Widerspruchsproblematik

Widerspruchsproblematik

Beitragvon laie » Do 19. Jul 2012, 08:54

Hallo, vielleicht ist das hier ein schönes Thema. Es geht um die provokante Behauptung, daß die Beschreibungsversuch dessen, was zum Gegenstand wissenschaftlicher Theorien gemacht werden kann, zu einer Widerspruchsproblematik führt. Statt des sperrigen "was zum Gegenstand wissenschaftlicher Theorien gemacht werden kann" spreche ich im folgenden kurz von der "weltlichen Wirklichkeit". Gemeint ist aber immer "was zum Gegenstand wissenschaftlicher Theorien gemacht werden kann".

Worin besteht nun die behauptete Widerspruchsproblematik?

Sie kann an drei grundlegenden Bereichen konstatiert werden:

1. Veränderung und der damit verbundenen Frage nach Identität und Nichtidentität
2. Sein und Nichtsein
3. Wahrnehmung

Jedem dieser drei Bereiche ist allgemein gemeinsam, daß man zur Beschreibung eine Einheit aneinander ausschließender Gegensätze behaupten muss. Wenn ein Mensch z.B. im Laufe seines Lebens neue Erfahrungen hinzugewinnt, alte Denkmuster "über Bord wirft", bei einem Unfall ein Bein verliert, ja, auch wenn die Zellen aus denen er besteht, im Laufe des Lebens fortwährend ersetzt werden: wir sprechen trotzdem von demselben Menschen, obwohl er nicht derselbe ist. wir müssten also streng genommen sagen: er ist nicht mehr derselbe. Aber wenn dieser Mensch sich etwas zu schulden kommen lässt, kann er nicht sagen: ich bin nicht der, den ihr sucht, ich bin ein anderer.

Das zweite Beispiel entnehme ich der Summa Theologiae von Thomas von Aquin. Dort heisst es im ersten Buch, Quaestio 86, Artikel 3:

THOMAS V. AQUIN, S. th. I q86 a3 c hat geschrieben:Die kontingenten Dinge können in zweierlei
Weise betrachtet werden: einmal, insofern sie kontingent sind, zum anderen, insofern an
ihnen etwas an Notwendigkeit zu finden ist. Nichts ist nämlich so kontingent, daß es nicht
etwas Notwendiges an sich hat. So ist der Sachverhalt, daß Sokrates läuft, zwar in sich
kontingent. Aber das Verhältnis des Laufens zur Bewegung ist notwendig; denn es ist notwendig,
daß sich Sokrates bewegt, wenn er läuft. (zitiert nach Peter Knauer, 1991)


Das dritte Beispiel bezieht sich auf die Wahrnehmung:

Peter Knauer, 1991: 46 hat geschrieben:Als drittes Grundbeispiel für Gegensatzeinheit sei die Weise unserer Erkenntnis
weltlicher Wirklichkeit genannt. In jedem Bewußtseinsakt besteht eine Einheit
von Vollzug und Gehalt. Sie läßt sich nicht als nachträgliche Verbindung
unabhängig voneinander bestehender Größen verstehen. Ein Bewußtseinsgegenstand
kann nur als Moment an einem Bewußtseinsakt Bewußtseinsgegenstand
sein. Umgekehrt ist auch kein Bewußtseinsakt denkbar ohne einen Bewußtseinsgegenstand.
Als real bestehend ist der Bewußtseinsgegenstand unabhängig vom
Bewußtsein; als Bewußtseinsgegenstand ist er jedoch abhängig vom Bewußtsein.
Nun aber ist der Bewußtseinsgegenstand als solcher mit dem Bewußtseinsgegenstand
als solchem identisch und somit zugleich vom Bewußtsein unabhängig
und gerade darin abhängig. Wie läßt sich dieser Sachverhalt in seiner Beschreibung
definitiv von einem eigentlichen Widerspruch unterscheiden? (Hervorh. im Original)


@alle: Was wisst ihr über die Behebung dieser Widerspruchsproblematik? Welche Theorien, Meinungen usw. gibt es?
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon Vollbreit » Do 19. Jul 2012, 18:51

laie hat geschrieben:Wenn ein Mensch z.B. im Laufe seines Lebens neue Erfahrungen hinzugewinnt, alte Denkmuster "über Bord wirft", bei einem Unfall ein Bein verliert, ja, auch wenn die Zellen aus denen er besteht, im Laufe des Lebens fortwährend ersetzt werden: wir sprechen trotzdem von demselben Menschen, obwohl er nicht derselbe ist. wir müssten also streng genommen sagen: er ist nicht mehr derselbe. Aber wenn dieser Mensch sich etwas zu schulden kommen lässt, kann er nicht sagen: ich bin nicht der, den ihr sucht, ich bin ein anderer.


Das Merkwürdige ist, dass wir einem Menschen durchaus zugestehen, nicht mehr derselbe zu sein, wenn er in Richtung eines Abbaus der Fähigkeiten geht, wenn er psychotisch oder dement wird.
Irgendwann fällt er dann sogar aus der Strafmündigkeit heraus.

Einem Menschen, der sich in die andere Richtung gravierend geändert hat, würde wir zumindest die Strafe nicht erlassen. Das vielleicht aber auch deshalb, weil zur Strafmündigkeit die Einsicht in die eigene Schuld gehört, die im ersten Fall nicht mehr gegeben wäre.

Die andere Sache ist, dass man ja auch sich selbst so sieht, dass man durchaus noch etwas mit dem auf dem Bild von der Einschulung zu tun hat.
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon ujmp » Do 19. Jul 2012, 19:34

Das sieht hier nach "Toter Hering" aus, oder?
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon mat-in » Do 19. Jul 2012, 21:10

Rot, ich dachte das heißt roter Hering...?
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon ujmp » Fr 20. Jul 2012, 20:53

Der hier ist rot und tot. :mg:
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon Vollbreit » Sa 21. Jul 2012, 15:01

Ein Widerspruch bein Widerspruch 1 liegt m.E. auch darin, dass derjenige, der behauptet er sei ja gar nicht mehr derselbe wie zuvor, sich bei dieser Behauptung implizit auf genau den "Kern" bezieht, der geleugnet werden soll.
Wenn ich mich (jetzt) mit mir (damals) vergleiche, wird dies im Grunde durch überdauernde Kontinuität ermöglicht, von der dann behauptet wird, dasss es sie nicht gibt.
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon laie » Fr 27. Jul 2012, 15:33

Folgendes Identitätsbeispiel gefunden:

Thomas Hobbes hat geschrieben:„Werden in diesem Schiff nach und nach alle Planken durch neue ersetzt, dann ist es numerisch dasselbe Schiff geblieben; hätte aber jemand die herausgenommenen alten Planken aufbewahrt und sie schließlich sämtlich in gleicher Richtung wieder zusammengefügt und aus ihnen ein Schiff gebaut, so wäre ohne Zweifel auch dieses Schiff numerisch dasselbe Schiff wie das ursprüngliche. Wir hätten dann zwei numerisch identische Schiffe, was absurd ist.“
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon Andilein » Mi 22. Aug 2012, 08:30

Beim Menschen zählt in unserer Gesellschaft der Charakter und der Geist, auch wenn ich diesen Begriff ungern benenne. Einstellungen, Eigenschaften, Wissen, Gedächtnis. All das sind Dinge, die trotz Zellaustausch und so weiter aktiv sind. Wenn man ein Bein verliert, kann man eines Verbrechens durchaus schuldig gesprochen werden, aber wenn man den Verstand verliert, nicht mehr; zumindest macht man das nicht in einem humanistischen Staat. Vermutlich sind wir eine Gesellschaft des Geistes und des Verstandes. Nur nicht greifbare Dinge zählen. Körperliche Veränderungen werden nicht als so gravierend eingestuft, dass man dann ein ganz anderer Mensch ist.

Mit dem Schiff ... das ist ganz interessant. Sieht man das Schiff als ein Individuum, ist es stets dasselbe Schiff. Es ist ja kein neu geschaffenes. Wenn das Schiff jetzt "Clara" heißt, wird es auch nach vielen, vielen Veränderungen "Clara" heißen und ist von mir aus das Schiff von mir. Mein Schiff. Ich kriege ja durch Restauration kein neues Schiff. Das heißt, man kann dort leblosen Gegenständen eine Individualität zusprechen.
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon laie » Mi 22. Aug 2012, 16:46

Aber die Veränderungen, die ein Mensch während seines Lebens durchmacht, ihn Dinge ganz beurteilen lässt usw., all das macht ihn doch auch zu einem anderen, streng genommen oder? Trotzdem beharren wir auf der Identität von Person, sagen folglich: Es ist unmöglich, daß der Mensch X nicht Herr A ist, sofern X Herr A ist. Oder: Es ist notwendig, daß X Herr A ist, sofern X Herr A ist.

Auf der anderen Seite aber müssen wir zugeben, daß das, was ihn zum Herrn A gemacht hatte, eben jetzt nicht mehr gilt. Es ist folglich überhaupt nicht notwendig, daß X Herr A ist, denn dieser X hat sich eben verändert. In der Veränderung steckt also sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Nichtnotwendigkeit. Und das geht nicht. Logisch.
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon Andilein » Mo 27. Aug 2012, 02:48

Man könnte auch genetisch rangehen. Jeder hat einen eigenen genetischen Fingerabdruck. Ausgenommen eineiige Zwillinge. Aber an sich ... Aber ich glaube, das ist eine der vielen Fragen, die man so oder so beantworten kann. Es ist eben philosophisch und man muss mit dem Verstand rangehen. Wir wissen, dass wir wir bleiben, wenngleich wir uns vielleicht verändern. Es ist durchaus interessant mal darüber nachzudenken. Genmaterial bleibt ja dasselbe. Es verändert sich ja nicht, außer, ich setze mich einer Strahlungsquelle aus, weil ich Brennstäbe sortieren muss oder so. Nach diesem Bauplan werden die Zellen zusammengebaut und deshalb ist man derselbe. Sonst könnte sich ja irgendwann ein Rüssel bilden, wo mal die Nase war. =)
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Re: Widerspruchsproblematik

Beitragvon Nanna » Di 28. Aug 2012, 01:12

Die genetische Ausstattung lässt aber keinen Rückschluss auf die soziale Identität eines Menschen zu. Du bringst ja selbst die eineiigen Zwillinge ins Spiel, die sich häufig trotz höchst ähnlicher Ausgangsbedingungen stark unterschiedlich entwickeln. Und wenn der eine, früher lebensfrohe, Zwilling seinen Partner verliert und als Folge jahrelang depressiv ist, ist das eben nichts, was sich im Genmaterial widerspiegelt (stimmt meines Wissens auch nicht ganz, Lebenserfahrungen starken Ausmaßes wie schwere psychische Traumata können zu Veränderungen des Erbguts führen, so dass z.B. die Kinder traumatisierter Mütter eine genetische Neigung zu Depressionen entwickeln können, die in der Großelterngeneration noch nicht da war).

Entscheidend ist aber, dass unsere Identität von deutlich mehr Faktoren abhängt, also vom Bauplan des Körpers. Die Hirnstruktur wird stark von Erfahrungen geprägt und von unserer psychischen Verfasstheit hängt widerum unsere soziale Identität ab. Zudem ändert die Hirnstruktur sich permanent, genauso wie das Ich-Bewusstsein, das wohl auch nur eine sehr fragile Projektion unseres Gehirns ist, die wird zwar als konstant wahrnehmen, die aber im Grunde permanent angepasst und mit einem passenden Narrativ versehen wird, das die Beziehungen zum Umfeld regelt, welches sich seinerseits permanent wandelt. Vor dem Hintergrund ist die Rekursion auf genetische Identität ungefähr so sinnvoll wie zu behaupten, dass ein Auto, das aus dem Schrott eines Boots gemacht wurde, dasselbe sei, wie das Boot, weil die Eisenatome identisch sind. Dabei ist die physische Identität der Atome für die Identität als Auto oder Boot von geringer Relevanz und hat ebenso einen sehr geringen Anteil an den Faktoren, die eine Identität konstitutieren. Das bringt uns also so nicht weiter.
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