Lumen hat geschrieben:Das gerne vorgetragene, da plakative und bekannte Übel waren die Kreuzzüge, die ich allerdings überbewertet finde (wie auch die Hexenverfolgung). Richtig schlimm, alptraumhaft und grausig war der Glaube selber was in heutiger Geschichtsfiktion gerne verschwiegen wird. Da wird völlig unverständlich von "christlichen Werten" gefaselt, wo ich wirklich den Drang hätte, jemanden die Leviten zu lesen.
Dass das Christentum über die Jahrhunderte viele Ideen inkorporiert hat, die es nicht genuin hervorgebracht hat und die teilweise sogar gegen weite Teile der Christen entwickelt wurden, ist ja ein Thema, das wir hier schon häufiger hatten. Da fehlt es den zeitgenössischen Kommentatoren tatsächlich häufig am Geschichtsbewusstsein. Die Gefahr, die ich sehe, ist nur die, dass man als Gegenreaktion nicht ein ausgewogenes Geschichtsbild dagegensetzt, sondern einfach ein Negativbild konstruiert, also den historisch unhaltbaren "christlichen Werten" eine historisch ebenso unhaltbare "christliche Tyrannei" entgegensetzt.
Lumen hat geschrieben:Hass ... Folter ... Teufel ... Demut ... Sklaverei ... Zahnschmerzen ... Fegefeuer
Okok. War nicht schön, braucht man da, wo es geschah, auch gar nicht zu relativieren. Aber ist das wirklich eine repräsentative Darstellung dessen, was im Lebensmittelpunkt der Menschen passierte? Oder ist es etwas, was es
auch gab, genauso wie heute, wo das Leben der meisten Menschen um relativ banale Sachen kreist, was aber eben nicht ausschließt, dass der Nachbar gerade seine Tochter vergewaltigt? stine Anmerkung mit der Bildzeitung muss man da gar nicht so ironisch lesen, wie sie vielleicht gemeint war: Abhängig von der Quellen- und Themenwahl kann man sehr verzerrte Bilder bekommen. Wenn man täglich die letzten Schundblätter läße, sähe man auch überall nur noch Perversität und würde sie vielleicht obendrauf, wie religiöse Fundamentalisten es ja gerne tun, monokausal dem Unglauben der westlichen Kultur anlasten.
Lumen hat geschrieben:Das ging in der frühen Moderne soweit, dass es nicht ungewöhnlich war, sich direkt dem Teufel "anzudienen", wie es dann bei einfachen Leuten der Fall war. Das war die Zeit des Aberglaubens, okkultistischer Ideen, Grimoiren (Zauberbücher mit okkult-religiósen Inhalt) usw.
Barbarei, keine Frage. Aberglaube (Glaube im Sinne naiver, nicht-intellektueller, nicht-reflektierender Form) war eigentlich schon immer weit verbreitet, abhängig gerade von der Schichtzugehörigkeit. Das ist aber kein besonderes Merkmal des Mittelalters, sondern trifft auf alle Zeiten inklusive der Moderne zu. Die Frage ist, inwiefern das Christentum und speziell die Kirche da wirklich Kausalfaktor gewesen sein können, da es ja offenbar Grausamkeit auch in vor- und nachchristlicher Zeit und in außerchristlichen Kulturen in Hülle und Fülle gab. Dass mit dem Christentum teilweise Haltungen von größter Grausamkeit korrelieren, bestreite ich dabei gar nicht - nur tun sie das im Zusammenhang mit bestimmten Spielarten säkularer Ideologien eben auch. Ich habe daher schon länger den Verdacht, dass es für die Frage, ob man ein Unmensch ist oder ein Gutmensch (meine ich positiv) relativ unwichtig ist, ob man Bright oder Super ist. Da ist eine ganze Melange an Faktoren beteiligt, die weit über die Frage des Glaubens hinausgeht.
ganimed hat geschrieben:Nanna, es mag an meiner augenblicklichen Stimmung liegen, aber es gibt auch ein zu viel Relativieren, zu viel in Frage stellen und zu viel Zögern bei Einschätzungen. [...] Im Grunde hast du also recht. Aber die Folge deiner rhetorischen Mahnung wäre, konsequent beachtet, dass wir Meister in der Meinungsenthaltung würden. Wir müssten dann bei jedem Blick auf alles immer wieder feststellen: grau. Das wäre sehr langweilig. Ich möchte wetten, dass meine Aussage "schwarz/weiß" zwar eigentlich sehr daneben ist, aber die Wirklichkeit (mittelheller Grauton, etwas weniger mittelheller Grauton) besser ausdrückt als deine: "kann man so alles nicht sagen, zu komplex, keine Meinung" Aussage. Um im Bild mit den Farben zu bleiben: manchmal ist es hilfreich und richtig, einen Filter anzuwenden, der feinste Nuancen stark überzeichnet und hervorhebt.
Ja... naja... jein. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen der unreflektierten Anwendung eines Filters und der reflektierten, die man auch anderen gegenüber transparent macht. In der ersten Form ist man dann schnell am Stammtisch und schmeißt mit dümmlichen Parolen um sich, nur um dann ein hilfloses "War ja net so gmeint" abzulassen, wenn man, viel zu spät, realisiert hat, dass man groben Stuss von sich gegeben hat.
Der Benutzung eines Filters spricht nichts entgegen, wenn man deutlich macht, dass man nur einen bestimmten Aspekt herausrücken will und dass man überzeichnet. Vor allem darf man dann nicht durch die Hintertür doch wieder ein allumfassendes Argument draus machen, so nach dem Motto "Es wird ja nicht gern gesehen, wenn man sagt, dass uns die Ausländer auf der Tasche liegen, weil, es stimmt schon, es gibt ja auch recht fleißige Türken, aber so im Prinzip, muss man sagen, stimmts ja schon, dass da viele faule Hunde dabei sind!". Das finde ich besonders fies, weil man da erst so verständnisvoll tut und in Wirklichkeit nur etwas differenzierende Patina über seine Simplifizierungen drüberstreicht, um sich gegen Kritik zu immunisieren (hast du hier nicht getan, ich übertreibe, um zu verdeutlichen, quasi selbes Prinzip rückwärts).
So kommt man aber nicht zu belastbaren Ergebnissen (ich persönlich finde grau übrigens interessant, ich meine, spanned wird es doch erst in der Komplexität). Und ganz generell muss man sich, wenn man für Wissenschaftlichkeit und Fortschritt argumentiert, schon fragen lassen, wie man das mit simplifizierenden Meinungen und Feindbildern vereinbaren kann. Oder ob man sich in einer Wissensgesellschaft Simplifizierungen überhaupt leisten sollte - das ist nicht gleichbedeutend mit völliger Meinungsenthaltung, aber man muss seine Meinung, v.a. auf Nachfrage, schlüssig begründen können.
ganimed hat geschrieben:Behalten wir nur einmal zwei Dinge im Auge, ganz grob. Das Christentum und den wissenschaftlichen Fortschritt. Ich erkenne in etwa, wie gesagt ganz grob, drei Phasen:
1) Antike: Christentum gibt es noch nicht, Vorgängerideen dümpeln in Hirtenvölkern bei Babylon. Die Wissenschaften erleben eine erste Blütezeit in Ägypten, Griechenland und Rom.
2) Mittelalter : Christentum wird führende Idee in Europa. Für die Wissenschaften geht das Licht aus und es passiert nur noch sehr wenig.
3) Neuzeit: Wissenschaft blüht in etwa dem Maße auf wie das Christentum seine Vormachtstellung einbüßt.
Wenn du den Wikipediaartikelabschnitt gelesen hättest, den ich verlinkt habe, wärst du vielleicht etwas vorsichtiger mit diesen Behauptungen.
zu 1): Naja... die Idee des Monotheismus stammt aus Ägypten, nicht wahr? So gesehen kommt eine wichtige Vorgängeridee aus Ägypten, nicht von den Hirtenvölkern. Und die Idee des Monotheismus und der Transzendenz halte ich übrigens für eine große Innovation der Zeit, die Idee ist den quasi-animistischen Kulten der Antike inklusive des griechischen Götterzoos an Eleganz deutlich voraus. Außerdem hat die kompakte Zusammenfassung des Supernaturalismus im Konzept "Gott" sicherlich die spätere Kritik an diesem Konzept enorm erleichtert.
zu 2): Zuerstmal: Du umgehst nach wie vor die Frage, ob es hier um Kausalität oder historischen Zufall geht. Und dann stimmt es schlichtweg nicht, dass für die Wissenschaften das Licht ausging. Klar, die Völkerwanderungen haben enorme Schäden angerichtet, aber sobald die vorbei waren, gab es wieder Blütezeiten. Glaubst du, die gotischen Kathedralen wären ohne fundiertes Wissen in Mathematik konstruierbar gewesen? Glaubst du, die Wikinger hätten bis Amerika fahren können ohne solide Kenntnisse in Navigationstechniken? Glaubst du, die Brille wäre ohne optische Kenntnisse erfunden worden (de facto wurde das entsprechende Wissen in, ups, Klosterbibliotheken vorrätig gehalten)? Die Philosophie war stark vom Glauben geprägt, so geht es bei Augustinus, der noch fast in die Spätantike gehört, meist darum, mit Vernunft den Glauben zu unterfüttern, aber wie selbst Lumen zugibt, gab es auch einen mittelalterlichen Aristotelismus und forschendes Experimentieren war durchaus keine verrufene Sache (es gab weder in der Antike noch im Mittelalter Einrichtungen, die man als empirische Forschungsinstitute betrachten könnte, da gab es also insofern zumindest keinen Rückschritt). Betrachtet man die Bau- und Kriegstechnik des Mittelalters, dann braucht dieses sich hinter der Antike definitiv nicht zu verstecken (ich habe ein faible für alte Steine, bin sowohl in Europa als auch im Nahen Osten schon auf allerhand Ruinen rumgeklettert und jedes Mal nur beeindruckt).
Generell war der Lebensstandard im Mittelalter gut, teilweise besser als in späteren Zeiten (kein Witz!). Klar, Hungersnöte waren bis zur Erfindung moderner Anbau- und Lagertechniken im 19. Jahrhundert immer eine reale Bedrohung, aber insgesamt war wegen der mittelalterlichen Warmzeit die Versorgungslage passabel und ermöglichte ein rasches Bevölkerungswachstum. Der Fleischkonsum war hoch (z.T. höher als heute), die Hygiene der Antike vergleichbar mit Badehäusern und allem Pipapo und auch die Kleidung war weit besser, als man den Lumpengestalten Hollywoods gestattet. Fast schon überflüssig zu sagen, dass es trotz Feudalismus durchaus kodifizierte Rechtssysteme gab und dass Sachen wie das "uis primae noctis" Fantasien des leicht durchgedrehten 19. Jahrhunderts waren, genauso wie übrigens der Keuschheitsgürtel. Man hat sich über das Mittelalter ja allerhand einfallen lassen in der Romantik...
zu 3): Ironischerweise war es ja gerade die Neuzeit, in der vieles erst mal schlimmer wurde. Die Hexenverfolgung beispielsweise war eine Erscheinung der Neuzeit, ebenso löste die Kleine Eiszeit Hungersnöte und Krisen aus. Unbestreitbar ist, dass in der Renaissance die Grundsteine für modernes Denken gelegt wurden, wobei ich es übertrieben finde, da einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit zu sehen. Das hat man erst im Nachhinein so hinkonstruiert. Die wesentliche Änderung der Renaissance zum Mittelalter war die Fokusänderung vom Jenseits auf das Diesseits. Die Religion, zumindest im westlichen Kontext, ist auf die sichere Passage der Menschen ins Jenseits fokussiert, was bedeutet, dass das diesseitige Leiden eher als Durchgangsstadium akzeptiert wird. In der Renaissance kamen Individualismus und Diesseitsfokussierung auf, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass Europa langsam begann, dem Rest der Welt davonzuziehen und nicht nur wissenschaftlich, sondern vor allem ökonomisch enorm vorlegte. Ich sehe den Niedergang des Christentums aber eher als Kollateralschaden in diesem Prozess, nicht als zentralen Gegenspieler.
Antiklerikalismus gab es bereits im Mittelalter und die Religionskritik der Renaissance war primär eine innerreligiöse. Die Reformation war ja keineswegs antireligiös, sondern zielte auf eine Reform des Glaubens ab. Individualismus (persönliche Gottesbeziehung), Fleiß, ökonomisches Fortkommen, das waren ja dann gerade im Calvinismus wichtige Werte. Die Renaissance war keineswegs weniger christlich als das Mittelalter, aber das Christentum dieser Zeit war mitbetroffen von Entwicklungen in ganz anderen Feldern und passte sich daran an (wie auch das mittelalterliche Christentum sich ebensosehr an den Zeitgeist anpasste wie es ihn prägte; oder willst du behaupten, dass mittelalterliches Christentum und antikes Urchristentum viel gemeinsam hatten?).
Der ökonomische Fortschritt hat, zusammen mit Entwicklungen und Entdewckungen auf ganz vielen Feldern, politischen, sozialen, wissenschaftlichen, geografischen, letztlich zu einer derart massiven Umwälzung der Welt geführt, dass weitere Entwicklungen losgetreten wurden, in der das Christentum einfach zermahlen wurde, weil viele seiner gedanklichen Konstrukte und Traditionen völlig aus der Zeit gefallen waren.
Um das jetzt zusammenzufassen:
1) Antike: Es gibt Wissenschaft und pantheistische Religion.
2) Mittealter: Es gibt immer noch Wissenschaft und christliche Religion.
3) Neuzeit, Moderne: Es gibt immer noch Wissenschaft, die zieht aber plötzlich so richtig davon und erobert Territorien, aus denen die Religion vertrieben wird.
Was heißt: Das Christentum hat die Wissenschaft nie abgewürgt. Die Wissenschaft und der Fortschritt waren vor dem Boost der Neuzeit relativ konstante Faktoren, denen auch das Christentum nicht übermäßig viel anhaben konnte. Nur als dann die Wissenschaft groß wurde, hat sie das Christentum mitgerissen und nicht viel übrig gelassen. Der negative Einfluss der Wissenschaft auf das Christentum war somit viel größer, als es historisch jemals umgekehrt war, Galileiprozesse u.ä. hin oder her. Nicht, dass ich da Mitleid hätte, aber man kann ja fair gegenüber dem Gegner sein.
ganimed hat geschrieben:Man muss sich dem Angeklagten, oder dem Prinzip der Vorsicht schon sehr verbunden fühlen, um da keinen Zusammenhang zu sehen und nicht zu vermuten, dass das Christentum eine Wissenschaftsbremse wäre. Und könnten nicht die islamischen Staaten als plausibles Beispiel für die Behauptung dienen, dass Fortschritt tendenziell durch Religion gebremst wird?
Ich komme dir in einem Punkt entgegen: Der Jenseitsbezug mittelalterlichen Denkens ist tatsächlich unvorteilhaft für diesseitigen Fortschritt - ABER er hat ihn nachweislich nicht verhindert. Das Problem ist, dass du einer enorm starken diskursiven Konstruktion aufsitzt, die auch noch von der dir sicher sehr sympatischen Aufklärung entwickelt wurde, was nicht gerade anregt, die eigene geistige Konfortzone zu verlassen.
Die Fortschrittsfeindlichkeit der Religion bzw. bestimmter Formen von Religion ist etwas, was in dieser Form erst existiert, seitdem es überhaupt Fortschrittsideologien gibt (logisch, oder? was es nicht gibt, kann man nicht zurückweisen). Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gab es im Grunde zwei Entwicklungen, die dezidiert Religiöse machen konnten: Die Mehrheit hat den Pfad in die Selbstaufklärung gewählt, also in Form von historisch-kritischer Bibelinterpretation immer mehr von den eigenen Glaubensinhalten hinterfragt und eine zunehmend deistische Religion entwickelt. Diese Religionsform ist ziemlich fortschritts- und modernekompatibel. Die andere Möglichkeit, die eine Minderheit gewählt hat, ist der Weg in den Fundamentalismus, der sich radikal gegen das kulturelle Projekt der Moderne stellt und alle aufklärerischen Attribute wie Selbstdenken, Relativieren, Hinterfragen zurückweist. Der Witz ist nun, dass der Fundamentalismus zunehmend die einzige Form von Religion ist, die sich der moderne "Aufgeklärte" vorstellen kann. Das führt dann zu solchen Unsinnigkeiten, wie dass Religiöse sich von Atheisten vorwerfen lassen müssen, keine "richtigen" Gläubigen zu sein, weil sie ja die Bibel nicht wörtlich nehmen usw., selbst Intellektuelle wie Dawkins fallen bereitwillig auf sowas herein. Klar, wenn man immer nur die Fundamentalisten sieht und nie eine Vorstellung davon entwickelt hat, dass es vielleicht Zeiten gab, in der diese Dichotomie von "Glauben vs. Wissen" gar nicht existierte oder nicht derart wahrgenommen wurde, dann glaubt man, es habe immer nur diese Gegensätze gegeben. Aber so einfach ist es halt einfach nicht, sorry. Da hilft auch kein Filter...
(Und wenn du willst, zeige ich dir sogar Stellen in islamistischen Texten, z.B. von Hassan al-Banna, wo er ausdrücklich das Studium der Naturwissenschaften empfiehlt; der ganze Themenkomplex Religion vs. Fortschritt ist halt einfach doch eine komplexe Sache und man kann es sich einfach nicht leisten, nicht genau hinzuschauen, schon gar nicht, wenn man sich hier als Advokat der Wissenschaft gibt)
Übrigens, die islamischen Staaten sind gerade kein gutes Beispiel für Fortschrittsfeindlichkeit, weil dort a) im Mittelalter ein reges Gelehrtentum bestand und b) viele Rückständigkeiten ökonomische und politische Gründe haben. Die Abwehr gegen die europäisch geprägte Aufklärung hängt nämlich auch stark mit der Erfahrung des europäischen Imperialismus zusammen. Umgekehrt sind die wissenschaftlich führende Nation der Gegenwart die USA, die stark religiös geprägt sind.
ganimed hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Ich finde es übrigens auffallend, wie die Konzeption des Mittelalters aus Sicht des Europas der Hochmoderne (19. Jahrhundert, frühes 20. Jahrhundert) dem kolonialen Diskurs gleicht. Das "Fremde", der "Andere", ist da immer rückständig, irrational, barbarisch und religiös
Ich sehe noch nicht ganz die Entsprechung. Beim Blick auf das Mittelalter betrachten wir doch eben nicht das Fremde, sondern die eigenen Vorfahren und die eigenen Kulturentwicklung. Insofern halte ich unseren Vorwurf, dass unsere Vorfahren damals rückständig, irrational und barbarisch waren, hier zur Abwechslung mal einfach nur für richtig.
Und was wir europäische Konsumenten den ganzen Tag tun ist immer so wahnsinnig rational, ja?
Turnschuhe aus Kinderarbeit oder IPhones mit seltenen Erden, irgendwo zusammengeklaut und dann von unterbezahlten Arbeitssklaven zusammengeschraubt, sowas kaufen, das ist nicht barbarisch? Die Mehrheit der Bevölkerung glaubt allen möglichen Bullshit, von Esoterik über Verschwörungstheorien bis hin zu Vorurteilen gegenüber allen möglichen Minderheiten, das ist nicht rückständig? Ich halte es ja heute auch für besser, aber so weit, dass wir uns zurücklehnen und feixend auf andere Kulturen und Zeiten herabblicken können, sind wir noch lange nicht. Und klar betrachten wir etwas Fremdes, wenn wir ein Jahrtausend zurückgehen. Kulturell hast du mit einem Facebookjapaner nämlich bald schon mehr gemeinsam als mit einem deutschen Mittelalterknecht.
Was ginge dir denn verloren, wenn du dein Feindbild Christentum etwas relativieren müsstest? Brauchst du das zur Selbstversicherung deiner eigenen Identität? Ich persönlich weiß auch so, dass ich Naturalist bin, ich brauche keinen historisch-verdrehten Scheinwerfer, in dem ich besser dastehe. Das christliche Mittelalter ist für mich ein Durchgangsstadium der Geschichte, interessant zu betrachten, aber nichts, über das ich mich moralisch echauffieren müsste und auch nichts, von dem ich Schlüsse auf heutige religiöse Fragen ziehen könnte.