Sind Strafen nötig und legitim?

Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Vollbreit » Sa 28. Jan 2012, 10:30

Vielleicht können wir an dieser Stelle mal klären, wann Strafen sinnvoll und wann sie sinnlos sein könnten.

Ganz allgemein kann ich diese von Agent Provocateur dargestellten Punkte für mich unterschreiben.

Agent Provocateur hat geschrieben:Warum Bestrafung, wie können Strafen legitimiert werden?

Dazu aus dem SEP-Artikel Punishment mal eine sehr kurze Zusammenfassung auf deutsch:

- bestimmte beabsichtigte Handlungen sind schädlich für Dritte und es wäre unangemessen, von diesen Dritten zu verlangen, den Schaden still zu erleiden
- Selbstjustiz sollte ausgeschaltet werden, indem die Gesellschaft die Rechte des Einzelnen sichert und gewährleistet
- in einer gerechten Gesellschaft wird unverdiente Schikane so verstanden, dass sie individuelle Rechte verletzt und ist daher verboten und mit Strafe belegt
- damit man überhaupt von individuellen Rechten reden kann, damit diese vorhanden sind, müssen sie geschützt werden
- es ist besser, wenn das jeder individuell einsieht, als dass er bestraft / eingesperrt werden muss
- aber diese Einsicht ist nicht so wertvoll, dass sie um jeden Preis (den Preis des Verlustes der persönlichen Freiheit) durchgesetzt werden muss / dürfte
- wenn diese Einsicht nicht vorhanden ist, muss die Gesellschaft daher auf die zweitbeste Lösung (die beste Lösung wäre Einsicht aller) zurückgreifen - Verbot bestimmter Handlungen durch Gesetze - und dazu benötigt man Sanktionen durch das Strafrecht
- auch in einer gerechten Gesellschaft akzeptiert nicht jeder die Rechte der anderen - und solche Leute müssen mit Kosten belegt werden, da sonst die Unschuldigen / die Opfer die Last ihrer Taten tragen müssten. Was bedeutete, dass individuelle Rechte nicht vorhanden wären.
- daher würde jeder hinter einem Schleier des Unwissens über seine Rolle in der Gesellschaft solchen strafrechtlichen Sanktionen (aka Strafen) zustimmen
- d.h. auch: das Strafrecht muss nachvollziehbar / zustimmbar sein. Diese Zustimmung basiert hauptsächlich auf seiner Funktion, die individuellen Rechte zu schützen.


Spezieller hat mir die Argumentation der Hirnforscher (hier vor allem Singer und Roth) nie eingeleuchtet, die zunächst sagten, man dürfe überhaupt niemanden bestrafen, da niemand für sein Tun verantwortlich sei, da in Wirklichkeit das Gehirn alles entscheiden würde.

Der Selbstwiderspruch dieser Forderung liegt darin einerseits zu behaupten, dass der Mensch ist, wie er ist, ändern geht nicht (gerade darum sollte er dafür ja auch nicht bestraft werden).
Gleichzeitig ist diese Forderung ja eine die sagt: „Denkt drüber nach und ändert eure Einstellung (und das Strafrecht).

Dieser m.E. nicht so ganz schwer zu durchschauende Widerspruch ist dann bei den Hirnforschern auch irgendwann angekommen, allerdings mit dem Ergebnis, dass die darauf folgende Kursänderung (die ganz offensichtlich widerlegt, dass der Mensch sich nicht ändern kann – aber das nur am Rande) wirklich absurd wurde.

Nun hieß es, von Seiten der Hirnforscher, der Mensch sei zwar nicht für sein Tun verantwortlich (er kann tatsächlich nicht anders, darauf bestehen sie weiter), aber im Sinne der gesellschaftlichen Ordnung müsse er dennoch bestraft werden.
Das ist nun auch in meinen Augen sehr zynisch und ein weiteres Mal widersprüchlich.

Zynisch ist die Forderung darum, weil ich nicht einsehen kann, warum man jemanden bestrafen sollte, der wirklich nicht anders kann, als er kann und gar nicht einsehen kann, was er falsch gemacht hat. Im extremen Fall sollte man vielleicht andere Menschen vor so einem Menschen schützen, aber Strafe, die ja keine Rache ist, sondern auch Einsicht und Besserung abzielt Hier fällt mir in der Tat keine Begründung ein, die so eine Strafe legitimiert. (Allerhöchstens im Sinne einer Konditionierung, aber bei der wäre in meinen Augen nicht mehr der freie und mündige Bürger der Adressat).

Widersprüchlich ist diese Forderung außerdem darum, weil, wenn man es ernst nimmt, dass jemand nicht anders kann, als er tut, ihn auch die Bestrafung anderer nicht davon abschrecken würde, auch wäre eine Besserung durch Einsicht nicht in Sicht.
Ein weiteres Mal zynisch wäre eine solche Sichtweise, weil sie implizit (aber kontrafaktisch) eine Nullprognose zur Besserung verkündet. Wer mit 8 als Mutprobe im Supermarkt Kaugummis klaut, dessen Karriere als späterer Krimineller ist schon vorgezeichnet – aus dieser Sicht.

Deshalb finde ich gerade die Forderungen der Hirnforscher hierzu außerordentlich unbedacht.
Dass man Strafen ganz generell abschaffen sollte ist natürlich auch eine legitime Forderung, ich bin auf Argumente dafür gespannt.
Zuletzt geändert von Vollbreit am Sa 28. Jan 2012, 10:39, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Vollbreit » Sa 28. Jan 2012, 10:31

Teh Asphyx hat geschrieben:Klar, „sich vor Gericht verteidigen“ zu können ist ja auch nur dann möglich, wenn man sprechen kann und das möglichst frei (in Kenntnis der geltenden Gesetze).
Deswegen ist das ganze ja auch so absurd, je mehr Freiheit dem Menschen zugesprochen wird, desto eher wird dies als Rechtfertigung gesehen, ihm diese zu entziehen.


Dass jemand frei ist, ist doch keine ausreichende Rechtfertigung ihm diese Freiheit zu entziehen.
Bei uns ist das dann der Fall, wenn jemand gegen die geltenden Gesetze verstößt und als frei genug angesehen wird, dass er auch anders hätte handeln können, Einsicht in das gehabt haben könnte, was er falsch gemacht hat.

Teh Asphyx hat geschrieben:Das führt dann zu dem merkwürdigem Schluss, dass ein Mensch, der „böse“ handelt, weil er (äußeren) Sachzwängen unterworfen ist, bestraft gehört (er hätte ja nicht den Apfel nehmen müssen, er hätte ja auch an Hunger sterben können, die Wahl stand ihm frei) während ein Mensch, der aus irgendwelchen „inneren Gründen“ so handelt, nicht schuldfähig ist, obwohl gerade ihm ja „innere Gründe“ zugesprochen werden.


Das ist wirr. Wieso schreibst Du so etwas? Meinst Du das wirklich?
Ein Mensch wird nicht bestraft, weil er äußeren Sachzwängen unterworfen ist (gibt es denn Sachzwänge, die in ein Verbrechen führen?), sondern im Gegenteil, wenn erkannt wird, dass jemand in einer bestimmten Notsituation ist, wird das strafmildernd bewertet. Niemand soll verhungern und darum ist Mundraub auch nicht strafbar.
Selbst im extremen Fall der Tötung eines Menschen, gibt es strafmildernde Aspekte (wenn der Täter jahrelang von Opfer gequält und gedemütigt wurde), im äußersten Fall der Notwehr kann es sogar gerechtfertigt sein, einen anderen Menschen zu töten.

Teh Asphyx hat geschrieben:Letztlich geht es doch nur um die eine einzige Sache: Die herrschende Ordnung zu stören ist unerwünscht und wer das irgendwie nachweislich tut oder vorhat, wird aus dem Verkehr gezogen, selbst der, der nicht schuldfähig ist, weil er ja trotzdem Maßnahmen kriegt.


Natürlich, darum darf man hier auch keinen Repräsentanten des Staates kritierisen, ohne Angst haben zu müssen, in Stasi-Folterkellern zu landen, oder nachts von der Gestapo abgeholt zu werden. Undenkbar, dass jemand bei uns den Bundespräsidenten kritisiert, ohne Angst um Leib und Leben haben zu müssen. Unmöglich, dass jemand ein kritisches Wort gegen Frau Merkel sagt, oder sich gar über eine Regierungspartei wie die F.D.P. lustig macht. Es drohen stundenlange Verhöre, Zwangsarbeit und Knast. Sag mal. Wo lebst Du denn? Hast Du mal Zeitung gelesen in in den letzten 10 Jahren?

Teh Asphyx hat geschrieben:Und dieses Verhältnis…


… was von Dir auf eine groteske und weltfemde Art und Weise entstellt wird…

Teh Asphyx hat geschrieben:…kann nicht durch Freiheit begründet werden, sondern nur aus der Macht, die sich selbst erhalten will heraus.


Leben wir wirklich in so einem absolutistischen Gottesstaat?
Kann man unser Grundgesetz nicht ändern? Kann man den Staat, die Kanzlerin, einen Polizeipräsidenten nicht verklagen? Kann ein Bundespräsident hier machen was er will? Zur Erinnerung: Herr Wulff hat niemanden erschossen, gefoltert oder vergewaltigt, sondern einen Kredit zu günstigeren Konditionen bekommen als Du und ich ihn bekommen würden und dann darüber eine Aussage gemacht, die dem Begriff der Wahrheit einiges zumutet. Unsere angeblich so machtschützende Rechtsage sieht aber vor, dass nicht mal der Eindruck der Vorteilsnahme durch einen Amtsinhaber entstehen dürfe.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Teh Asphyx » Sa 28. Jan 2012, 11:26

Nee, keine Lust. Ich antworte nicht mehr auf jeden antiintellektuellen Scheiß, echt nicht. Geh wen anders provozieren.

Nur zu der Sache mit der Kritik noch was:
Es ist ja schön und gut, dass ich alles kritisieren darf, nur was nützt das? In Betracht gezogen wird meine Kritik ohnehin nur dann, wenn sie sich mit den Interessen der Herrschenden deckt. Dass auf die Inhalte der Kritik nicht eingegangen wird und nur die Möglichkeit zur Kritik selbst schon gefeiert wird und als absoluter Gegenbeweis gelten soll, ist einfach nur arm.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Vollbreit » Sa 28. Jan 2012, 12:49

Teh Asphyx hat geschrieben:Es ist ja schön und gut, dass ich alles kritisieren darf, nur was nützt das? In Betracht gezogen wird meine Kritik ohnehin nur dann, wenn sie sich mit den Interessen der Herrschenden deckt.


Oder vielleicht auch, wenn sie überzeugt?

Teh Asphyx hat geschrieben:Dass auf die Inhalte der Kritik nicht eingegangen wird und nur die Möglichkeit zur Kritik selbst schon gefeiert wird und als absoluter Gegenbeweis gelten soll, ist einfach nur arm.


Hm. Bei der Diskussion um Herrn Wulff, wird also nicht auf die Inhalte eingegangen, sondern nur kritisiert und dann freut man sich, dass man kritisiert hat?
Ich sehe es eher so, dass Herr Wulff immer noch hart am Rande des Abschusses steht, nicht weil ihn irgendwer aus einer Laune kritisiert hat und man dann einfach so zur Tagesordnung übergeht, sondern, weil man die Inhalte prüft und zu dem Schluss kommt, dass hier und da an der Vorwürfen etwas dran ist.
Wie erlebst Du denn die Diskussion?
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon stine » Sa 28. Jan 2012, 13:10

Teh Asphyx hat geschrieben:Nee, keine Lust. Ich antworte nicht mehr auf jeden antiintellektuellen Scheiß, echt nicht.
Was willst du denn damit sagen? :sceptic2:

Es gibt ein Wort, das heißt "Erziehung"!
Ich weiß, du bist doch der gewesen, der denkt, dass man Kinder nicht erziehen muss und der Vorleben schon als kritische Einflussnahme in das kindliche Naturell betrachtet.

Vollbreit hat geschrieben:Ein weiteres Mal zynisch wäre eine solche Sichtweise, weil sie implizit (aber kontrafaktisch) eine Nullprognose zur Besserung verkündet. Wer mit 8 als Mutprobe im Supermarkt Kaugummis klaut, dessen Karriere als späterer Krimineller ist schon vorgezeichnet – aus dieser Sicht.
Was sagst du denn zu dieser Aussage @Teh Asphyx?
Ist Erziehung bei straffälligen Kindern (das Strafmaß jetzt mal außer Betracht gelassen) so verkehrt?
Ist es besser alles durchgehen zu lassen und darauf zu hoffen, dass sich die Einsicht noch von selber einstellt?

Was meinst du aus intellektueller Sicht dazu?

LG stine
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Teh Asphyx » Sa 28. Jan 2012, 13:39

Vollbreit hat geschrieben:Oder vielleicht auch, wenn sie überzeugt?
Als gäbe es da einen Unterschied …

Vollbreit hat geschrieben:Hm. Bei der Diskussion um Herrn Wulff, wird also nicht auf die Inhalte eingegangen, sondern nur kritisiert und dann freut man sich, dass man kritisiert hat?
Ich sehe es eher so, dass Herr Wulff immer noch hart am Rande des Abschusses steht, nicht weil ihn irgendwer aus einer Laune kritisiert hat und man dann einfach so zur Tagesordnung übergeht, sondern, weil man die Inhalte prüft und zu dem Schluss kommt, dass hier und da an der Vorwürfen etwas dran ist.
Wie erlebst Du denn die Diskussion?
Toll, als hätte das irgendwas mit meiner Kritik am System oder irgendeine meiner anderen Aussagen zu tun. Jeder der den Staat als gesamtes kritisiert, kriegt immer wieder die Aussage „aber wenigstens darfst Du den Staat ungestraft kritisieren“, als wäre damit schon allein der Staat als solches fernab jeder Kritik, als würde das die inhaltliche Beschäftigung mit der vorgetragenen Kritik erübrigen.
Dass man bei Kritik an Wulff auf das inhaltliche eingeht ist so wunderbar wie überflüssig, weil Wulff nicht das Problem ist, schon gar nicht bei dem, wovon hier die Rede ist.

stine hat geschrieben:Ist Erziehung bei straffälligen Kindern (das Strafmaß jetzt mal außer Betracht gelassen) so verkehrt?
Es führt an der Sache vorbei, weil die Ursache nur im Kind gesehen wird. Was ist straffälligkeit? Wenn jemand gegen die herrschende Ordnung verstößt. Ich kritisiere ja gerade, dass man diese als absolut ansieht und meint, der Mensch muss der Ordnung angepasst werden und nicht die Ordnung dem Menschen und wenn es nicht anders geht, dann mit Gewalt.

stine hat geschrieben:Ist es besser alles durchgehen zu lassen und darauf zu hoffen, dass sich die Einsicht noch von selber einstellt?
Nein, es ist besser in Frage zu stellen, was hier eigentlich generell schief läuft.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Sa 28. Jan 2012, 13:52

Teh Asphyx hat geschrieben:Nee, keine Lust. Ich antworte nicht mehr auf jeden antiintellektuellen Scheiß, echt nicht. Geh wen anders provozieren.
Reiß dich zusammen!

Wenn du nicht antworten willst, dann lass es ganz einfach, du bist hier nicht zum Antworten verpflichtet, ich aber zum Reagieren bei offenen oder versteckten Beleidigungen. Und ich werde reagieren, wenn dies noch öfters vorkommt. Verstanden?
Danke für dein Verständnis.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 28. Jan 2012, 14:13

@Vollbreit

Du hast die Argumentation der harten Deterministen meiner Ansicht nach nicht korrekt dargestellt. Die behaupten nicht, dass Menschen unveränderlich wären, sondern sie meinen, dass keiner anders könne, als er jeweils tut und dass deswegen moralische Vorwürfe und Strafen unrecht seien.

Sie wären natürlich inkonsequent, wenn sie dennoch Strafen unterstützen / fordern würden, aber das tun sie nicht.

Was nun nicht bedeutet, dass sie es grundsätzlich ablehnen müssten, als gefährlich angesehene Menschen aus dem Verkehr zu ziehen. Sie würden das aber nicht als Strafe ansehen / bezeichnen, sondern als Quarantäne.

Sehr problematisch erscheint mir daran, dass dies darauf hinausläuft, die anderen nicht mehr als freie und mündige Bürger anzusehen, die daher für ihre Handlungen einstehen und die verantworten müssen, sondern, im Falle eines Normverstoßes, generell als krank und behandlungsbedürftig. Außerdem ist mir unklar, wer, wenn nicht wir, überhaupt die Akteure in dieser Welt sind. Konsequenterweise müssten die harten Deterministen ja sich selber in die Allaussage "keiner kann was für das was er tut" mit einschließen. Und wenn keiner verantwortlich ist und keiner sich rechtfertigen braucht, dann gehen die moralischen Forderungen des harten Deterministen ziemlich ins Leere, sie finden keinen Ansprechpartner, wenn es keine Akteure gibt.

P.S.: bin jetzt erst mal 'ne Woche offline.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Teh Asphyx » Sa 28. Jan 2012, 14:37

1von6,5Milliarden hat geschrieben:Wenn du nicht antworten willst, dann lass es ganz einfach, du bist hier nicht zum Antworten verpflichtet, ich aber zum Reagieren bei offenen oder versteckten Beleidigungen. Und ich werde reagieren, wenn dies noch öfters vorkommt. Verstanden?

„[A]ntiintellektueller Scheiß“ bezog sich auf die Aussage, nicht auf die Person, also krieg Dich mal wieder ein.
Was soll das eigentlich? Ist das hier ein Forum für Brights, oder eins wo sich ein Bright durch jeden jeden „freundlich formulierten“ unsinnigen Mist bloßstellen lassen darf und ja nicht irgendwie was dagegen sagen (gegen die Methode). Willst Du, dass man sich als Naturalist also einfach zurückhält und hier den bekennenden Nicht-Naturalisten einfach das Wort lässt? Denn genau dafür sorgst Du mit solchen Drohungen.

@ AgentProvocateur

Gute Richtigstellung, auch wenn Dein letzter Absatz diskussionswürdig ist (diskussionswürdig darf natürlich auch positiv gewertet werden, es ist würdig, dass man darüber diskutiert).
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Nanna » Sa 28. Jan 2012, 14:42

Teh Asphyx hat geschrieben:Es ist ja schön und gut, dass ich alles kritisieren darf, nur was nützt das? In Betracht gezogen wird meine Kritik ohnehin nur dann, wenn sie sich mit den Interessen der Herrschenden deckt. Dass auf die Inhalte der Kritik nicht eingegangen wird und nur die Möglichkeit zur Kritik selbst schon gefeiert wird und als absoluter Gegenbeweis gelten soll, ist einfach nur arm.

Auf die Inhalte wird doch hier im Forum insofern eingegangen, dass andere dir darlegen, warum sie deine Kritik nicht teilen.

Staatlicherseits müsste überhaupt erstmal geklärt werden, wer denn Adressat der Kritik ist. "Der Staat" wird sich schon deshalb nicht mit deiner Kritik beschäftigen, weil sich dort keiner zuständig fühlt - auch eben in dem, wie ich finde positiven, Sinne, dass sich niemand angehalten fühlt, strafrechtlich gegen dich vorzugehen. Darüberhinaus bist du nur eine einzelne Person. Sofern du ausreichend Mitstreiter findest, ist es gut möglich, dass jemand in den oberen Regierungsetagen deine Kritik wahrnimmt (auch die Leute da "oben" haben alle nur zwei Ohren, zwei Augen und 24h-Tage) und entsprechend reagiert. Allerdings befinden sich im Fokus deiner Kritik viele Faktoren, die in der politikwissenschaftlichen social movement theory bei der Analyse von political opportunity (historische Augenblicke, während denen das System besonders gut auf Änderungsforderungen anspricht) als betonstabil gelten und deshalb als konstante Faktoren gelten, die nur in extrem seltenen Ausnahmesituationen (z.B. revolutionäre Umstürze) verhandelbar werden. Anders gesagt, es ist vom analytischen, deskriptiven Standpunkt aus absolut erwartbar und vorhersehbar, dass deine Kritik verhallt und auch, dass das systembedingt ist und nichts mit Böswilligkeit irgendwelcher Akteure zu tun hat. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass die westlichen Demokratien im Systemvergleich sogar besonders empfänglich für Kritik sind. Äußer mal Systemkritik in Nordkorea, dann kriegst du einen schlagenden Vergleich, im wahrsten Sinne.

Ein anderes zentrales Problem deiner Kritik ist, das habe ich dir schon öfter gesagt, dass du keine Alternativen aufzeigen kannst. Alternativen sind aber unabdingbar, um Menschen zu mobilisieren. Es versteht einfach keiner, warum er sich mit deiner Kritik beschäftigen sollte, wenn er davon nichts hat außer am Ende noch Unzufriedenheit darüber, in welcher Umgebung er lebt. Du hast da, glaube ich, eine andere Motivation: Dir passt das System schon von vornherein nicht und jetzt versuchst du rauszufinden, warum. Das ist völlig ok, nur solltest du nicht die Erwartung haben, dass andere dieselbe Motivation empfinden, das System auf den Kopf zu stellen.

Das hat alles nicht viel mit dem Thema zu tun, aber dieser Punkt scheint ja trotzdem irgendwie wichtig zu sein.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Teh Asphyx » Sa 28. Jan 2012, 15:10

Nanna hat geschrieben:Auf die Inhalte wird doch hier im Forum insofern eingegangen, dass andere dir darlegen, warum sie deine Kritik nicht teilen.
Ja, nur nicht argumentativ, sondern in der Form: „Ich will das aber so und Du bist dazu verpflichtet es freiwillig auch so zu wollen.“

Nanna hat geschrieben:Staatlicherseits müsste überhaupt erstmal geklärt werden, wer denn Adressat der Kritik ist. […] Äußer mal Systemkritik in Nordkorea, dann kriegst du einen schlagenden Vergleich, im wahrsten Sinne.
Ich lebe nicht in Nordkorea, es geht doch darum, wie die Verhältnisse mich betreffen und welche Möglichkeiten ich da habe. Und da habe ich nur die Möglichkeit, mich unterzuordnen, allein schon deswegen, weil ich, um hier zu existieren auf Geld angewiesen bin. Das gepaart mit dem staatlichen Schutz des Privateigentums macht es mir unmöglich, irgendwas anderes zu tun. Und natürlich darf ich dann kritisieren, so viel ich will, weil es nichts ändert, auch dann nicht, wenn ich mit vielen Mitstreitern zusammen kritisiere, mal abgesehen davon, dass auch wunderbar verhindert wird, dass es überhaupt dazu kommt.
Dein Vergleich ist ohnehin argumentativ ungültig. Wenn ich die Verhältnisse hier kritisiere, dann bezieht sich meine Kritik auf die Verhältnisse hier und die Verhältnisse hier müssen dann der Kritik standhalten, nicht die in Nordkorea, denn auf die beziehe ich mich gar nicht. Der Unterschied zwischen Dir und Vollbreit ist aber der, dass Du wenigstens trotzdem auch inhaltliches bietest.

Nanna hat geschrieben:Ein anderes zentrales Problem deiner Kritik ist, das habe ich dir schon öfter gesagt, dass du keine Alternativen aufzeigen kannst.
Und ich habe gute Gründe genannt, warum ich das nicht tue.
Noch mal zur Wiederholung: Ich maße mich nicht an, irgendein theoretisches System erfinden zu können, das behauptet, alles gut zu machen, sondern über die Kritik der herrschenden Verhältnisse kann sich überhaupt erst in der Praxis etwas brauchbares entwickeln. Alles andere wäre Schwachsinn. Dann würde ich mich ja doch nur wieder in dem Idealismus befinden, den ich kritisiere.

Nanna hat geschrieben:Alternativen sind aber unabdingbar, um Menschen zu mobilisieren.
Nein, warum?

Nanna hat geschrieben:Es versteht einfach keiner, warum er sich mit deiner Kritik beschäftigen sollte, wenn er davon nichts hat außer am Ende noch Unzufriedenheit darüber, in welcher Umgebung er lebt.
Und was ist an dieser Unzufriedenheit falsch? Es geht doch gerade darum, sich nicht jeden Mist einfach schönzureden, da ist es unerlässlich, dass man unzufrieden ist. Wie kann das denn der Maßstab sein? Im Übrigen reagieren hier zum Großteil nur die Nicht-Naturalisten so extrem widerborstig auf meine Kritik und Du fängst dann immer an, die auch noch zu verteidigen. Ich möchte mich in einem Naturalistenforum aber nicht ständig vor Nicht-Naturalisten dafür rechtfertigen müssen, dass ich aus meiner naturalistischen Sicht heraus die Verhältnisse kritisiere. Genau das muss hier aber anscheinend die ganze Zeit sein. Schlägt man einen Lebenshilfe-Bereich vor, dann kommen gleich alle an, die sich eigentlich eh nicht als Brights sehen und fangen an zu erklären, warum wir das nicht brauchen. Schlägt man vor, den Sinn von Strafe aus naturalistischer Sicht zu hinterfragen, dann kommen sie an und sagen, dass ginge aber nicht. Schlägt man vor, ethische Handlungen auf naturalistische Realitäten zu begründen, wollen sie einem erklären, dass das nicht ginge, sondern irgendein Hirngespinnst von abstrakter höherer Ordnung dafür notwendig sein soll. Ich weiß nicht, warum ich da ständig Verständnis und Toleranz walten lassen soll, wenn doch der naturalistische Standpunkt mit Unverständnis und Intoleranz begegnet wird und das auch noch da, wo es eigentlich darum geht, von diesem Standpunkt aus zu diskutieren. Wer naturalistische inhaltliche Einwände gegen meine Kritiken und Analysen hat, mit dem diskutiere ich auch gerne.

Nanna hat geschrieben:Du hast da, glaube ich, eine andere Motivation: Dir passt das System schon von vornherein nicht und jetzt versuchst du rauszufinden, warum. Das ist völlig ok, nur solltest du nicht die Erwartung haben, dass andere dieselbe Motivation empfinden, das System auf den Kopf zu stellen.
Was meinst Du mit „von Vornherein“? Mir passt es nicht, weil es sich real auf mein Leben und das vieler anderer nicht gerade zum Positiven auswirkt. Mit diesem Standpunkt bin ich hier auch gar nicht so alleine, ich äußere mich vielleicht nur etwas radikaler.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Tante Seltsam » Sa 28. Jan 2012, 16:38

Nochmal zum ursprünglichen Thema. Ich glaube , dass Menschen vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen und Prägungen die besten Entscheidungen treffen, die sie können, sogar, wenn sie kriminell werden. Ein Mensch, der betrügt z.B., hat sehr wahrscheinlich die Erfahrung gemacht, dass er mit Ehrlichkeit nicht zum Ziel kommen kann. Er trifft aus seiner persönlichen Perspektive die beste Entscheidung, auch wenn ihm bewusst ist, dass sein Handeln ihn mit dem Gesetz in Konflikt bringt. Manche sind auch zu desorganisiert, um ehrliche Arbeit zu leisten.

Ich hatte mal ein interessantes Gespräch mit einem Typen, der war Schläger für einen Drogenboss gewesen. Er war nicht sehr helle, aber er sah schon ein, dass sein Tun falsch war. Er hatte nichts anderes gelernt als seine Körperkraft einzusetzen und sich von anderen sagen zu lassen, was er tun soll. Er kriegte eine Strafe auf Bewährung. Von seinem Temperament her war ein hilfsbereiter, netter Kerl, nur überfordert vom Leben.

Ich würde sagen, die meisten Menschen werden kriminell, weil sie nicht anders können. Trotzdem sollte die Gesellschaft deutlich machen, was nicht akzeptiert wird, und muss Sanktionen erlassen. Das Zusammenleben und Miteinanderauskommen der Menschen soll geregelt werden. Wir erlassen ja z.B. auch Sanktionen gegen den Iran, weil wir deren zukünftige Atomwaffen nicht haben wollen.

Die Gesellschaft soll versuchen, die, die vom rechten Weg abgekommen sind, zurückzubringen und für ihre Straftaten eine Wiedergutmachung zu erreichen. Das wird ja zum Teil auch so praktiziert mit Rezozialisierungsprogrammen und Sozialstunden.

Eine ganz andere Frage ist die nach den Kosten. Wenn ich’s richtig im Kopf habe, kostet ein Knastplatz im Jahr schon etwa 40.000 Euro. Das heißt es ist auch immer die Frage, wwelche Art von Bestrafung eine Gesellschaft sich leisten kann/will. Hand ab und Steinigung wie im Iran ist deutlich billiger...

Und wieder eine andere Frage ist, was als bestrafungswürdig angesehen wird. Schwarzarbeit wird kriminalisiert, obwohl allen klar ist, dass bestimmte Betriebe ohne sie schon nicht mehr existieren würden...
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Nanna » Sa 28. Jan 2012, 17:02

Teh Asphyx hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Auf die Inhalte wird doch hier im Forum insofern eingegangen, dass andere dir darlegen, warum sie deine Kritik nicht teilen.
Ja, nur nicht argumentativ, sondern in der Form: „Ich will das aber so und Du bist dazu verpflichtet es freiwillig auch so zu wollen.“

Ist das so? Ich habe das so noch nicht wahrgenommen (was nicht heißt, dass deine Diskussionspartner grundsätzlich alles richtig machen).

Teh Asphyx hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Staatlicherseits müsste überhaupt erstmal geklärt werden, wer denn Adressat der Kritik ist. […] Äußer mal Systemkritik in Nordkorea, dann kriegst du einen schlagenden Vergleich, im wahrsten Sinne.
Ich lebe nicht in Nordkorea, es geht doch darum, wie die Verhältnisse mich betreffen und welche Möglichkeiten ich da habe.

Trotzdem muss man sich klarmachen, dass unser System im Vergleich eines der kritikfähigsten ist. Daraus kann man verschiedene Schlüsse ziehen: Entweder den, dass alle weltweiten politischen Systeme in ihrer Kritikfähigkeit stark unterentwickelt sind (ich nehme an, das wäre eher deine Schlussfolgerung) oder den, dass politische Systeme insgesamt sehr kritikresistent sind (weil das, jetzt etwas mit Anleihen an die Systemtheorie gesprochen, nicht der Modus ist, in dem sie operieren (nach Luhmann wäre die binäre Codierung des politischen Systems "Macht - Nicht-Macht", während die "Wahr - Falsch"-Codierung, in deren Rahmen wohl auch deine Kritik anzusiedeln wäre, diejenige des Wissenschaftssystems ist, wo du mit einer fundierten Kritik sicher auch viel mehr Resonanz erwarten könntest). Das wäre übrigens meine Schlussfolgerung).

Teh Asphyx hat geschrieben:Und da habe ich nur die Möglichkeit, mich unterzuordnen, allein schon deswegen, weil ich, um hier zu existieren auf Geld angewiesen bin. Das gepaart mit dem staatlichen Schutz des Privateigentums macht es mir unmöglich, irgendwas anderes zu tun. Und natürlich darf ich dann kritisieren, so viel ich will, weil es nichts ändert, auch dann nicht, wenn ich mit vielen Mitstreitern zusammen kritisiere, mal abgesehen davon, dass auch wunderbar verhindert wird, dass es überhaupt dazu kommt.

Wäre die Stelle hier nichtmal ein Punkt, an dem du vorsichtig überlegen könntest, was du anstatt dessen gerne hättest? Denn die Frage, wie du es dir denn vorstellst, halte ich schon für legitim. Es gibt ja durchaus gewichtige Argumente für ein Geldsystem, für Privateigentum. Kein Geld und Eigentum ist ja erstmal auch keine Lösung. Ich weiß, dass du solche funktionalen Argumente nicht magst, aber wir kommen um den Punkt nicht herum, weil ein gewichtiger Teil der Legitimation der herrschenden Ordnung auf der Annahme fußt, dass es das beste ist, was wir derzeit kriegen können. Da wir irgendeine Art gesellschaftlicher Organisation brauchen, ist das Argument sogar ziemlich zentral. Wenn du einen neuen PC brauchst, gehst du ja auch in den Laden und kaufst den besten, den du kriegen kannst, selbst wenn der nicht exakt der ist, den du gerne hättest.

Zum Punkt der Mitstreiter: Du kannst als soziales Kollektiv schon einiges erreichen. Im Bereich der Bürgerrechte in den USA (Ende der Segregation), der Frauenrechte (rechtliche Gleichstellung der Frau, stärkere wirtschaftliche Unabhängigkeit), der Rechte Homosexueller (Abschaffung strafrechtlicher Verfolgung, zunehmende gesellschaftliche Integration), der Nuklearfrage (Ende der Kernenergie in Deutschland steht vor der Tür), den ostdeutschen Diktaturen (wurden bis auf eine alle friedlich beseitigt), der Umweltbewegung (Umweltschutz ist heute prominent in der Politik, sogar mit einer eigenen Partei) oder aktuell den Aufständen in der arabischen Welt, da hat sich schon einiges getan.
Natürlich braucht man da Frustrationstoleranz, sonst hat man einfach keine Chance. In einem Aufsatz zu ebenjener political opportunity structure, die ich erwähnt habe, schreiben William A. Gamson und David S. Meyer: "It is not merely a matter of seeing the glass half-full rather than halt-empty but seeing it as half-full when it is often 90 percent empty. [...] 'Unrealistic' perceptions of the possible can actually alter what is possible." Allerdings muss man sich klarmachen, dass die o.g. sozialen Bewegungen sich gegen Missstände richte(te)n, die analytisch Folge von Faktoren waren, die als volatile gelten und dass Alternativen (In Minderheitenfragen: Integration; bei der Kernenergie: erneuerbare Energien; bei den Diktaturen: westliche Demokratie; beim Umweltschutz: Ökologische Produktion, downsizing, Forcierung technischer Maßnahmen wie Filtertechniken etc.) zur Verfügung standen, es also eine erreichbare Utopie gab, auf die die Anhänger eingeschworen werden konnten.
In deinem Fall dagegen richtest du deine Kritik fundamental gegen Dinge, die analytisch als stable gelten, also nur mit extrem viel Aufwand geändert werden können, auch, aber nicht nur, weil sie gewohnheitsmäßig wenig hinterfragt werde, und für die keine Alternative in Sicht ist, die motivierend für Veränderung wirken könnte. Da wird "Frustrationstoleranz" natürlich zu einem echten Euphemismus.

Teh Asphyx hat geschrieben:Dein Vergleich ist ohnehin argumentativ ungültig. Wenn ich die Verhältnisse hier kritisiere, dann bezieht sich meine Kritik auf die Verhältnisse hier und die Verhältnisse hier müssen dann der Kritik standhalten, nicht die in Nordkorea, denn auf die beziehe ich mich gar nicht. Der Unterschied zwischen Dir und Vollbreit ist aber der, dass Du wenigstens trotzdem auch inhaltliches bietest.

Ich verteidige die Verhältnisse hier auch nicht durch Nordkorea, ich merke nur an, dass wir in der Reihe der verfügbaren Systeme weit außen auf der liberalen Seite sitzen. Natürlich müssen die Verhältnisse der Kritik unabhängig davon standhalten, aber das ist eine theoretische Frage. Stellt sich theoretisch heraus, dass das System der Kritik nicht standhält, folgt alleine daraus keine praktische Handlungsanleitung. Die Frage ist, ob sich dann eine solche formulieren lässt oder ob das nicht möglich ist. Wenn es nicht möglich ist und unser System nicht nur praktisch (auf die Auswahl der gegenwärtig bestehenden Systeme bezogen), sondern auch theoretisch das beste umsetzbare ist, dann ist deine Kritik tatsächlich sinn-, weil folgenlos.

Teh Asphyx hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Ein anderes zentrales Problem deiner Kritik ist, das habe ich dir schon öfter gesagt, dass du keine Alternativen aufzeigen kannst.
Und ich habe gute Gründe genannt, warum ich das nicht tue.
Noch mal zur Wiederholung: Ich maße mich nicht an, irgendein theoretisches System erfinden zu können, das behauptet, alles gut zu machen, sondern über die Kritik der herrschenden Verhältnisse kann sich überhaupt erst in der Praxis etwas brauchbares entwickeln. Alles andere wäre Schwachsinn. Dann würde ich mich ja doch nur wieder in dem Idealismus befinden, den ich kritisiere.

Das ist ja auch lobenswert - und gleichzeitig, wie ich eben darlege, ein Faktor, der dazu beiträgt, dass deine Kritik als theoretische Selbstbeschäftigung im luftleeren Raum wahrgenommen wird (und ich meine das rein beobachtend, nicht wertend). Dabei würde doch nichts daran hindern, beispielsweise eine Liste an Dingen aufzustellen, die in deiner Wunschwelt garantiert sein müssten und dann zu überlegen, welche Formen gesellschaftlicher Organisation dafür überhaupt in Frage kommen könnten. Das würde zumindest eingrenzen, über welche potentiellen Alternativen wir hier überhaupt reden.

Teh Asphyx hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Alternativen sind aber unabdingbar, um Menschen zu mobilisieren.
Nein, warum?

Wer keine Alternativen kennt, wird apathisch und sagt sich "Wozu sich erheben, es ändert sich ja eh nichts."
Alternativen sind auch vor allem dann unabdingbar, wenn du willst, dass Menschen für etwas kämpfen. Solange sie nur gegen etwas kämpfen, stehen sie im Erfolgsfall da und wissen mit ihrem Sieg nichts anzufangen, mit dem Ergebnis, dass andere Leute in das Machtvakuum vorstoßen und sich als neue Elite etablieren - und sich tatsächlich strukturell nichts geändert hat.

Teh Asphyx hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Es versteht einfach keiner, warum er sich mit deiner Kritik beschäftigen sollte, wenn er davon nichts hat außer am Ende noch Unzufriedenheit darüber, in welcher Umgebung er lebt.
Und was ist an dieser Unzufriedenheit falsch? Es geht doch gerade darum, sich nicht jeden Mist einfach schönzureden, da ist es unerlässlich, dass man unzufrieden ist. Wie kann das denn der Maßstab sein?

Es ging mir nicht darum, diese Unzufriedenheit zu bewerten, nur darum, zu beschreiben, warum keiner Lust auf Kritik hat, die ihn hinterher mit einem Gefühl der Unzufriedenheit stehenlässt. Wir hatten ja schonmal das Thema, dass ich gesagt habe, dass auch relevant ist, wie man etwas rüberbringt. Du hast dich auf die Position zurückgezogen, dass die Wahrheit sagen ausreiche und die Form unwichtig sei. Theoretisch ist das korrekt, praktisch ist es Unsinn. Weder die menschliche Psyche noch natürliche Systeme (um jetzt mal superkonsequent auf der ganz naturalistischen Schiene zu bleiben, dann ist ja auch jedes politische System pure Natur) interessieren sich dafür, was theoretisch korrekt wäre, sondern nur dafür, was praktisch funktioniert. Unzufriedenheit zu verdrängen oder sich ein System schöner reden, als es ist, funktioniert sowohl für die Psyche als auch für das System besser, als sich eine theoretische Diskrepanz einzugestehen, die man aber nicht schließen kann. Menschen sind da wie alle anderen Spezies auf der Welt auch: Sie passen sich an ihren Lebensraum an. Wenn da jetzt einer kommt und sagt "Hey, euer Lebensraum ist scheiße!", dann stehen alle einfach nur da und fragen sich "So schlimm ist es doch nicht, oder? Früher war es sogar noch schlimmer und überhaupt, wohin sollen wir denn seiner Meinung nach gehen? Das weiß der ja auch nicht, also können wir eh nur hier bleiben." Deshalb findet deine Kritik so schlechte Resonanz, unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch ist. Sie ist, so wie sie ist, unproduktiv in dem Sinne, als dass sie keine praktisch umsetzbaren Ergebnisse erzeugen kann - und das verwirrt andere Menschen, weil sie dann die Relevanz der Kritik nicht erkennen können.

Teh Asphyx hat geschrieben:Im Übrigen reagieren hier zum Großteil nur die Nicht-Naturalisten so extrem widerborstig auf meine Kritik und Du fängst dann immer an, die auch noch zu verteidigen. Ich möchte mich in einem Naturalistenforum aber nicht ständig vor Nicht-Naturalisten dafür rechtfertigen müssen, dass ich aus meiner naturalistischen Sicht heraus die Verhältnisse kritisiere. Genau das muss hier aber anscheinend die ganze Zeit sein.

Ich denke, das hat mehr mit dem zu tun, was ich oben über diesem Zitat geschrieben habe. In meinem Fall ist es übrigens wirklich eher die Sorge um das Diskussionsklima (und gerade bei extrem kontroversen Themen ist es, da bitte ich zumindest um ein wenig Verständnis, nicht immer einfach, zu erkennen, wer noch sachlich argumentiert und wer schon nicht mehr). Ich würde mir häufig wünschen, dass Diskussionen um Sachfragen mit etwas mehr Distanz zum Gegenstand und mehr Gelassenheit geführt würden, und zwar möglichst von allen Beteiligten. Vielleicht triffst du auch einfach noch nicht die richtige Darstellungsweise deiner Anliegen. Ich habe häufig das Gefühl, dass du mehr Konsens über bestimmte Dinge mit den Leuten hier voraussetzt, als tatsächlich besteht. Wenn man aber schon nicht die Prämissen teilt, dann ist vorprogrammiert, dass sich recht schnell irgendwer unfair behandelt fühlt - zumal ja auch die anderen sich einem permanenten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt fühlen, da behält einfach nicht jeder immer einen kühlen Kopf. Leider.

Teh Asphyx hat geschrieben:Schlägt man einen Lebenshilfe-Bereich vor, dann kommen gleich alle an, die sich eigentlich eh nicht als Brights sehen und fangen an zu erklären, warum wir das nicht brauchen. Schlägt man vor, den Sinn von Strafe aus naturalistischer Sicht zu hinterfragen, dann kommen sie an und sagen, dass ginge aber nicht. Schlägt man vor, ethische Handlungen auf naturalistische Realitäten zu begründen, wollen sie einem erklären, dass das nicht ginge, sondern irgendein Hirngespinnst von abstrakter höherer Ordnung dafür notwendig sein soll. Ich weiß nicht, warum ich da ständig Verständnis und Toleranz walten lassen soll, wenn doch der naturalistische Standpunkt mit Unverständnis und Intoleranz begegnet wird und das auch noch da, wo es eigentlich darum geht, von diesem Standpunkt aus zu diskutieren. Wer naturalistische inhaltliche Einwände gegen meine Kritiken und Analysen hat, mit dem diskutiere ich auch gerne.

Lass uns über den Sinn und Zweck des Forums nochmal an anderer Stelle reden. Das ist ein altbekanntes Thema/Problem, mit dem auch meine Vorgänger sich schon rumgeschlagen haben und darauf jetzt in aller Vollständigkeit einzugehen, würde mehr Platz und Zeit erfordern, als ich jetzt zur Verfügung habe.

Teh Asphyx hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Du hast da, glaube ich, eine andere Motivation: Dir passt das System schon von vornherein nicht und jetzt versuchst du rauszufinden, warum. Das ist völlig ok, nur solltest du nicht die Erwartung haben, dass andere dieselbe Motivation empfinden, das System auf den Kopf zu stellen.
Was meinst Du mit „von Vornherein“? Mir passt es nicht, weil es sich real auf mein Leben und das vieler anderer nicht gerade zum Positiven auswirkt. Mit diesem Standpunkt bin ich hier auch gar nicht so alleine, ich äußere mich vielleicht nur etwas radikaler.

Ich meine das so: Manchen Leuten passen bestimmte Dinge nicht und sie führen das auf Fehlentwicklungen innerhalb des Systems zurück, die es zu reparieren gilt. Das sind Systemkritiker, aber keine Systemgegner. Dich sehe ich eher als zweiteren, du entdeckst derart viele Missstände, dass du das ganze System in Bausch und Bogen verdammst. Deine Beobachtung, dass viele hier solche Fehlentwicklungen ebenfalls wahrnehmen, teile ich, aber ich bin nicht sicher, wo die Linie zwischen Systemkritikern und Systemgegnern verläuft. Ich denke, dass es mehr von der ersteren Sorte hier gibt. Das heißt nicht, dass deshalb keine Verständigung möglich ist, aber man sollte diesen Unterschied vielleicht im Kopf behalten. Gerade, wenn du besser verstanden werden willst, wirst du einfach nicht darum herumkommen, dir zu überlegen, wie du Leute dazu bringst, deine Sichtweise zu teilen. Ich weiß nicht, ob ich es schonmal vorgeschlagen habe: Lass uns doch mal einen Thread eröffnen, in dem wir konstruktiv eine Skizze eines Gesellschaftssystems entwerfen, das deiner Kritik standhalten würde. Das muss ja deshalb kein heilsgeschichtliches Versprechen sein, ich fände es einfach als theoretische Spielerei interessant und es würde vielleicht auch bei anderen das Verständnis für die Kernpunkte deiner Kritik verbessern, ohne dass du gleich das Image als Dauermotzer abkriegst.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Teh Asphyx » Sa 28. Jan 2012, 17:25

Tante Seltsam hat geschrieben:Ich hatte mal ein interessantes Gespräch mit einem Typen, der war Schläger für einen Drogenboss gewesen. Er war nicht sehr helle, aber er sah schon ein, dass sein Tun falsch war. Er hatte nichts anderes gelernt als seine Körperkraft einzusetzen und sich von anderen sagen zu lassen, was er tun soll. Er kriegte eine Strafe auf Bewährung. Von seinem Temperament her war ein hilfsbereiter, netter Kerl, nur überfordert vom Leben.

Vom Leben selbst? Oder nicht viel mehr vom Leben, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung für ihn vorgesehen hat?
Deine Analyse ist an sich ja echt schon ziemlich gut, nur warum schließt Du auf das Leben selbst und nicht auf bestimmte Umstände, die nicht zwingend zum Leben dazugehören müssen? Klar, man muss essen, damit man leben kann, aber der Grund, warum man nicht so ohne weiteres zum Beispiel an Essen ran kommt ist doch interessant usw.

Tante Seltsam hat geschrieben:Ich würde sagen, die meisten Menschen werden kriminell, weil sie nicht anders können. Trotzdem sollte die Gesellschaft deutlich machen, was nicht akzeptiert wird, und muss Sanktionen erlassen.
Warum sollte dann die Gesellschaft, die ihn in die Tat getrieben hat, auch noch Sanktionen erlassen? Ist es richtig, wenn eine Gesellschaftsordnung nicht zum Menschen passt, den Menschen dann an die Ordnung anpassen zu wollen, ob es ihm passt oder nicht oder sollte nicht die Ordnung am Menschen angepasst werden?

Tante Seltsam hat geschrieben:Das Zusammenleben und Miteinanderauskommen der Menschen soll geregelt werden.
Aber nach welchem Maßstab? Aufgrund irgendeiner Moral oder irgendeinem Idealbild von Gesellschaft und wenn es nicht funktioniert, dann frei nach Hegel „um so schlimmer für die Wirklichkeit“?

Tante Seltsam hat geschrieben:Wir erlassen ja z.B. auch Sanktionen gegen den Iran, weil wir deren zukünftige Atomwaffen nicht haben wollen.
Und warum nicht gegen die USA? Die war doch sogar das einzige Land, das solche im Krieg eingesetzt hat. Warum fürchtet man da keine Bedrohung, obwohl die USA ständig Angriffskriege startet und Weltpolizei spielt?

Tante Seltsam hat geschrieben:Die Gesellschaft soll versuchen, die, die vom rechten Weg abgekommen sind, zurückzubringen und für ihre Straftaten eine Wiedergutmachung zu erreichen. Das wird ja zum Teil auch so praktiziert mit Rezozialisierungsprogrammen und Sozialstunden.
Was soll der rechte Weg sein? Und warum sollte er anstrebenswert sein? Doch nicht, um Konflikte zu vermeiden, denn die Konflikte produziert „der rechte Weg“ ja selbst dadurch, dass er nicht den Menschen dient, sondern die Menschen ihm dienen sollen.

Tante Seltsam hat geschrieben:Eine ganz andere Frage ist die nach den Kosten. Wenn ich’s richtig im Kopf habe, kostet ein Knastplatz im Jahr schon etwa 40.000 Euro. Das heißt es ist auch immer die Frage, wwelche Art von Bestrafung eine Gesellschaft sich leisten kann/will. Hand ab und Steinigung wie im Iran ist deutlich billiger...
Interessant ist doch wenn überhaupt, was es der Realwirtschaft kostet.

Tante Seltsam hat geschrieben:Und wieder eine andere Frage ist, was als bestrafungswürdig angesehen wird. Schwarzarbeit wird kriminalisiert, obwohl allen klar ist, dass bestimmte Betriebe ohne sie schon nicht mehr existieren würden...
Es geht halt nunmal nicht, dass der Staat um sein Schutzgeld gebracht wird. Ja, die Frage ist in der Tat interessant, viel interessanter sogar als das Ausmaß der Strafe, denn der demokratische Staat kann sich eigentlich nur damit brüsten, die Formen der Strafen vermildert zu haben (Knast statt körperlicher Verstümmelung, die Todesstrafe ist ja nicht in allen Demokratien abgeschafft worden, also zählt die nicht), aber die Frage nach dem Warum ist wirklich weitaus interessanter, doch zum Glück hat der Staat auch an seinen Universitäten Lehrstühle eingerichtet, die für alles, so wie es ist, rechtfertigende Antworten parat haben.

@ Nanna

Für Deinen Post habe ich jetzt gerade noch keine Zeit, werde ihn später beantworten.

Du hast sehr interessante Einwände, vieles von dem habe ich auch eine lange Zeit lang als richtig angenommen, meine aber, dass ich da einigen falschen Schlüssen auf den Leim gegangen bin.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Vollbreit » Sa 28. Jan 2012, 20:08

AgentProvocateur hat geschrieben:Du hast die Argumentation der harten Deterministen meiner Ansicht nach nicht korrekt dargestellt. Die behaupten nicht, dass Menschen unveränderlich wären, sondern sie meinen, dass keiner anders könne, als er jeweils tut und dass deswegen moralische Vorwürfe und Strafen unrecht seien.


Dass sie behaupten, niemand könne anders, als er tut, ist zweifellos richtig und man kann es für die Diskussion weiter verwenden, schon weil es glaube ich hier eine privilegierte Position ist.
Dennoch hat einer der beiden prominenten Hirnforscher, ich glaube es war Roth, sich dazu hinreißen lassen sogar von präventiven Strafen zu sprechen.
Das bewegte sich argumentativ so im Grenzbereich, einerseits wurde klipp und klar gesagt, wenn es ein 100% sicheres Verfahren gibt, dann wäre das legitim – was im Grunde ja dann etwas Sinn macht – auf der anderen Seite wurde auch klar, dass es sich bei diesem sicheren Verfahren um eine Hirnuntersuchung handelt, auf der Grundlage, dass der Mensch sich eben nicht ändern kann.
Unter anderem Niels Birbaumer ist mit dieser Auffassung hart ins Gericht gegangen.

AgentProvocateur hat geschrieben:Sie wären natürlich inkonsequent, wenn sie dennoch Strafen unterstützen / fordern würden, aber das tun sie nicht.


Und auch das wurde gesagt.
Mag sein, dass es nur noch von historischem Interesse ist, aber ich versuche mal beides zu finden, kann aber nicht garantieren dass ich es finde.

AgentProvocateur hat geschrieben:Was nun nicht bedeutet, dass sie es grundsätzlich ablehnen müssten, als gefährlich angesehene Menschen aus dem Verkehr zu ziehen. Sie würden das aber nicht als Strafe ansehen / bezeichnen, sondern als Quarantäne.


Schon klar, das war auch eine Auffassung die vertreten wurde.

AgentProvocateur hat geschrieben:Sehr problematisch erscheint mir daran, dass dies darauf hinausläuft, die anderen nicht mehr als freie und mündige Bürger anzusehen, die daher für ihre Handlungen einstehen und die verantworten müssen, sondern, im Falle eines Normverstoßes, generell als krank und behandlungsbedürftig.


Das ist es in der Tat. Noch viel problematischer ist, dass in der Anfangszeit der Diskussion auch der „Normalbürger“ in dieser Art beschrieben wurde. Zwar waren nur manche kriminell, aber alle sollten von eigenen Gehirn ferngesteuert sein, in der Art, die ja bekannt ist.

AgentProvocateur hat geschrieben:Außerdem ist mir unklar, wer, wenn nicht wir, überhaupt die Akteure in dieser Welt sind.


Für Roth ist das keine Frage (gewesen):

Gerhard Roth hat geschrieben: „Mir scheint der Satz „Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden!“ korrekt zu sein, denn „eine Entscheidung treffen“ ist ein Vorgang, dessen Auftreten objektiv überprüfbar ist. Auf den linken oder rechten Knopf zu drücken (tatsächlich oder virtuell) durch eine linke oder echt Tür zu gehen ist (oder benötigt) eine Entscheidung, und man kann mit entsprechendem Aufwand experimentell untersuchen, was im Gehirn passiert, bevor und wenn diese Entscheidung getroffen wird. Falls es nun stimmt, dass es „nicht“ das wollende und bewusst erlebende Ich ist, welche die Entscheidung über eine Handlung trifft, wer entscheidet dann tatsächlich? Zumindest ist unter diesen Voraussetzungen die Aussage mancher Philosophen “Das Gehirn entscheidet nicht – das kann nur das Ich!“ falsch. Da aus der Dritten-Person-Perspektive eine Entscheidung getroffen wurde und nicht das Ich entschieden hat, kann es nur das Gehirn sein – ein weiterer „Akteur“ ist nicht in Sicht!“
(G. Roth in Ch. Geyer(Hrsg), Hirnforschung und Willensfreiheit, Suhrkamp 2004. S.77)


AgentProvocateur hat geschrieben:Konsequenterweise müssten die harten Deterministen ja sich selber in die Allaussage "keiner kann was für das was er tut" mit einschließen. Und wenn keiner verantwortlich ist und keiner sich rechtfertigen braucht, dann gehen die moralischen Forderungen des harten Deterministen ziemlich ins Leere, sie finden keinen Ansprechpartner, wenn es keine Akteure gibt.


Ja, einer von vielen Widersprüchen.
Vielleicht finde ich in der Woche Deiner Abwesenheit die alten Aussagen.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Tante Seltsam » So 29. Jan 2012, 11:37

@ Teh Asphyx

Ich stimme zu, dass es Faktoren gibt, die begünstigen, dass Menschen kriminell werden, sehr massive sogar, und ich sehe es als sinnvoller an, diese Faktoren abzuschaffen. Ist das machbar? Ich mag mich irren, aber ich nehme die Menschen so wahr, dass sie in erster Linie an ihre eigenen Interessen denken und ihren eigenen Vorteil. Dann tun sie sich zu Gesellschaften zusammen und stellen Regeln auf nach ihrem Wissensstand, um als Gesellschaft zu funktionieren. Die Interessen des Einzelnen stehen dabei oft in Konflikt mit den Interessen der Gruppe (denken wir z.B. ans Steuernzahlen). Es wird sogar von vielen als eine Art Sport angesehen, den Staat zu betrügen, aber die meisten sind clever genug, nicht so maßlos dabei zu werden, dass sie auffliegen.

Darin sehe ich den Grundkonflikt: Interessen der Gruppe vs. Interessen des Einzelnen. Was von der Gruppe als rechtmäßig erklärt wird, entspricht nicht notwendigerweise dem Gerechtigkeitssinn und z.T. nicht einmal den realen Bedingungen. Die Gruppe kann sich verändern – siehe Atomausstieg, Abschaffung der Todesstrafe (bei uns immerhin) etc. – aber die Gruppe ist viel träger als das Individuum, und es ist unmöglich, es jedem recht zu machen. Die Gruppe entwickelt Mechanismen, um die Menschen an ihre Ordnung anzupassen, da stimme ich zu.

Es hat immer Visionen einer idealen Gesellschaft gegeben und dann wurde ausprobiert, ob man das so umsetzen kann. Das ist ein Prozess, der in unserem Fall in die westliche Demokratie geführt hat. Sowas braucht seine Zeit.

Im internationalen Vergleich finde ich unseren Rechtsstaat schon ganz gut, jedenfalls würde ich nicht irgendwo anders leben wollen. Ich sehe aber ein großen Problem darin, dass unsere Leistungsgesellschaft einen Teil ihrer Mitglieder abhängt und aussortiert, so dass die nur noch von Sozialleistungen existieren können, und damit der Kriminalität Tür und Tor öffnet.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Denker » Di 31. Jan 2012, 19:56

Um dem Ganzen noch eine andere Wendung zu geben: aus SPON
Sie nennen die Lebensumstände in Somalia "apokalyptisch", bezeichnen Gericht und Staatsanwaltschaft als "ignorant". Im Hamburger Piraten-Prozess versuchen die Verteidiger, die Motivation der somalischen Seeräuber zu erklären.

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,812538,00.html.
Ist es moralisch vertretbar, die Angeklagten für ein Verbrechen, das sie in Somalia begangen haben, nach deutschem Recht zu verurteilen? Welchen Sinn haben Resozialisierungsmaßnahmen für Menschen, die aus einem zerrütteten Land kommen - und dorthin zurückkehren müssen?


Wie würdet Ihr mit den somalischen Piraten umgehen? Strafrechtlich korrekt, nach deutschem Recht? Menschlich und unter Beachtung ihrer Lebensumstände?
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Vollbreit » Mi 1. Feb 2012, 10:04

Die Fragen sind etwas suggestiv gestellt, da Du strafrechtliche Korrektheit gegen Menschlichkeit ausspielst. Das ist wie: „Freiheit oder Sozialismus?“
Vielleicht sollte man sich erst mal der Frage zuwenden, ob (und ggf. warum oder warum nicht) Strafen denn (un)menschlich sind.

Für mich sollte in einer Demokratie beides kein Widerspruch sein, allerdings ist man vor Gericht und auf hoher See bekanntlich in Gottes Hand.

Das Problem liegt halt darin, dass Gesetze eben nicht starr sind, sondern interpretiert werden müssen. Da reicht das Spektrum von dem berüchtigten Ronald B. Schill, der sich als „Richter Gnadenlos“ einen zweifelhaften Ruf aufbaute, aber immerhin die tendenziell linken und gelassen nüchternen Nordlichter beeindruckte und einer libanesischen Großfamilie in Teilen Berlins, die buchstäblich hunderte Straftaten auf sich vereint und die Ohnmacht unseres Strafrechts regelrecht vorführt.

Richter sind Menschen, haben Vorurteile, koksen, sind bekloppt, haben Krach in der Ehe, leiden unter Tunnelblick, sind ideologisiert, sind im Laufe der Zeit zynisch geworden, andere sind hyperkorrekt, manche wohlmeinend menschlich, einige werden Weitblick haben. Sie sind halt wie wir alle.
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Denker » Mi 1. Feb 2012, 12:18

Vollbreit hat geschrieben:Die Fragen sind etwas suggestiv gestellt, da Du strafrechtliche Korrektheit gegen Menschlichkeit ausspielst. Das ist wie: „Freiheit oder Sozialismus?“

Ja, zugegeben, zwei schlecht miteinander vergleichbare Gegensätze. Aber letztlich läuft es doch darauf hinaus...
Vollbreit hat geschrieben:Richter sind Menschen, haben Vorurteile, koksen, sind bekloppt, haben Krach in der Ehe, leiden unter Tunnelblick, sind ideologisiert, sind im Laufe der Zeit zynisch geworden, andere sind hyperkorrekt, manche wohlmeinend menschlich, einige werden Weitblick haben. Sie sind halt wie wir alle.

Wenn "sie halt wie wir alle sind": wie würdest Du (wohlmeinend menschlich, mit Weitblick?) als Richter entscheiden (ist natürlich eine abstrakte Frage, da wir weder die Gesetzeslage noch die Tatumstände genau kennen)??
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Re: Sind Strafen nötig und legitim?

Beitragvon Vollbreit » Mi 1. Feb 2012, 14:17

Ich weiß nicht, ob es eine Möglichkeit gibt, die Piraten nach anderem als nach deutschem Recht zu verurteilen, so rein technisch. Wenn sie aber hier vor Gericht stehen, nach welchem Recht, wenn nicht nach unserem, sollten sie verurteilt werden?

Ob man sie verurteilen sollte?
Ich meine ja, denn gerade die schlimmsten Straftäter haben oft eine grauenhafte Kindheit gehabt und sind nicht selten in einem Widerholungszwang kaum anders in der Lage, als ihr schlimmen Erfahrungen agierend weiterzugeben, also gewalttätig und grausam zu werden.

Gilt aber eben auch für Neonazis und den Mann der seine Tochter im Keller einsperrte und jahrelange sexuell missbrauchte. Wie sollten wir mit ihnen umgehen?
Ich würde das strafmildernd berücksichtigen und bin in allen nur erdenklichen Fällen für eine Kombination aus Strafe und Therapie, aber ich bin in den meisten Fällen gegen die Alternative Strafe oder Therapie, weil ich mich für genug psychologisch bewandert halte, um zu wissen, dass diese Alternative oft genug manipulativ ausgenutzt werden würde und man dann nur Therapie macht, um nicht bestraft zu werden.

Dass auf der anderen Seite viele Menschen aber erst im Knast richtige Kriminelle werden, ist eine Problematik, die ich sehe, ebenso, dass abgesehen von dem „Schuss vor den Bug“ Effekt Strafe allein kaum etwas bis nichts bringt.

Psychologisch besteht dass Problem darin, dass eine chronisch misshandelte Psyche so gut wie immer darauf mit der Ausprägung einer schweren Persönlichkeitsstörung reagiert. Diese wiederum hat als fundamentalen pathologischen Modus eine Spaltung in nur gute und nur böse Objekte. Das heißt, Weltbilder und Beziehungen werden undifferenziert als ideal oder wertlos erachtet, mit weniogen bis gar keinen Graustufen. Es gibt nur alles oder nichts, Triumph oder Niederlage und Therapie würde aus einer solchen Sicht, als triumphale Möglichkeit zur Manipulation gedeutet.
Etwas runtergekocht ausgedrückt: Warum Knast, wenn der vermeintlich leichtere Weg auch geht?

Bei den Piraten aus Somalia ist es natürlich so, dass sie sich Gefangenschaft vermutlich als 10 Jahre Folter vorstellen, geprägt durch ihre Erfahrung. Da würde ich vermutlich auch lieber sterben. Sie werden auch nicht glauben können, dass Knast nicht Folter bedeutet, allerdings brutale Knasthierarchie. Auch ihnen sollte man psychologische Versorgung zukommen lassen.
Oder es zynisch zu meinen, sind deutsche Gefängnisse vermutlich aus der Perspektive von Menschen aus Willkürregimen … ja, nicht gerade Wellness Oasen, aber erträglich. Gibt ja nicht wenige, die das genauso sagen. Ich kenne selbst in Deutschland Leute, die sich gut kalkuliert im Winter festnehmen lassen, damit sie für den Winter eine warme Bleibe haben.
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