mat-in hat geschrieben:Aber ist es denn nicht ein Zeichen dafür, das Politiker - nachgewiesen fach-inkompetent und käuflich wohl auch - erst vom Bundesverfassungsgericht gestoppt werden, bei der ein oder anderen Bestrebung?
Was heißt hier "nachgewiesen fach-inkompetent"? Nicht jeder Siemens-Manager hat Elektrotechnik oder Maschinenbau studiert. Es kommt in der Politik nicht nur auf Fachkenntnis an, sondern auf sehr viele verschiedene Qualifikationen. Dazu gehören Führungseigenschaften, soziale Eigenschaften, analytische Fähigkeiten, Risikoeinschätzung, rhetorisches Talent undundund. Für die fachliche Diskussion gibt es Ausschüsse und Expertenbeiräte.
Was den Korruptionsvorwurf angeht, ist das etwas arg platt formuliert. Natürlich gibt es bestechliche Abgeordnete, und es werden z.B. von transparency international durchaus undurchsichtige Strukturen im deutschen Politikbetrieb kritisiert:
http://www.transparency.de/Politik.62.0.htmlAllerdings lässt sich daraus nicht schließen, dass es ein übliches Attribut von Abgeordneten wäre, bestechlich zu sein.
Bezüglich des Bundesverfassungsgerichtes: Die Politiker in Deutschland wissen normalerweise sehr genau, was verfassungskonform ist oder nicht. Es hat sich zu einer schlechten Sitte entwickelt, die Grenzen der Verfassung auszutesten, indem man ausprobiert, wie weit man gehen kann, ohne dass das Verfassungsgericht einen stoppt. Das Verfassungsgericht wird als Squashwand verwendet, über die man spielt, um herauszufinden, wie viel Gestaltungsspielraum man hat. Klar, das ist keine gute Entwicklung, aber es hat nichts mit Käuflichkeit oder Inkompetenz zu tun, sondern mit Berechnung und einer sehr genauen Kenntnis der politischen Spielregeln.
mat-in hat geschrieben:Und das Leute Volksentscheide fordern? Mehr direkte Demokratie? Sicher, man kann auch ein ganzes Volk manipulieren das es in seinem Sinne abstimmt, aber ich stelle mir das bei... sagen wir mal 30 millionen die zur Wahl gehen schwieriger vor als bei den 3 hanseln die dann gewählt wurden. Gut finden das immer nur Leute, die selbst davon profitieren.
Du bist unzufrieden, ok, zur Kenntnis genommen. Aber du willst mir doch nicht erzählen, dass du das auch nur bis zur Hälfte durchgedacht hast?
Das Problem der Politik in Deutschland ist
nicht die Korrumpierbarkeit von Politikern. Das klingt alles sehr verschwörungstheoretischem Firlefanz aus der überdrehten Blogosphäre. Ich meine, schau doch mal, was das für ein religiöser Gedankengang ist: Die Politiker in Deutschland sind alle dumm oder gekauft und in Wirklichkeit beherrscht eine dunkle Macht das Land (die Computergeeks der Piratenpartei schauen einfach zu viel StarWars...). Politiker sind beeinflussbar, keine Frage, aber eben nicht nur durch Geld, sondern durch Weltanschauungen, öffentliche Debatten, emotional aufwühlender Ereignisse, Wahlergebnisse, Meinungsumfragen, die persönliche Lebensgeschichte usw. Der Vorteil gewählter Repräsentanten ist aber, dass sie überprüfbar sind und nach vier Jahren rausgeschmissen werden können - was bei 30 Millionen Möchtegerns nicht so einfach geht.
mat-in hat geschrieben:Und das Leute Volksentscheide fordern? Mehr direkte Demokratie?
Wer fordert das denn eigentlich? Glaubst du etwa, die "Parkschützer" in Stuttgart sind keine Lobbyisten mit knallharten Partikularinteressen? Ich habe das schon häufig beobachtet: Es herrscht unter Befürwortern der Basisdemokratie ein unheimlicher Aberglaube, dass Basisdemokratie plötzlich zu einer effizienten, vernünftigen, weitschauenden und für alle guten Politik führen würde und vor allem, dass alle anderen Bürger plötzlich von der Vernunft befallen und ganz genau für das stimmen würden, was man selber toll findet. "Wenn alle Basisdemokraten sind, dann sind ja auch alle für denselben Gesellschaftsentwurf, dieselben Steuergesetze, die selben Infrastrukturprojekte, dann bekommen wir einen klugen Haushalt und nie wieder Verschuldung, es gibt keine Krisen, Probleme und Konflikt mehr, denn die bösen bösen Politiker, die ja so ganz anders als wir sind und denken, die sind ja endlich weg und können ihr bösartiges Projekt nicht mehr durchziehen." Sorry, wenn ich etwas polemisiere, aber genauso infantil und naiv wie es klingt ist diese ganze Denkweise auch.
Um es mal ganz plakativ runterzubrechen:
Mehr Akteure bedeutet mehr Konflikte, mehr Partikularinteressen, längere Kompromissfindung, mehr dysfunktionale Minimalkompromisse, stark reduzierte Kriseninterventionsfähigkeiten, mehr Populismus, mehr Unübersichtlichkeit, weniger Verhandlungsmöglichkeiten, mehr Blockadefähigkeiten, mehr Arbeit für jeden Einzelnen, potentiell mehr Mehrheitsterror und ganz sicher nicht Effizienz, Ausgleich und vernunftgeleitetere Debatte! Woher kommt nur dieser hochgradig widersprüchliche Glaube, man würde durch eine Verkomplizierung des Prozesses einen einfacheren Ablauf erreichen?! Kann mir das bitte mal jemand der Basisdemokratiebegeisterten hier erklären? Warum sollte Politik irgendwie einfacher werden dadurch? Ja, schon klar, du willst mitentscheiden und dich nicht so ohnmächtig fühlen, Teil eines größeren Ganzen sein, das vernünftig entscheidet und Gutes tut. Aber das gibt es nicht.
mat-in hat geschrieben:Sicher, man kann auch ein ganzes Volk manipulieren das es in seinem Sinne abstimmt, aber ich stelle mir das bei... sagen wir mal 30 millionen die zur Wahl gehen schwieriger vor als bei den 3 hanseln die dann gewählt wurden.
Lass mich das mal gegenüberstellen:
Auf der einen Seite stehen Politiker, die den ganzen Tag nichts anderes tun als Politik, die die Regeln kennen, Mitarbeiter haben, die alles für sie organisieren und recherchieren, einen eigenen wissenschaftlichen Dienst, öffentliche Reichweite, meist gute Bildung, weltläufig sind, wissen, wie in der Wirtschaft und anderen politischen Gremien entschieden wird, Interessenkonflikte kennen, Verhandlungen gewohnt sind, kurzum, die in einer von radikaler Arbeitsteilung geprägten Gesellschaft genau den Job gelernt haben, den sie machen: Das Land führen.
Auf der anderen Seite stehen mehrere Millionen Menschen, deren Alltag angefüllt ist von Arbeit, Haushalt und Familie, die wenig Ahnung vom politischen System haben (hast du, mit Verlaub, jetzt auch schon demonstriert), die alles selber machen müssen, keinen Recherchedienst haben sondern nur Google, Wikipedia und die Tagesschau, heterogenste Bildung, kompetent in Alltagsfragen aber mehrheitlich nicht gut über aktuelle tagespolitische Fragen informiert sind, die definitiv nicht weniger Vorbehalte gegenüber anderen sozialen Milieus haben als berufspolitiker (eher mehr), die von Staatslenkung mehrheitlich keinen Plan haben, von Infrastruktur im wesentlichen verstehen, dass die Bahn immer zu spät kommt und das Auto billiger ist (und dabei Anschaffung, Versicherung und Wartung unterschlagen) und die dafür gesorgt haben, dass bild.de die häufigst angesurfte deutschsprachige Nachrichtenseite ist.
Jetzt mal im Ernst? Was erzählst du dir da? Dass die paar politisch interessierten und gebildeten Freunde, die du in deinem vermutlich recht homogenen Umfeld hast, irgendwie repräsentativ sind für die deutsche Bevölkerung? Dass die gestresste Putzfrau abends Lust hat, an Diskussionen über den nächsten Bundeshaushalt teilzunehmen?
Was ist die einzige politische Frage, wo die deutschen seit mehr als zehn Jahren wirklich übereinstimmen? Der Atomausstieg. Eine relativ simpel gestrickte politische Frage mit dankbarem Feindbild, einer simplen Lösung (Meiler abschalten) und wenig Raum für Graustufen und Dissens. Millionen gehen zum Anti-Atom-Protest, ungeachtet dessen, dass jährlich mehr Menschen an Schadstoffen aus Kohlkraftwerken sterben als jemals durch atomare Einwirkung in der Geschichte gestorben sind. Nach Kinderschänderprozessen geht die Zustimmung zur Todesstrafe regelmäßig rauf, dass muslimische Horden uns überrennen wollen auch nicht gerade wenige glauben und wenn du eine Volksabstimmung über Naturheilverfahren machen würdest, würden sich deine naturalistischen Zehennägel verknoten. Oder erinnerst du dich noch an "Wir zahlen nicht für eure Krise!", diese weltfremde Parole, die 2008 zu Beginn der Wirtschaftskrise durchs Land ging? Meine Güte, bin ich froh, dass die vielen Leute, die sich hinter diesen Spruch gestellt und "Du kannst mich gar nicht seeeehen" gerufen haben, nicht in der Regierung sind. Das Volk ist nicht dumm und wichtig als Korrektiv. Es ist aber auch nicht klug! Und es wird von Launen und Moden genauso hin- und hergeworfen wie einzelne Menschen auch und es ist gut, wenn ein Puffer zwischen dem und den entscheidenden Politikern liegt, die in ein Korrektursystem eingebunden sind, das sie ständig überwacht.
Ich hab jetzt genug genörgelt, aber das noch: Denk die Sachen doch bitte mal zu Ende. "Man könnte ja irgendwie" ist keine Grundlage für die strukturelle Änderung hyperkomplexer Regelsysteme wie politische Systeme sie sind. Vor allem, kläre deine impliziten Annahmen und geh nicht davon aus, dass Schlagwörter wie "direkte Demokratie" außer toll klingen irgendetwas bringen. "Direkte Demokratie" ist ein starkes Label und die Tatsache, dass momentan wieder so viele Erlösungsphantasien auf sie projiziert werden, sagt recht viel darüber aus, wie anfällig auch große Gruppen für schlecht begründete Konstrukte sind.
mat-in hat geschrieben:Gut finden das immer nur Leute, die selbst davon profitieren.
Hausaufgabe: Wer würde von der Basisdemokratie profitieren, wer unter ihr leiden?