Es ist ja nun keine wirklich neue Erkenntnis, dass man im Grunde schon vorher weiß, wer wie auf was reagieren wird. Dafür gibt es ja (Online-)Zeitschriften und dergleichen, nicht damit man informiert wird, sondern damit man auf seine gewohnte Weise die Welt erklärt bekommt.
Insofern will ich mich jetzt auch nicht an der Kritik abarbeiten.
Tipp: Du könntest die zitierten Passagen vielleicht besser kenntlich machen.
Gandalf hat geschrieben:Auch hab ich ihn bei "Beckmann" gesehen. Es war für mich nicht überzeugend. Ich denke er verwechselt den von ihm kritisierten Egoismus in der Geselschaft mit [der 'Egozentrik' der Kollektivisten, die meint, das Altruismus darin bestünde, das man "anderen nutzt", indem man diese z.B. vor den Rauchern, Sexisten und Populisten, Kapitalisten, etc. durch Verbote und Vorschriften schützt.
Warum meinst Du, dass er das verwechselt, das ist doch schlicht ein ganz anderes Thema.
Gandalf hat geschrieben:Der "
unaufgeklärte Altruismus" der "Gutmenschen" also (was ja Bettina Röhl oben auch kritisiert)
Allein der Wunsch etwas Gutes tun zu "wollen", wird als Altruismus empfunden. Da natürlich die Anerkennung der "guten Handlung" von den (bösen) Egoisten verweigert und deren nüchterne Rationalität diesbezüglich als Grausamkeit und Hartherzigkeit" empfunden wird, hat man auch schon
die Ursache der Schlechtigkeit der Welt bei denjenigen gefunden, die sich nicht vom "Sein" beeindrucken lassen, sondern vom "Haben".
Ich glaube, dass ist einfach am Thema vorbei.
Jenen Egoismus, den Schirrmacher kritisiert, kreist er ja recht genau ein.
Seine These ist schlicht und ergreifend, dass die Ideen der Spieltheorie, geschaffen im und für den kalten Krieg, über den Export in die Wirtschaftswelt (die mit denselben Modellen arbeitet) ins alltägliche Leben Einzug gehalten hat.
Das ist vielleicht etwas monokausal, aber der Befund, dass der Egoismus in unserer Gesellschaft zunimmt, ist nun wirklich allgegenwärtig und zuerst wurde er in eher konservativen Lagern der Psychologie geäußert. Insofern ist der Stempel „linker Gutmensch“ einfach nur eine gewohnte Geste, um sich mit Kritik gar nicht erst auseinandersetzen zu müssen.
Es gab über Jahrzehnte so eine gefühlte, „natürliche“ Verwandtschaft zwischen marxisitischen und psychoanalytischen Ideen, die bei Licht betrachtet in einem Missverständnis oder einer Überinterpretation bestimmter Aspekte von Freuds Theorien lag.
Um es kurz auf den Punkt zu bringen, glaubten linke Theoretiker alles Übel der Welt sei im Grunde auf eine neurotische Hemmung durch eine zu starkes und lastendes Über-Ich (= eine zu patriarchale, strukturierende, dogmatische Reglementierung) zurückzuführen. Durch eine Hemmung sexueller und kreativer Triebe infolge dieser Überreglementierung sei dann der Schritt in eine reaktive Form von Aggressivität und Gewalt nur folgerichtig, auf der Anklagebank saßen die faschistischen Väter, mit ihrer Autoritätshörigkeit, häufig bezog man sich auf Adornos Forschungen dazu. Im Grunde ist das alles zum größeren Teil richtig, aber überzogen.
In den 1970ern erstarkte in der Psychoanalyse eine Gegenbewegung, getragen durch Kernberg, Lasch, A. Mitscherlich, um nur einige zu nennen, die – im Zuge einer neuen theoretischen Fundierung der Psychoanalyse – feststellten, dass eine Unterstrukturierung durch die abwesenden Väter viel größere psychische Schäden und viel tiefgreifendere Aggressionen auslöst (nämlich narzisstischer Art), als die neurotischen Hemmungen.
Das ist auch der Stand heute. Dieser Befund steht immer in der Gefahr zwei Begriffe zu verwechseln, bzw. zu schlampig mit ihnen umzugehen.
Lumen sprach es schon an, der Begriff „Egoismus“ ist unscharf definiert und der Begriff „Narzissmus“ ist neben „Trauma“ einer der ausgelutschtesten psychologischen Begriffe überhaupt.
Es gibt heute vielfach den Begriff des gesunden Egoismus und auch Narzissmus gibt es in einer gesunden Form, es ist in beiden Fälle einfach die Sorge um sich und der legitime Wunsch sich das Leben auch genussvoll und angenehm zu gestalten.
Die Etablierung eines gesunden Egoismus oder eines reifen Individualismus geht über das Nachahmen der jeweiligen Modetrends hinaus, ist postkonventionell.
Es gibt aber auch eine pathologische Zerrform, bei denen das Individuum nicht über die Konventionalität in einer gesunden Weise hinauswächst (wie das aussehen könnte, könnte man hier diskutieren), sondern jede Regel als persönliche Beschränkung, Kränkung und Beleidigung empfindet. Eine präkonventionelle Verweigerungshaltung, die vielfach beschrieben wurde und die leider immer häufiger gelebt wird.
Da nicht alle präkonventionellen Menschen dumm sind, gelingt es ihnen häufig ihren Egozentrismus ideologisch zu rechtfertigen. Darunter sind durchaus auch solche, die ihre an sich primitiv-aggressiven Wünsche nach Gewalt in vorgestanzte und oft schiefe Ideen pressen. Da findest Du dann durchaus auch den einen oder anderen „Gutmenschen“ darunter, aber allgemein gilt:
Otto Kernberg hat geschrieben: „In Übereinstimmung mit Green vertrat ich die Ansicht, dass die Unfähigkeit, sich einem Wertesystem verpflichtet zu fühlen, das über Grenzen selbstsüchtiger Bedürfnisse hinausgeht, gewöhnlich eine schwere narzisstische Pathologie wiederspiegelt. Die Verpflichtung gegenüber einer Ideologie, die sadistische Perfektionsansprüche stellt und primitive Aggression oder durch konventionelle Naivität geprägte Werturteile toleriert, gibt ein unreifes Ich-Ideal und die mangelnde Integration eines reifen Über-Ichs zu erkennen. Die Identifizierung mit einer "messianischen" Ideologie und die Akzeptanz gesellschaftlicher Klischees und Banalitäten entspricht daher einer narzisstischen und Borderline-Pathologie. Dem gegenüber steht die Identifizierung mit differenzierten, offenen, nicht totalistischen Ideologien, die individuelle Unterschiede, Autonomie und Privatheit respektieren und Sexualität tolerieren, während sie einer Kollusion mit der Äußerung primitiver Aggression Widerstand leisten - all diese Eigenschaften, die das Wertesystem eines reifen Ich-Ideals charakterisieren. Eine Ideologie, welche die individuellen Unterschiede und die Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen respektiert und Raum für eine reife Einstellung zur Sexualität lässt, wird den Personen mit einem höher entwickelten Ich-Ideal attraktiv erscheinen. Kurz, Adorno, Green und ich stimmen darin überein, dass Ich- und Über-Ich-Aspekte der Persönlichkeit das Individuum zu übergroßer Abhängigkeit von konventionellen Werten prädisponieren. Es ist berechtigt zu sagen, dass der spezifische Inhalt des Konventionellen durch soziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflusst wird: Die Universalität der Struktur der Konventionalität in der Massenkultur jedoch und ihre Attraktivität für die Massen sind nach wie vor erklärungsbedürftig.“
(Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta 1998, S.297f )
Und um diese „Unfähigkeit, sich einem Wertesystem verpflichtet zu fühlen, das über Grenzen selbstsüchtiger Bedürfnisse hinausgeht“, geht es. In dem Moment, wenn diese Kennzeichen schwerer Psychopathologien zum an sich normalen, intelligenten Weltbild werden, ja, wenn man als Trottel (oder abfällig als „Gutmensch“) dargestellt wird, wenn man mehr als das Kreisen um das eigene Ich im Sinn hat, dann ist das für alle nicht sonderlich gut.
Dieses Weltbild findet sich in den Teilen der Wirtschaft, in denen elitäres Denken ohne Rücksicht auf andere zum guten Ton gehört. Es findet sich im Biologismus, der davon ausgeht, dass unsere Gene uns zu Egoisten machen, weil Egoismus der Urtrieb ist und Kooperation immer nur bedeuten kann, zu kooperieren, damit man um so größeren Gewinn einstreicht. Es begegnet uns im (empirisch widerlegten) psycholgischen Egoismus, er begegnet uns in den simplifizierenden Ansätzen des Behaviorismus und in den philosophischen Gehversuchen der Hirnforscher der frühen 2000er.
Wenn man einem pathologischen Kollektivismus, der das Ich an seiner Entfaltung hindert kritisiert, was man m.E. mit einigem Recht tun kann und sollte, dann bringt es wenig, wenn man als Gegenentwurf eine noch primitivere Form der Entwicklung anbietet, nämlich ein Individuum, das die Fähigkeit zu nichtausbeutenden Sozialkontakten mehr und mehr einbüßt, man sollte schon wenigsten ein sozialkompetentes reifes Ich anstreben, das mehr als mürrischen Rückzug oder Lästereien zu bieten hat. Und da wäre sehr viel mehr zu finden...
Gandalf hat geschrieben:Noch eine kurze Überlegung:
Der "egoistische Kollektivist" leitet aus seinem (falschen) altruistischen Verhalten ab, das ihm die Gesellschaft etwas schuldet. - Andere Menschen haben für ihn da zu sein. Er hat 'das Recht' darauf. Und weil er nicht das Recht für sich offen einfordern will (das wäre ja "egoistisch"), formuliert er es so um, dass 'alle Menshen' das Recht darauf haben, das andere Menschen für sie da sind.
Klar schuldet ihm die Gesellschaft etwas. Das ist entwicklungspsychologisch längst ausbuchstabiert. Man gibt der Gesellschaft ja auch etwas, wenn auch zunächst, unbewusst, d.h. man ist in einen Mechanismus eingebunden, den man erst später versteht.
Triebverzicht ist das Geschenk. Man verzichtet auf die sofortige Erfüllung aller spontanen Impulse, zugunsten der anderen. Zugleich wird man Mitglied der Gemeinschaft, die einen in die Mitte nimmt, ver- und umsorgt und dieses Spiel funktioniert im Grunde ganz gut, sogar noch im Rahmen dieser Kosten/Nutzen-Rechnung. Nur ist das nicht der Endpunkt einer Gesellschaft, sondern der Anfang, trainiert wird das bereits in der Familie.
Gandalf hat geschrieben:Der 'echte Egoist' hingegen, der sich regelmäßig auch zu seinem Egoismus bekennt und dadurch von den (Schein-)Altruisten angefeindet wird, - geht von Anfang an gar nicht davon aus, das andere für ihn da zu sein haben.
Warum denn? Löschst Du Dein Haus selbst, wenn es brennt, rufst Du nicht die Polizei, wenn Du bedroht wirst, operierst Du Dich selbst, wenn Du krank bist, reist Du selbst durch die Welt um Nachrichten aufzuschnappen?
Es gibt Grenzen und es gibt gute Gründe einen privaten Raum zu fordern und zu beschützen, m.E. ein sehr hohes demokratisches Gut (sowohl totalitäre wie faschistische Systeme torpedieren es), aber warum willst Du von allen abgesondert sein?
Gandalf hat geschrieben:Er hat ja selbst nicht das Recht dazu, das zu fordern. Er 'sucht' sich lediglich andere um mit ihenn zu seinem Vortiel in Interaktion zu treten Und je nach "Freundlichkeit" der Interaktion entsteht der Vorteil für den Egoisten und für den Anderen. Der Egoist unterlag niemals der (quasireligiösen) Zwangsneurose, die "Welt retten zu können".
Hm. Hast Du nicht damit ein kurzes Plädoyer für den Egoismus, genau aus der spieltheoretischen Denke heraus skizziert, die Schirrmacher kritisiert und die, der von Dir verlinkten Kritik nach zu urteilen, doch nur die assoziativen Phantasien eines linken, geltunsgsüchtigen, wirren Esoterikers sind?