@ AgentProvocateur (aber gerne auch andere, die das Thema interessiert):
AgentProvocateur hat geschrieben:Was moralischen Realimus vs. moralischem Relativismus angeht: solange der moralische Realist zwar behauptet, moralische Aussagen könnten einen Wahrheitswert haben, er aber gleichzeitig zugibt, dass dieser Wahrheitswert von uns nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, (= schwacher moralischer Realismus), dann habe ich kein Problem. Theoretisch mögen wir zwar dann einen Dissens haben, aber praktisch können wir uns dennoch einigen. Und dann käme es mir nur auf die Praktikabilität an.
Grundsätzliche Probleme habe ich nur mit starken moralischen Realisten, so die moralische Wahrheiten behaupten, ohne die aber nachvollziehbar begründen zu können und dennoch verlangen, ich solle die unbesehen akzeptieren.
Ich weiß gerade selbst noch nicht, ob ich mich zu den moralischen Realisten oder Relativisten zählen darf. M.E. handelt es sich um eine Mischform, mit einem leichten Übergewicht für den moralischen Realismus, ich versuche das zu erläutern:
Wenn man von Stufen der Moral redet, was ich gerne tue, vertritt man im Grunde einen moralischen Realismus, da dies irgendwo mit der Überzeugung verbunden ist, die Stufen seien nicht beliebig.
Dass Mitleid besser als Mord ist, würden sofort alle unterschreiben, ohne es im Einzelfall begründen zu können, (was ja selbst schon eine Hierarchie darstellt) und eine Begründung statistischer Art, dass eben die meisten diese Einstellung teilen würden oder dass die Menschheit insgesamt profitieren würde, wenn... oder dass man bessere win-win Optionen schafft, wenn man kooperiert, schaffen auch meiner Meinung nach alle nicht den Sprung ins Sollen.
Das Problem bei der Moral/Ethik scheint mir zu sein, dass es sich nicht um eine rein rationale Geschichte handelt. Die Prämissen der Moral sind nicht allesamt rational abzuleiten, d.h. man kann ihre Entstehung erklären, aber nicht ihr Sollen begründen.
Der moralische Realismus scheint m.E. dahingehend begründbar zu sein, dass Kinder angeborenerweise, im Wechselspiel mit den Eltern, ein Gewissen aufbauen.
Angeborenerweise heißt, dass bereits im ersten Lebensjahr Eindrücke verarbeitet werden, die später als erste Schicht des Über-Ich/Gewissen zu finden ist. Im Wesentlichen werden in der frühen Phase die ersten Interventionen der Eltern als behindernd und willkürlich (als Verbot) erlebt, erst später beginnt das Kind zu erkennen, dass es auch von sich aus Dinge tun kann, für die es gelobt wird, die den Eltern Freude machen und dergleichen, d.h. neben Verboten existieren
in der Erlebenswelt des Kindes nun auch Gebote. Diese bilden die zweite Schicht des Über-Ich/Gewissens aus.
Eine dritte Schicht sorgt nun dafür, die vorangegangenen beiden auszutarieren, das heißt, dass die Welt nicht untergeht, wenn man mal etwas falsch gemacht hat und man lernt, dass man nicht der Größte ist und Bewunderung braucht, wenn man mal etwas richtig gemacht, die realistische Schicht des Über-Ich/Gewissens, die natürlich erkennbar rationale Züge annimmt, freilich ohne rein rational zu sein.
Es handelt sich also immer um eine emotionale und rationale Mischform, bei allen Kindern.
Dieser Aufbau eines Über-Ich oder Gewissens ist der „Normalfall“, wenn die Entwicklung nicht behindert wird, durch grobe Verzerrungen in der Intervention der Eltern, wie chronische Gewalt, chronische sexuelle Übergriffe oder wenn das Kind diese Übergriffe miterleben muss. Ferner eine extreme Überbehütung oder eine Zurschaustellung des Kindes, vor Fremden im Bezug auf das Aussehen, oder bestimmte „Kunststücke“, während das Kind ansonsten kaum beachtet wird. (Wenn es primär für seine Leistungen aber nicht für sein Dasein geliebt oder auch nur beachtet wird.)
Auch gibt es die Möglichkeit, dass bei der Entwicklung des Kindes biologisch etwas schief läuft, besonders die Serotoninregulation scheint hier wichtig zu sein.
Ansonsten wäre das der „Normalfall“ im Sinne einer idealen Entwicklung, die es aber in der Realität durchaus gibt und zwar zu 80- 85% (in Europa).
Das heißt, hier würde ich von einem moralische Realismus sprechen, der die Grundlagen legt, für eine spätere unverzerrte moralische Ansprechbarkeit, die eine dynamische Weiterentwicklung des Gewissens impliziert.
In welche Regelwelt oder Normalität man eingefädelt wird, ist m.E. einfach nur
anders (wenn wir explizit tyrannische Systeme mal nicht beachten) – hier würde der moralische Relativismus regieren.
Ich weiß nicht ob tendenziell individualistische Systeme generell besser sind als tendenziell kollektivistische, beide scheinen ihre Stärken, so wie ihre Risiken zu haben.
Tendenziell sollte aber auch ein kollektivistisches System dem Individuum Freiheit und Entfaltung seines kreativen Potentials ermöglichen, wo dies prinzipiell (aus ideologischen Gründen) behindernd wird, glaube ich, dass man Potential verschenkt und auch die weitere moralische Entfaltung behindert.
Während dieser Phase des Kollektivismus oder der Identifikation mit einer sozialen Gemeinschaft, kann man lernen, dass das eigene Ich nicht im Mittelpunkt stehen muss, dass alle von einer Kooperation profitieren und dass Zugehörigkeit, über die Familie hinaus, aber auch zu ihr, ein gutes Gefühl ist.
(Die moralische Entwicklung geht zwar prinzipiell weiter, aber ich glaube man muss sehen und anerkennen, dass für viele Menschen hier bereits das Ende der moralischen Entwicklung erreicht ist und m.E. ist es eine Einzelfallfrage inwieweit man jemanden motivieren sollten, weiter zu gehen oder akzeptieren muss, dass es hier Grenzen gibt, deren Erweiterung für den Einzelnen eine konstante Überforderung bedeuten würde.)
Moralische Autonomie zeichnet sich m.M.n. dadurch aus, dass man sich weiterhin zur Begründung vor seinem Gewissen und den anderen verpflichtet fühlt (wo dies nicht der Fall ist, würde ich von moralischer Willkür reden, die ich nicht als Freiheit ansehen würde), insofern würde hier wieder, wenn das der „organische“ nächste Schritt wäre, der moralische Realismus das Ruder übernehmen, allerdings natürlich auf der Basis jener Wert die man (moralisch relativistisch) anerzogen bekommen hat – es hätten auch andere sein können.
Dieser moralische Realismus sieht ganz nett aus, steht aber natürlich in der Gefahr, einfach eine petitio principii zu sein. Wenn ich voraussetze, dass moralische Höherentwicklung mit einer Zunahme der Sorge für andere einhergeht und den Grad der moralischen Entwicklung nun daran messe, inwieweit jemand andere (erst seine favorisierte Gruppe, dann nachher alle Menschen) in seine Überlegungen mit einbezieht, ist es ein gut gemeinter, aber dennoch ein Zirkel.
Was man also nachweisen müsste, ist, dass das Überwinden des konventionellen, antrainierten Soziozentrismus, zugunsten der Fähigkeit diesen gegenüber alternativen Konzepten abzuwägen und seine Wahl oder individuelle Mischform begründen zu können, auch ein moralischer Fortschritt ist.
(Und hier muss man aufpassen, denn Kohlberg zeigt m.E. völlig zurecht in seiner nachträglich eingefügten Zwischenstufe 4 a), dass nicht jede reflexive Zurückweisung des ehemals Gelernten schon ein echter Fortschritt ist, man müsse „zu Ende denken“ fordert auch Apel.)
Dass dieses „zu Ende denken“ dann im Wesentlichen dazu führen soll, dass man einen großen Teil der Werte, die man anerzogen bekommen hat, doch unterschreibt, hat natürlich wieder ein Geschmäckle. Es droht, rein logisch, wieder eine pp, andererseits muss man von aller Logik absehend, konstatieren, dass sich auch das moralisch reife (postkonventionelle) Individuum (in aller Regel) nach wie vor in der moralischen Herkunftswelt bewegen wird, also genau mit diesen Normen klar kommen muss und vor allem auch, genau anhand dieser Normen von seiner Mitwelt beurteilt wird. Das dämpft den Vorwurf, es handle sich um einen schnöden Zirkel, m.E. ein wenig.
Das moralisch entwickelte Individuum würde also nach wie auf dem Boden der Wertesphäre agieren, in die es eingebunden ist, hätte aber zugleich die Möglichkeit, wenn es vor seinem Gewissen (und den verinnerlichten Stellvertretern der Gesellschaft, die ja im inneren Empfinden anwesend sind) eine Ausnahme von der Regel, ein Abweichen rechtfertigen kann, begründet abzuweichen, da es an moralischer Autonomie gewonnen hat und im Notfall auch gegen die Regeln im Namen seines Gewissens agieren könnte.
Die Preisfrage ist nun:
Soll man so werden? Ist es wirklich gut, oder eben nur ein typisch europäisches Projekt, ein moralisch reflektierendes Individuum zu werden?
Könnte es nicht besser und einfacher sein (aber einfacher heißt eben nicht zwingend: besser), wenn wir alle viel kollektivistischer wären, dann könnte man das was geboten scheint (z.B. im Bezug auf den Klimawandel und andere Fragen, von denen wir glauben, dass sie uns alle angehen) viel leichter umsetzen. Wenn alle davon profitieren, man also diese Form des Utilitarismus als leitend ansieht, müsste man dann nicht den Kollektivismus predigen?
Oder, ist es vielleicht ein nächster organischer Schritt (wenn man einen moralischen Realismus unterstellt), dass man Empathie und Sorge für immer mehr Menschen empfindet und so, gewissermaßen freiwillig (oder dem Zwang der besseren Argumente folgend) zu der Überzeugung kommt, es müsse an alle gedacht werden und zunächst sei das Überleben aller fühlenden Wesen zu sichern.
Klingt irgendwie gut und nett, hat aber den Nachteil, dass es komisch oder sogar suspekt erscheint, wenn eine fortschreitende Entwicklung, die m.E. das Spektrum der Möglichkeiten immer mehr erweitern sollte (ansonsten hätte ich Schwierigkeiten von einer fortschreitenden Entwicklung zu sprechen) dazu führt, dass der Aktionsradius und das Denkbare und Sollbare immer eingeschränkter wird.
Das kann nun m.E. (mindestens) vier Ursachen haben:
1. Es gibt doch moralische (oder rationale) Letztbegründungen, etwa in der Weise wie Apel sie vorschlägt. Keine Dogmen, die man glauben muss, sondern Schlüsse, zu denen ein denkendes Wesen, wenn es „zu Ende denkt“ in jedem Fall kommen muss. Sozusagen das andere Ende der Evidenzen, die ja als unhintergehbare rationale Erstbegründungen gelten.
2. Man kommt aus seiner Natur nun doch nicht raus. Wir alle teilen (so nicht grob verzerrt oder beschädigt, siehe oben) eine Art moralischer Grundintuition, die letztlich rein biologisch ist. Ein primäres Gefühl für Fairness und Kooperation ist uns angeboren und wir müssen diese Seite „unserer Natur“ unterstützen. Die rationalen Rechtfertigungsversuche sind dann nur die legitimierenden Geburtshelfer dieser Seite unserer Biologie.
3. Es gibt höhere Stufen der Moral, die mit einem Verantwortungsgefühl für immer mehr Lebewesen einhergeht, zu denen man durchbrechen kann, was aber nicht jedem gelingt (und die Frage wäre, was das bedeuten würde).
4. Der moralische Realismus ist falsch, bzw. unzureichend begründbar. Gut gemeint agiert er mit einer Reihe von Zirkelschlüssen, die nur so tun als würden sie das vermeintlich höhere Ziel sein.
Hier wäre die gute Absicht zu honorieren, aber gut gemeint ist eben nicht immer gut.
(Der Einwand wäre, dass es ebenso unbegründet ist, sich unter die Knute der Logik begeben zu müssen, da vieles in der Realität auch nicht den Gesetzen der Logik gehorcht. Der Mensch selbst ist in der Tiefe ambivalent, was wir für die kleinsten Bausteine halten (Quarks & Co.,) verhält sich geradezu aufreizend unlogisch zudem ist unsere Logik kein Naturgesetz, sondern erst einmal ein willkürliches formales Schlusssystem.)