von Vollbreit » Mo 22. Okt 2012, 13:07
@ Van:
Ob diese Bilanz „falsch“ ist, kann man m.E. nicht beantworten.
Es kommt halt drauf an, auf was man sein Augenmerk richtet.
Bei Lütz wird es sicher eine unbestreitbare Erfolgsgeschichte sein, mit gelegentlichen Ausrutschern, bei Deschner eine einzige Katastrophe, mit gelegentlichen Zufallstreffern.
Dann geht der Streit darum los, wer die wirkliche Wahrheit darstellt, ungeschminkt und unverstellt. So, wie es wirklich war. Der unbestechliche Historiker. Aber was genau sind überhaupt die Kriterien, anhand derer man behaupten kann, jemand sie unbestechlich und gewissenhaft vorgegangen?
Geschichtsschreibung ist immer Interpretation und ist, wenn man sie ernsthaft betreibt, ein schwieriges Geschäft. Man kann schon nahe genug an den Fakten bleiben und Lücken durch Interpretation schließen, die belegbar sind, sollte aber nicht mehr hineingeheimnissen, als die Quellen tatsächlich hergeben.
Und was ist die Wahrheit über den Autounfall an der Kreuzung, die 1990er Jahre oder Deine Schulzeit? Drei Zeit- oder Augenzeugen, vier Meinungen.
Man könnte Dir sagen, dass Du als Zeitzeuge Deiner eigenen Schulzeit einen völlig subjektiven Blick hast und sicher sind Deine Empfindungen subjektiv, aber sind sie deshalb falsch?
Einige der Kinder von Thomas Mann beschreiben ihren Vater als kalten Egozentriker, dessen Diktat sich alle unterzuordnen hatten, Elisabeth Mann Borgese beschreibt ihn als warmen, gütigen Vater.
Ist Alice Schwarzer die Ikone der Frauenbewegung, die ganz Deutschland eine neuen, dringend nötigen Impuls brachte oder eine männerhassende Emanze, die alle Maßstäbe verloren hat? Das Spektrum der Ansichten ist genau so breit.
Man muss lernen – wirklich lernen –, bestimmte Phänomene durch die Brille der jeweiligen Zeit zu sehen.
Bspw. grassierte in weiten Teilen Europas im frühen 20.Jahrhundert ein Antisemitismus. Dieser ist aber nicht gleichzusetzen, mit dem, den die Nazis betrieben, die ein ganzes Volk ausrotten wollten. Seit dem hat auch der Begriff eine Verschiebung erfahren, die man berücksichtigen muss.
Manchmal erfahren ganze Weltbilder eine Verschiebung, so dass es ernstgemeinte und ernsthafte Diskussionen gibt, ob und inwieweit man eigentlich mit dem gleichen Wort, denselben Begriff meint, oder inwieweit die Begriffe/Modelle so „inkommensurabel“ sind, dass man sich eigentlich gar nicht vergleichen kann.
Hat das „Atom“ des Demokrit noch war mit dem Plantenmodell zu tun, bei dem Elektronen um einen Kern kreisen und dieses mit dem Modell der Elektronenwolken mit nichtdefinierbarem Ort/Impuls?
Und das sind wirklich erst grob skizzierte Anfänge, die man beachten muss, wenn man darüber reden möchte, „wie’s wirklich war“.
Es wäre falsch, alles so weit zu relativeren wie es postmoderne Interpreten getan haben.
Im besten Fall kommt „Eleganter Unsinn“ (ein mehr oder weniger legendär gewordenes Buch von Sokal/Bricmont, die die Worthülsen postmoderner Interpreten aufdeckten – allerdings, und das wird oft vergessen, nicht um die ganze Postmoderne der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern um die Spreu von Weizen zu trennen) dabei heraus und oft ist der Unsinn nicht mal elegant.
Der andere Fehler wäre, zu behaupten, es sei möglich „Fakten, Fakten, Fakten“ darzustellen und dabei zu suggerieren, es sei jede Interpretation schon eine bösartige Verfälschung der reinen Wahrheit.
Es gibt nur Interpretationen, die Hohepriester der Wahrheit, können kaum jemals beschreiben, was sie überhaupt meinen, wenn sie von „der Wahrheit“ reden, bauen aber stillschweigend darauf, dass man das schon wisse. Das ist dann viel dunkles (und oft reichlich paranoides) Geraune im Spiel: Nur die Feinde der Wahrheit tun so, als wisse man nicht ganz genau, was die Wahrheit, die einzig wahre, ist. Und man weiß ja, warum die Feinde der Wahrheit ein Interesse haben, diese zu verschleiern…
Solche Berichte, wie der verlinkte haben immer einen anekdotischen Charakter.
Wenn einer kein Christ mehr sein will, dann ist mir das vergleichsweise egal, er wird seine Gründe haben und ich kann die vermutlich in den meisten Fällen nachvollziehen.
Ich bin im Grunde auch nur Christ auf dem Papier, aber ich habe, wenn ich irgendwo eine Kirche sehe, nicht gleich Gedanken an Blutströme, Folter und Gehirnwäsche, ich weiß aber, dass es Menschen gibt, denen es so geht. Dass die keine Lust auf Kirche haben, kann ich verstehen.
Es ist die Frage, welchen Wert man Anekdoten zumisst. Vermutlich gibt es eben so viele die verkünden, man sei jahrelang umhergeirrt, hätte ein wenig Philosophie betrieben, ein wenig Esoterik, dann sei man beim Buddhismus gelandet, habe meditiert, bevor man dann am Ende – Gott sei’s gedankt – wieder im Schoß der christlichen Kirche gelandet sei. Wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Ein wenig vorhersehbar, etwas bieder, aber vielleicht schmecken einem am Ende ja de Bratkartoffeln am besten und der „Tatort“ ist das was man an Unterhaltung möchte.
Aber worüber soll ich mit jemandem diskutieren der meint, Bratkartfoffeln seien doch das Beste oder seien es eben gerade nicht?
Ich sehe aber einen Wert in Anekdoten. Wenn ich eine fiese Erkrankung habe, nehmen wir nicht gleich Krebs, das ist ein sehr besetztes Thema, es gibt viele andere chronische Dinge, die man nicht haben will, dann interessiert mich nicht unbedingt zu wissen, dass der Verlauf zu 97% immer schlimmer wird, sondern dann interessieren mich, die 3% bei denen es anders war.
Dann will ich deren Anekdoten hören, von ihrer Zuversicht profitieren usw.
Mein Leben ist individuell und ich habe in sehr weiten Teilen einen Einfluss darauf. Das gestehe ich auch jedem anderen zu, aber wer nun seine Individualität nutzt, zu behaupten, er sei eine willenlose Biomaschine, die am allerbesten durch gewisse Algorithmen zu beschreiben sei, der darf das glauben. Was mich daran am ehesten interessiert, ist der eigenartige Reiz, die Attraktivität, die diese Lesart auf viele hat.
Ist dann irgendwann auch ne Frage, an welchen Themen man sich abarbeitet.
Man merkt ja selbst, wo Druck drauf ist. Dort wo man sich motiviert fühlt, den Hut in den Ring zu werfen und auf was man immer wieder zurück kommt.
Jeder hat seine Themen. Religion ist mit der Zeit irgendwie auch zu meinem geworden, nur von der anderen Seite aus. Ich finde die Argumente der Atheisten einfach so seicht und beknackt, wenn sie von der Güteklasse Dawkins, Schmidt-Salomon und Co. sind. Den Religionen selber kann ich nicht sonderlich viel abgewinnen, außer dass ich anerkennen kann, dass die gut geeignet sind, soziale Ströme zu lenken und natürlich in vielen Fällen sinnstiftend sind, in anderen eher entwicklungshemmend.
Vielleicht ist es nur privater Quatsch, aber ich rede mir zumindest auch ein, dass eine Kooperation von Atheisten und Religiösen unterm Strich sinnvoller ist, als die alberne Frontstellung.
Ist ja, wenn Du den Bruch gestattest, wie in der Paartherapie: Irgendwann merkt man, dass die Frage, wer eigentlich genau wo und wie angefangen hat, weder zu klären ist, noch weiter bringend.
Dann wechselt man halt die Strategie und fragt, ob’s denn noch zusammen weiter gehen und wo die Reise hinführen soll. Mein Standunkt ist, dass eine Kooperation der Nichtfundamentalisten beider Lager – also die besonnenen und im Kern wohl rationalen Stimmen der schweigenden Mehrheit, die sich nicht schrill überschlagen und die man deshalb nicht so oft hört –, wünschenswert ist und wenn ich an das Modell Europa zwar nicht als erfolgreichen Exportschlager glaube, so lebe ich doch hier und tue es gerne.
Ist irgendwie klar geworden, was ich meine?