Ich empfinde es auch als absolut grundlegend für viele andere Themen wie "die westlichen Werte", "Religion und Glaube" oder "warum lesen wir von links nach rechts?".
Religionen sind ja Teil der Kultur, was hier schon angrissen wurde: Warum gibt es Religionen?, und die Theorie der Meme wurde in diesem Thread schon einmal besprochen, verlor sich jedoch zunächst in eine Diskussion über Reduktionismus, während sich später über die Systemische Evolutionstheorie gestritten wurde. Es ging also hauptsächlich um grundlegende Mechanismen der Selektion.
Es gibt aber noch andere Ansätze, die Bildung und die Mechanismen von Kultur zu erklären. Diese Arbeit von David Mihola stellt zumindest einige naturalistisch (siehe auch Kulturethologie) geprägte vor (Kap. 2.4.3): http://othes.univie.ac.at/2778/1/2008-11-11_9902433.pdf
Ein Überblick (Auszüge aus den Wikipedia-Artikeln) ohne Anspruch auf Vollständigkeit, den man sich durchlesen kann, aber nicht unbedingt muss :
- Der Kulturmaterialismus führt Kultur auf ihre materiellen Voraussetzungen zurück, also auf Geographie, Klima, Umweltbedingungen. Kulturen sind demnach Systeme, die sich an gegebene Umweltbedingungen anpassen und ausgehend von Ökologie und Geographie zu erklären sind. Die Theorie basiert auf Ansätzen des marxistischen Materialismus und der Evolutionstheorie. Das dieser Theorie zu Grunde liegende Prinzip des infrastrukturellen Determinismus besagt, dass die Umweltbedingungen bzw. die natürlichen Ressourcen die ökonomischen Bedingungen und das Bevölkerungswachstum bzw. die Reproduktionsmöglichkeiten von Kultur und Gesellschaft determinieren.
- Die Soziobiologie analysiert die biologischen Vorgänge, auf denen die Organisation solcher Einheiten wie der Verband von Eltern und ihren Nachkommen, Termitenkolonien, Vogelscharen, Pavianhorden und Jäger- und Sammlerbanden beruht. Das wirklich Neue an dieser Disziplin ist die Zusammenführung älterer Ansätze aus der Ethologie und der Psychologie mit neuen Resultaten aus Feldstudien und Laborversuchen sowie die Interpretation des Ganzen auf der Grundlage der modernen Genetik, der Ökologie und der Populationsbiologie.
Die Komplexität menschlichen Verhaltens sowie das Vorhandensein einer ethischen und moralischen Ebene erschwert die Forschung. Dennoch hat sich die Soziobiologie bemüht, anhand von Untersuchungen menschlicher Gesellschaften zu zeigen, dass auch menschliches Verhalten einer natürlichen Auswahl unterliegt und Anpassungscharakter hat. Übereinstimmungen im Verhalten von Menschen verschiedener Gesellschaften deuten auf ein Vorhandensein biologischer Faktoren hin und können mit Hilfe der Evolutionstheorie erklärt werden. Während sich die konventionelle Soziobiologie zunächst nur mit der Analyse allgemeiner Verhaltensweisen, ihrer Bedeutung, ihren Vorteilen sowie ihrer genetischen Grundlage unter Einbeziehung der jeweiligen Umweltsituation beschäftigt hat, konnten viele Aspekte menschlichen Handelns erst durch die Annahme einer Koevolution von genetischer Vererbung und kultureller Tradierung von Verhalten erklärt werden. Diese Annahme ermöglichte eine integrative Sicht von Biologie und Sozial- beziehungsweise Humanwissenschaften; sie wurde beispielsweise durch Konrad Lorenz in seinem Buch Die Rückseite des Spiegels ausformuliert. - Die Mem-Theorie: Ein Mem bezeichnet einen einzelnen Bewusstseinsinhalt (zum Beispiel einen Gedanken), der durch Kommunikation weitergegeben und damit vervielfältigt werden kann. Dies trägt zur soziokulturellen Evolution bei. Als Memetik wird das daraus abgeleitete Prinzip der Informationsweitergabe bezeichnet. Das Mem findet seinen Niederschlag in der ,,Memvorlage" (im Gehirn oder einem anderen Speichermedium) und der ,,Memausführung" (zum Beispiel Kommunikation). Die Vernetzung von einander bedingenden Memen wurde von Dawkins zunächst als ,,koadaptiver Mem-Komplex" (,,coadapted meme complex") bezeichnet, was später zum Kunstwort Memplex zusammengezogen wurde.
- Die Epidemiologie der Repräsentationen / die Konnektionistische Kulturtheorie: Den (sehr materialistischen) epidemiologischen Ansatz nach Dan Sperber erläutert Mihola in seiner Arbeit im Kap. 2.3. Ich versuche, diese Erklärung kurz zusammenzufassen und -zuschneiden:
Mit Repräsentationen meint Sperber etwas (z.B. ein Gehirnzustand oder ein Artefakt), das von einem informationsverarbeitenden Ding (z.B. einem mentalen Mechanismus, einem Individuum, einer Organisation) so produziert wurde, dass es Informationen über ein Ereignis oder einen Zustand enthält, die wiederum von einem anderen informationsverarbeitendem Ding genutzt werden können (oder demselben zu einem späteren Zeitpunkt). Jedes materielle Phänomen, das für einen bestimmten Betrachter eine bestimmte Bedeutung hat, ist also in diesem Sinne eine Repräsentation. Der wesentliche Punkt ist hier, dass all diese bedeutungstragenden Phänomene letztendlich konkrete materielle Phänomene sind. Sperber unterscheidet weiter zwischen mentalen Repräsentationen und öffentlichen Repräsentationen: Bei ersteren handelt es sich um jene Repräsentationen, die nur einem Individuum zugänglich sind; bei letzteren um alle Repräsentationen, die sich außerhalb des Individuums befinden und daher anderen Individuen zugänglich sind. Die verschiedenen Repräsentationen schließen sich nun im Normalfall zu Kognitiven Kausalketten zusammen (Cognitive Causal Chains, kurz CCCs), also zu Ketten von mentalen und öffentlichen Repräsentationen, die kausal miteinander verbunden sind. Aus der obigen Defintion mentaler Repräsentationen geht hervor, dass viele Repräsentationen von einem kognitiven System (z.B. einem Menschen) produziert und von einem anderen verarbeitet werden; auf diese Weise verbinden die öffentlichen Repräsentationen mehrere kognitive Systeme (Menschen) miteinander. Wesentlich ist hier, dass auch die kognitiven Kausalketten letztendlich Verkettungen materieller kausaler Prozesse sind. Sperber bezeichnet diese Untergruppe von Kognitiven Kausalketten, in welchen mehrere kognitive Systeme (Menschen) über ihre Umwelt im Austausch stehen, als Soziale Kognitive Kausalketten (Social Cognitive Causal Chains, kurz SCCCs). Bei all diesen Prozessen werden Informationen übermittelt; aber auch Information ist letztendlich ein materielles Phänomen. Zu einer Kulturtheorie werden diese Überlegungen mit dem nächsten Schritt: Manche dieser "informationserhaltenden" SCCCs können sich über eine große Anzahl von Individuen in einer Population erstrecken und so dazu führen, dass alle Mitglieder der Gruppe dieselben oder zumindest ähnliche mentale Repräsentationen teilen. Diese kognitiven Kausalketten bezeichnet Sperber als Kulturelle Kognitive Kausalketten (Cultural Cognitive Causal Chains, kurz CCCCs;), und die Repräsentationen, zu deren Verbreitung sie beitragen, nennt er kulturelle Repräsentationen. Kultur setzt sich also zusammen aus weit verbreiteten mentalen und öffentlichen Repräsentationen (Ideen, Artefakten etc.) und aus den Kausalketten, die zu ihrer Verbreitung führen. Genauso, wie sich die medizinische Epidemiologie mit der Verbreitung von Krankheiten in Menschenpopulationen beschäftigt, untersucht der epidemiologische Zugang zu Kultur die Verbreitung von Ideen in Menschengruppen (ähnlich wie die Mem-Theorie).
Die Unterschiede zur Konnektionistischen Kulturtheorie (von Claudia Strauss und Naomi Quinn) bestehen laut Mihola hauptsächlich im Kognitionsmodell und im Lernprozess, sind also für eine grundsätzliche Erklärung von Kultur eher unwesentlich.
Tut mir leid, dass der Eröffnungspost derart voluminös geworden ist, aber ich wollte keine halbfertige Vermutung in den Raum werfen. Dabei habe ich nur einige naturalistische Ansätze aufgeführt. Es gibt ja auch diverse nicht-naturalistische, geisteswissenschaftliche Modelle, mit denen ich mich noch gar nicht beschäftigt habe. Vielleicht ergänzt das jemand?