ich muss, bei aller Zerknirschung, eben gestehen, dass ich vieles von dem, was ich weiß, in Schule und Uni gelernt habe.
Insofern, nein das Abitur ist als Prüfungsform schon ok. Was problematischer ist, ist die Art der Wissensvermittlung, aber da sind wir uns ja einig, was den Reformbedarf angeht.