laie hat geschrieben:was versteht man unter "religiöser Moderation"?
Dennett meint damit Leute, die zwar selber nicht unbedingt glauben, aber an "Glauben glauben" also dem Glauben oder der Religion eine positive Wirkung zuschreiben. Leute mit dieser Position sind gelegentlich päpstlicher als der Papst und verdrehen bisweilen religiöse Aussagen, oder spielen sie herunter, damit Religion oder Glaube nicht im falschen Licht erscheint. In Deutschland sind das oft Leute die sich für besonders tolerant halten und auf keinen Fall engstirnig, verbohrt oder intolerant herüber kommen wollen. Diese Leute werfen sich dann reflexartig zwischen die Fronten, beschimpfen Kritiker von Religionen als fremdenfeindlich und so weiter. Überhaupt ist Fremdenfeindlichkeit ihr Standard-Feindbild sodass sie sich über die Abgrenzung identifizieren. Entweder wollen sie, dass Deutschland besonders positiv erscheint und sind sozusagen eine noch finstere Inkarnation des deutschen Schrebergärtners oder das Gegenteil, hassen alles deutsche. Sie bilden also das ab, was Winston Churchill in einem Satz über die Deutschen sagte: "Germans are either at your throat or at your feet". International taucht der Typus natürlich auch auf.
Aktuell gibt es diese Position auch bei der Diskussion zum Beschneidungsurteil. Das sind treffsicher die Leute, die dann mit medizinischen oder hygienischen Vorteilen der Beschneidung daherkommen weil sie wohlmeinend den Religiösen unter die Arme greifen wollen. Dabei spielen diese Dinge für religiöse gar keine Rolle, sondern eben die Religion. Für Religiöse ist es auch egal, ob die Behandlung bei Kindern effektiver ist, als bei 16 oder 18 Jährigen. Juden wollen die Beschneidung im Kleinkindesalter aus religiösen Gründen, nicht weil es dann besonders effektiv ist. Ich will jetzt nicht den Beschneidungsthread hier fortsetzen, sondern die "dritte Position" darstellen.
laie hat geschrieben:Und du meinst, daß der 11. September der Auslöser war für die Radikalisierung der theistischen wie atheistischen Bewegungen? Geht das nicht schon zurück auf Huntingdon, clashes of civilisation?
Die "atheitische Bewegung" war vorher nicht nennenswert, daher würde ich nicht unbedingt von Radikalisierung sprechen (käme auf den Maßstab an, den du meinst). Die Thesen vom Kampf der Kulturen kenne ich nur oberflächlich, kann ich also nicht beantworten, ob es das trifft.
Die Gründe sind meiner Ansicht nach sehr vielschichtig. Ich versuche mal ein paar Punkte aufzuführen:
- Leitkultur und 11. September: 9/11 hat eigentlich erst den sog. "religiösen Fundamentalismus" ins breite Bewusstsein geholt. Dabei hat die Bush Administration die Welt in gute Christen und böse Moslems aufgeteilt (Axis of Evil) und es wurde auch in Deutschland versucht, die Leute dazu zu bewegen sich unter dem Christenkreuz als "Leitkultur" zu versammeln. Die Opposition, vor allem die Grünen haben mit dem Multi-Kulti Schlagwort dagegen gehalten. Jedenfalls war Religion wieder ein Thema. Als Sahnehäubchen behauptete der letztes Bundespräsident Christian Wulff, dass Judentum, Christentum und Islam zu Deutschland dazu gehörten. Von Konfessionslosen, der Aufklärung und ähnlichen Dingen war überhaupt keine Rede.
- Ratzinger wird Papst, oder nach Bild "Wir sind Papst". Hat ebenfalls Religion in die Schlagzeilen geholt.
- Skandale um Kirchen und Kirchenvertreter (Käßmann fährt betrunken Auto, Priester vergehen sich an Kindern, Bischöfe decken Missbrauch ...) haben Kirchen und ihre Rolle als moralische Instanz wieder zum Thema gemacht. Es kamen da eventuell empörende Vergünstigungen zur Sprache, jene Millionen die jedes Jahr stillschweigend aus Steuermitteln überwiesen werden. Andere kritisierten die Kirchen oder Vertreter zwar scharf in der Sache sind aber wie o.g. daran interessiert, dass die Institution an sich positiv davon kommt und so werden Artikel zu Trunkenheit am Steuer dann Werbetexte für religiöse Personen, die auch nur Menschen seien usw.
- USA: Bibeltreue Christen vs. Wissenschaft: Richard Dawkins und andere Biologen, wie PZ Myers und neuerdings auch Jerry Coyne sind zwangsweise in die Bewegung rein gerutscht, da in den USA religiöse Lobbies der Evolutionstheorie den Kampf angesagt haben. Die Wissenschaftsfeindlichkeit betrifft auch Astronomen wie Lawrence Krauss. Man muss dazu verstehen, dass über 30% der Amerikaner laut Gallup "sich aufregen würden" wenn an Schulen Evolution gelehrt werden würde! Mehr als die Hälfte der Amerikaner sind Kreationisten, ein Drittel davon halten Intelligent Design für wahr. Diese Zahl ist nahezu konstant. Organisationen wie Templeton Foundation oder das Discovery Institute beeinflussen professionell die öffentliche Meinung und versuchen mit Kampagnen für religiöse Inhalte Werbung zu machen. Dabei wird auch gezielt Druck auf Lehrer aufgebaut. Die beeinflussung reicht bis in die Schulbücher hinein, z.B. über das Texas Board of Education. Das ist deshalb strategisch interessant, weil die texanischen Schulbücher, bzw. die Texte auch für weniger bevölkerungsreiche Bundesstaaten Verwendung finden. Dawkins hat eigentlich mit Selfish Gene (1976) und Extended Phenotype (1982) angefangen, und dann durch Reaktion der Kreationisten the Blind Watchmaker (1986) vorgestellt. God Delusion (2006) war dann die eigentliche Abrechnung. Bemerkenswert ist vielleicht noch, dass die "Wall of Separation" (Trennung von Kirche und Staat) in den USA einerseits sehr ernst genommen wird, dann aber auch wieder heftig getrickst wird. So gibt es Organisationen wie der "Good News Club" die versuchen gezielt Schulkinder knapp außerhalb der Schulen zu beeinflussen, oder erlaubte Nutzung der Schulräume nach der Schule durch Trickserein für die Kinder wie offiziellen Unterricht aussehen zu lassen usw. Solche Sachen haben zugenommen werden aber schneller dank Internet und Gegenöffentlichkeit bekannt, was auch wieder mobilisierend wirkt.
- USA: Reiche Spender, evangelikale Profiteure: Rechte und Evangelikale haben durch spendable Gönner, unter anderem Koch Industries, an politischem Einfluss gewonnen. Koch hat praktisch die Tea Party hochgezogen. Das sind bildungsferne, sehr religiöse Schichten die man auf die Straße geholt hat, weil sie mit ihren Slogans den reichen Republikanern, Öl-und-Chemie-Konzernen (wie Koch) dienlich sind. Die Wissenschaftsfeindlichkeit und "Teach the Controversy" Nonsense ist dort hilfreich um "grüne" Trends abzuwürgen, und um die öffentliche Meinung bezüglich Klimawandel zu eigenen Gunsten zu beeinflussen. Koch und auch der Ex-CEO von Halliburton Dick Cheney (Vize-Minister unter Bush) profitieren durch die zusätzliche Reibung die da entsteht. Jedenfalls, im Fahrwasser der wissenschafts- und bildungsfeindlichkeit, kamen auch stark fromme Nullnummern nach oben, sodass die heutige Republikanische Partei praktisch komplett von rechten Evangelikalen kontrolliert wird.
- USA: Kulturkampf: Edit. Ist mir noch eingefallen. In den USA vor allem hat sich das Land durch Bush stark ideologisch geteilt. Das hat die Dynamik stark angefeuert und zieht sich durch verschiedene Konflikte hindurch, unter anderem Verhütung, Abtreibung und Homosexuellen-Ehe. Hier haben extreme und oft auch religiöse Akteure stark an Lautstärke gewonnen, zum Beispiel die Westboro Church (skandieren mit "God Hates Fags") oder Fernsehprediger wie Pat Robertson. Das hat dazu geführt, dass sich entlang der ur-amerikanischen Bruchkante Republikaner/Demokraten nun auch Theisten/Atheisten dazu gesellen, wie man an Bill Maher oder Jon Steward sehen kann (die --früher undenkbar-- als Demokraten oder Liberale, sich nun genötigt fühlen, auch als Atheisten aufzutreten).
- Aufklärerisches Internet: Es hat sicherlich auch eine aufklärerische Wirkung, insbesondere auch dank Wikipedia, YouTube und Foren. Ich glaube, dass es dadurch auch einen grundlegenden Wandel gegeben hat. Über kurz oder lang setzen sich bessere Argumente durch und ein leichter und anschaulicher Zugang zu Information tut sein übriges. Wer konnte sich ohne Internet z.B. mit Quantenphysik auseinandersetzen? Jetzt kann man dazu Filme auf YouTube angucken und zumindest eine grobe Idee bekommen (als Beispiel). Umgekehrt, platzt der Lack ab, wenn Skeptics Annotated Bible/Koran/Mormon die heiligen Texte schonungslos offen legt und wie Guttenbergs Doktorarbeit ein Heer an Leuten jeden Fehler, jede Ungereimtheit aufdecken. Alles gefundene spricht sich im Netz schnell herum und auch Argumente werden sehr breit gestreut und haben viele Leute quasi bewaffnet. Religionen haben da ja nichts zu bieten, weshalb sie den Info-Krieg im Netz verloren haben (wird vor allem auf YouTube in den Kommentarspalten peinlich deutlich).
- Internet Organisation: Atheisten konnten sich durch das Internet nun auch besser organisieren und austauschen. Viele, wie der bekannte YouTuber AmonRa gaben an, dass sie in ihrem Umfeld früher so gut keine Atheisten kannten. Gerade in den USA rangiert Atheismus bei Beliebtheitswerten (auch ohne Dawkins) ungefähr auf dem Niveau von Kinderschändern (laut Gallup), weshalb viele sich dort nicht "outen".
Als wichtigste Gründe, zusammenfassend, würde ich den 11. September (9/11) und das Internet benennen. Durch das Internet und durch die Art der Konflikte in den USA strahlt die Situation dort aber ins "Global Village" ab. Einige der Punkte erklären auch, warum es einen neuen Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaften gibt, den es zu Goulds Zeiten (NOMA) offenbar so noch nicht gab und auch in Europa so eher keine Rolle spielt. Das kommt wie oben ausgeführt eigentlich von den bibeltreuen Christen, und dem Einfluss, den die Gruppe erhalten hat.
Jedenfalls haben diese vielschichtigen Gründe mich und offenbar viele andere dazu gebracht, sich stärker zu Wort zu melden.