Sind wir alle Egoisten?

Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Fr 1. Mär 2013, 07:54

Lumen hat geschrieben:Aber sicher kennst du das. Wer hat nicht schon mal hin- und her überlegt, ob er das Schnäppchen kaufen soll. Nachdem die Entscheidung dann gefallen war, war es natürlich sonnenklar. Du wurdest gefragt, ob du nochmal weg gehen willst, hast nach etwas unsicherem Gefühl dann aber gute Gründe gefunden, in deiner Komfortzone zuhause zu bleiben. Nie erlebt? Glaube ich dir einfach mal nicht. ;)


Wo habe ich denn behauptet, ich würde das nicht kennen oder hätte es nie erlebt? Es geht um die unterstellte Allgewalt des Ansatzes, jeder sei bestrebt, seine kognitiven Dissonanzen abzubauen.
Wenn gesagt wird, dass es unter anderem auch den Versuch gibt kognitive Dissonanzen abzubauen, würde ich dem sofort zustimmen.
Aber ist das ein Modus nach dem wir alle, zu jeder Zeit funktionieren? Nein.

Lumen hat geschrieben:Jeder kennt das oder ähnliche Beispiele. Dieses "ungute Gefühl" ist genau jene kognitive Dissonanz, die dann durch "gute Gründe" beseitigt wird. Aber wehe dir ist dann langweilig zuhause, dann rennt die andere Entscheidung (auszugehen) gegen deine aktuelle Entscheidung an, und jene Dissonanz kommt wieder auf. Entweder das zappen auf einen andern Sender rettet das dann, oder du raffst dich doch noch auf.


Äpfel und Birnen. Warum soll jedes ungute Gefühl, jede Rationalisierung oder aufkommende Langeweile nun „kognitive Dissonanz“ sein, zumal es ja schon längst andere Begriffe dafür gibt?

Lumen hat geschrieben:Bei den großen Widersprüchen tritt bisweilen die sog. "Compartmentalization" auf. Das kann man sich als abgetrennte, in sich konsistente Bereiche im Weltbild vorstellen, die aber von möglicherweise widersprüchlichen Ansichten abgeschirmt werden. Gängiges Beispiel hierfür sind seit der Kindheit geglaubte religiöse Ansichten, wie z.B. Transsubstantiation, "unbefleckte Empfängnis" oder die Auferstehen von den Toten. Jeder halbwegs intelligente Mensch weiß ganz genau, dass Menschen die drei Tage tot waren, niemals wieder aufstehen; dass Jungfrauen keine Kinder gebären können und das Gebäck und Wein sich nicht in Fleisch und Blut verwandelt. Trotzdem bewahren religiöse Katholiken solcherlei Ansichten und vermeiden es sozusagen, sie in Einklang mit einem wissenschaftlich-rationalen Verständnis zu bringen.


Das ist doch nur eine andere Umschreibung genau für das, was ich gesagt habe, dass nämlich die meisten Leute durchaus mit ihren kognitiven Dissonanzen leben. Wenn das nun als Abwehr gegen das Aufkommen von kognitiven Dissonanzen erläutert wird, wo siehst Du im Ergebnis noch den Unterschied?

Das mag ja pathologisch oder unterentwickelt sein (ich würde das aber noch nicht mal in allen Fällen so sehen), aber das gibt es einfach sehr häufig und zwar so häufig, dass ich der Idee, die Vermeidung oder der Abbau kognitiver Dissonanzen sei so eine Art Grundmodus der Psyche, eine Absage erteilen würde. Darum ging es.

Plastisch und lebensnah kann man das in Diskussionen im Internet beobachten. Auch wenn jemand nach allen Regeln der argumentativen Kunst widerlegt ist und seine Darstellung von performativen und argumentativen Widersprüchen nur so strotzt: in keiner Weise muss das jemanden verwirren. Da wird einfach munter über jeden Widerspruch, über jede gewonnene Teileinsicht hinweggeschrieben, als sei nichts gewesen. Wie geht das mit der Idee des Abbaus kognitiver Dissonanzen konform? Das ist ein sich einrichten inmitten von kognitiven Dissonanzen. Natürlich können das Abspaltungen sein, aber wenn sie der Normalfall (oder weit verbreitet sind) wie kann dann die Vermeidung kognitiver Dissonanzen der Normalfall sein?
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Fr 1. Mär 2013, 07:56

@Lumen, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand die beschriebenen biblischen Inhalte heute noch für wahr, im Sinne von real passiert, hält. Selbstverständlich weiß der religiös Erzogene spätestens nach seinem Schulabschluss, was er von diesen Aussagen zu halten hat. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, ein Weltbild in Ehren zu halten, das Menschen über viele Generationen hinweg begleitet hat. Man nennt das nicht kognitive Dissonanz, sondern Tradition und Kultur!

LG stine
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Fr 1. Mär 2013, 09:05

Doch, selbstverständlich gibt es buchstabengetreuen Glauben, gibt es magisches Denken, aber eben auch reifere Formen. James Fowler hat das untersucht:
http://de.wikipedia.org/wiki/James_W._Fowler
http://glauben-und-wissen.de/M16.htm

Es gibt eine typische religiöse Entwicklungsstufe, die im zweiten link hier beschrieben wird:
http://glauben-und-wissen.de/M16.htm#Synthetisch
Die Untersuchungen die Schnabel zusammengetragen hat stützen das Bild dieser Stufe als einer typisch religiösen. Ein konformer Mensch, der tendenziell geneigt ist sich „klassischen“ Autoritäten zu unterwerfen, der aber auch aus diesem Grund geneigt ist, sich „ordentlich“ zu verhalten, vor allem aber im Kontext seines religiösen Verständnisses von Ordnung und bezogen auf seine Mitgläubigen. Mit Andersgläubigen hat es dieser Typus des Gläubigen nicht so.

Aber damit muss der „Glaube“ ja nicht aufhören, man kann höchstens diskutieren, ob man ihn noch Glauben nennen soll und kann, aber das passt dann vielleicht besser in den Spiritualitäts-Thread.

Im Zusammenhang mit unserem Thread hier ist die Frage relevant, ob und inwieweit z.B. Religion ein Gegenmittel gegen einen grassierenden Narzissmus sein kann und inwieweit das evtl. nicht der Fall ist.

Da die großenteils unbekannten und nicht immer reflektierten Dogmen, die unser Weltbild ausmachen – dessen Interpretation ja ebenfalls von seicht bis hochreflexiv gestaffelt ist – das ein Amalgam verschiedener Systeme ist auch in weiten Teilen auf Glauben beruht, auch offengelegt werden müssen ist es nicht schlecht hier in den Spiegel zu schauen um am anderen die Struktur zu erkennen und zu lernen.

Die Transferleistung ist dann jedoch ein Schritt zu dem man niemanden zwingen kann und den viele nicht hinbekommen. Diejenigen die ihn hinbekommen und nicht nur einfach die Autoritäten denen sie sich an den Hals werfen auswechseln, erkennen unter Umständen eine ethische Verpflichtung, die sich aus dem Gesehenen ableitet. Aber das ist nicht zwingend und kann ebenfalls nicht verordnet werden, denn jenseits des nur Konventionellen ist man sich bewusst, dass man für sich selbst verantwortlich ist. Ein anderer Begriff dafür lautet Freiheit, ein Begriff der deswegen so stark unter Beschuss ist, weil die Kehrseite der Medaille, die Verantwortung, doch wohl immer noch gespürt wird. Da wird das Soziale irgendwie zur Naturgewalt, zu etwas, das man kaum verstehen und auch auf keinen Fall beeinflussen kann, eben wie Erdbeben und Gezeiten.
Die Gefahr ist einfach die, dass es in dem Moment, wo zu viele an das Spiel vom Kampfplatz glauben und ihn mit Mythen von Dawkins oder Nash unterfüttern und sich wechselseitig am kollektiver Lagerfeuer Internet ihr simplifizierendes Weltbild bestätigen, es irgendwann egal ist, wenn ein paar Wenige das Spiel der Spieltheorie durchschauen, weil die Macht der Masse eben auch eine Macht ist. Der wachsende Druck aus der Unsicherheit und dem Mangel an Geld in Europa, wird die gesellschaftlichen Spannungen vergrößern und ich sehe nicht, dass jemand weiß, wie man die auffangen soll.

Wäre an der Zeit sich Gedanken darüber zu machen. Wenigstens das passiert ja auch schon und erfreulicherweise sickert diese Diskussion in den Mainstream.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Nanna » Fr 1. Mär 2013, 12:23

Vollbreit hat geschrieben:...Mythen von Dawkins oder Nash...

Ich muss Nash hier in Schutz nehmen, weil er wirklich nur mathematische Zusammenhänge beschrieben hat. Nash hat sich nie dafür eingesetzt, die Spieltheorie großflächig auf das soziale Leben auszuweiten (auch wenn im Film "A Beautiful Mind" über Nash's Lebensgeschichte erfundene Szenen vorkommen, die das implizieren, aber in Wirklichkeit nur die Funktion haben, die Theorie für den Zuschauer zu veranschaulichen), es ging ihm einfach nur um das abstrakte Betrachten von Strategien. Die Spieltheorie hat absolute Gültigkeit unter der Voraussetzung, dass man strategisch handelt. Ob man (im privaten Umfeld) strategisch handelt oder handeln soll, ist eine Frage, mit der Nash sich meines Wissens nicht größer beschäftigt hat. Aufgrund seiner eigenen Erkrankung und ungewöhnlichen Persönlichkeit hat er sich übrigens auch mit dem Nutzen von psychischen Abweichungen bzw. individueller Lebensgestaltung (also Vielfalt innerhalb der Gesellschaft) für die Gesellschaft beschäftigt und es immer vorgezogen, seinen eigenen Weg zu gehen. Ich habe deshalb Zweifel, dass der stromlinienförmige narzisstische Karrierist jemand ist, den Nash sonderlich beeindruckend finden würde.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » So 3. Mär 2013, 11:06

Danke, für den Hinweis.
Ich kenne Nash eigentlich überhaupt nicht. Schirrmacher ist zwar auch skeptisch, was einige Episoden seiner Forschung angeht, im Bezug auf die Übertragung auf gesellschaftliche Zusammenhänge, aber es ist wohl tatsächlich besser vom Mythos der Spieltheorie zu schreiben.

Auch dem 1976er Dawkins würde ich keinerlei schlechte Absichten unterstellen, zumal er ja wirklich noch dazu aufruft, die Gesellschaft müsse sozusagen vor den Genen auf der Hut sein.
Mir geht es ausdrücklich um diese Art zu denken und Welt zu betrachten.

Dass diese Systeme scheinbar so nahtlos ineinanderpassen und andere „Egozentrismus durch kein Ego“-Projekte (das Ich ist eigentlich bedeutungslos, falls es überhaupt eines gibt, darum ist es auch vollkommen egal, was ich mache, kann ja eh nichts dafür) sich da scheinbar wunderbar einfügen ist das eigentliche Problem. Obendrein natürlich, dass diese Projekte inzwischen immer mehr angenommen werden und zum selbstverständlichen Alltag gehören. Immer wieder auch ganz unbemerkt.

Die Welt wird mehr und mehr für mich designed, was absurderweise die ursprünglichen Möglichkeiten des Internet ins Gegenteil verkehrt. Einstmals ein Tor zu einer neuen Welt, kehrt sich dieser Trend inzwischen in sein Gegenteil um, denn über die personalisierten Datenprofile die Google, Facebook, Microsoft, Amazon und andere anlegen, wird mir auch auf Suchmaschinen immer mehr das angezeigt, was meinen bisherigen Interessen entspricht. Was nutzerfreundlich aussieht und neben gezielter Werbung bisher wohl noch keine böseren Absichten verfolgt, bedeutet dennoch, dass der Horizont dessen, was ich erleben kann immer enger wird, durch meine Algorithmen. Man köchelt immer mehr im eigenen Saft.

Überhaupt ist die sofortige Verfügbarkeit von allem was ich sehen will, möglichst in wenigen Sekunden, sowie die Möglichkeit sich selbst in allen Lebenslagen der Welt zu präsentieren nicht ohne Risiken, bezogen auf die Ausbildung eines Ichs, was auch seine spontanen Impulse aufschieben kann – denn das ist einer der Bausteine eines gesunden Ichs.

Es ist einfach der Trend dass immer mehr Bereiche des Lebens nach den Prinzipien der Marktwirtschaft funktionieren: wer bringt mir was, wo kann ich meinen Gewinn/Nutzen steigern, wo lohnt es sich zu investieren? Nicht für die Rente, im zwischenmenschlichen Umgang.

Es sind viele andere Trends, die da zusammenlaufen. Viele lernten in der Familie teilen, warten, sich abzusprechen, beim Trend zum (oft überbehüteten) Einzelkind fällt auch dies weg.

Wie schon öfter erwähnt, ein bunter Strauß. Man muss, so glaube ich, die großen Faktoren von den kleineren trennen. Die großen Faktoren sind sozialer und wirtschaftlicher Druck, die m.E. zu einer zunehmenden Entsolidarisierung und Zersplitterung der Bevölkerung führt. Zunehmend abgeschottete soziale Milieus, die die anderen Milieus verachten.
Die Vermarktwirtschaftisierung des sozialen und privaten Lebens gehört m.E. auch dazu, wenn auch eher verstärkend als ursächlich, gleiches gilt in meinen Augen für die modernen Medien.
Individuelle und kollektive Faktoren greifen da ineinander, können sich verstärken oder hemmen.
Weit fortgeschritten sind immer diejenigen Ideologien, die als Normalität den Einzug in unsere Alltagspraktiken gefunden haben.

Interessant finde ich, dass die Idee von Susan Blackmore hier wieder auftaucht, die, der Teme.
viewtopic.php?f=6&t=4330&p=93976&hilit=teme#p93976
Genauer handelt es sich eigentlich um eine Fusion von Temen und Memen. Spieltheoretischen Computerprogramme (Teme), die zum Weltbild (Mem) mutieren und den Menschen „umprogrammieren“.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » So 3. Mär 2013, 12:11

So haben also die Teme und die Meme den lieben Gott ersetzt?
Erstaunlich, dass das menschliche Gehirn keine Ruhe geben kann. Die Theorie der Väter ist gestorben - es lebe die Theorie der Söhne!

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Mo 4. Mär 2013, 09:31

Ich glaube nicht, dass die Begriffe wirklich zusammenfallen, die Unterschiede sind doch größer.
Eine Hauptkritik gegen Religion, z.b. von Feuerbach, war, dass wir uns in Gott einer Figur unterwerfen, die nicht uns geschaffen hat, sondern der Mensch sei es gewesen der Gott geschaffen oder erfunden habe. Fortan diente der Mensch seiner eigenen Erfindung.

Hier liegt eine Parallele. Wir machen uns wieder klein. Schöner an den neuen Göttern ist, dass sie uns kaum Verbote auferlegen, wir dürfen alles machen, worauf wir Lust haben, relativ schrankenlos, ja, wir müssen sogar. Der alte Gott war ein beschränkender Gott, das Opfer was man den neuen Göttern darbieten muss, ist der Konsum.
Der gemeinsame Glaube ist die Beteuerung, wie unwichtig wir doch sind, das größte Opfer ist unser Ich. Es gibt uns eigentlich gar nicht und falls doch und falls doch, so sollten wir nicht glauben, dass wir irgendwie die Fäden unseres Lebens in der Hand haben.

Und weil das so ist, ist es auch völlig egal, was wir tun und lassen, wir bestimmen es ja nicht (das zu glauben, sei eine Illusion), wir sind die Marionetten, die Spieler sind die Hirnzellen, die Gene und auch das sind nur ausführende Organe der Naturgesetze, die man ebenfalls berechnen kann und am Ende stehen dann die Algorithmen.

Da hat sich eigentlich seit Jahrhunderten nichts geändert, außer dem Bild. Die perfekte Maschine, einstmals als ineinandergreifende Zahnrädchen gedacht, heute als der Traum von der Urformel.

Die wesentliche religionshistorische Neuerung beim Gottvater war, dass man mit ihm reden konnte, ihn bitten konnte. Die Idee des Handels – wieviele Rosenkränze kostet dieser Gesetzesbruch und lohnt er sich? - war eigentlich nicht von Beginn an mit drin. Es ging auch darum, dass eine Maximalschuld vergeben werden konnte, wenn man denn ehrlich, von Herzen, bereute.

Es ist ein eigenes Thema, das aber auch gut hier herein passte, wenn es nicht so wäre, dass momentan kaum jemand sonderlich Lust zum Schreiben hat. Was trennt den narzisstischen Egoisten, vom höher entwicklten neurotischen oder normalen Ich? Es ist ganz wesentlich die Fähigkeit Schuld zu empfinden.
Darum ist der Angriff auf das Christentum, er treibe den Menschen ins Schuldigsein, nur bedingt intelligent. Richtig scheint mir zu sein, dass die Kirche kein sonderliches Interesse daran hat, den armen Sünder zu Lebzeiten je aus eben diesem Status zu entlassen, wobei es ja eine Differenz zwischen Geboten und Lebenspraxis gibt und in dieser Differenz liegt ein interpretativer Spielraum, der durchaus auch klug genutzt wird.
Aber es ist in meinen Augen falsch die Fähigkeit Schuld zu empfinden, negativ zu bewerten.

Die hässliche Schwester der Schuld ist die Scham. Scham dreht sich narzisstisch immer nur ums eigene Ich. Man ist den ganzen Tag gefangen im Käfig der Phantasien über sich selbst. „Was denken sie jetzt wohl von mir? Was für eine entsetzliche Niederlage, da kann ich mich nie wieder blicken lassen. Alle werden mit dem Finger auf mich zeigen und über mich tuscheln und hämisch grinsen.“ Die Phantasien eines grandiosen Ich, das meint, es stünde den ganzen Tag im Fokus der Beachtung und jedes Wort und jede Geste von ihm sei wichtig. Es geht immer nur um mich, ob ich toll bin oder vollkommen blamiert immer nur Ich, Ich und Ich.

Schuld ist das Empfinden, das sich auf einen anderen bezieht. „Was habe ich dem nur angetan? Was habe ich da nur all die Jahre übersehen, hätte ich nur eher gewusst, wie er darunter gelitten hat. Wie kann das nur wiedergutmachen?“ Das sind Empfindungen die sich um andere drehen und in dem Moment, wo sich dieses Empfinden zum ersten Mal einstellt, ist der Ichpanzer geknackt.
Der Weg von der Scham zur Schuld, ist psychologisch vielleicht einer der bedeutendsten Schritte.

Viele Menschen heute, erwachsene Menschen, im öffentlichen Leben erfolgreiche Menschen, sind diesen Schritt nie gegangen. Und viele Menschen heißt, in unserem Land in einer Größenordnung von um die 15 Millionen, Tendenz steigend. Bei einer überalternden und bald rasch schrumpfenden Bevölkerung, wird der prozentuale Anteil noch schneller steigen.

Deshalb ist der Aufruf, nicht nur auf sich zu schauen, nicht nur so zu tun, als könne einem die Welt egal sein, egal aus welchem Lager er kommt, richtig.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Mo 4. Mär 2013, 13:04

Vollbreit hat geschrieben:Es ist ganz wesentlich die Fähigkeit Schuld zu empfinden.
Darum ist der Angriff auf das Christentum, er treibe den Menschen ins Schuldigsein, nur bedingt intelligent. Richtig scheint mir zu sein, dass die Kirche kein sonderliches Interesse daran hat, den armen Sünder zu Lebzeiten je aus eben diesem Status zu entlassen, wobei es ja eine Differenz zwischen Geboten und Lebenspraxis gibt und in dieser Differenz liegt ein interpretativer Spielraum, der durchaus auch klug genutzt wird.
Aber es ist in meinen Augen falsch die Fähigkeit Schuld zu empfinden, negativ zu bewerten.
Das hast du gut erkannt. Ich sehe das ähnlich. Dass die Kirche das Schuldgefühl für den Erhalt des Imperiums nützt, ist die negative Seite der Medaille. Die Frage ist aber auch hier die, nach dem geringeren Übel. Menschen mit Schuldbewusstsein ausnützen oder Menschen ohne Schuldbewusstsein allüberall zu haben? Am besten wäre wohl Menschen mit Schuldbewusstsein zu haben, aber das nicht auszunützen. So wie manche freie Christenvereine das praktizieren.

Vollbreit hat geschrieben:Die hässliche Schwester der Schuld ist die Scham. Scham dreht sich narzisstisch immer nur ums eigene Ich. Man ist den ganzen Tag gefangen im Käfig der Phantasien über sich selbst. „Was denken sie jetzt wohl von mir? Was für eine entsetzliche Niederlage, da kann ich mich nie wieder blicken lassen. Alle werden mit dem Finger auf mich zeigen und über mich tuscheln und hämisch grinsen.“ Die Phantasien eines grandiosen Ich, das meint, es stünde den ganzen Tag im Fokus der Beachtung und jedes Wort und jede Geste von ihm sei wichtig. Es geht immer nur um mich, ob ich toll bin oder vollkommen blamiert immer nur Ich, Ich und Ich.
Sich schämen bedeutet, unsicher sein und das hat mE keine narzistischen Züge. Wäre ein Narzist nicht jemand, der die Scham gar nicht kennt? Jemand, der sich immer völlig sicher darin ist, stets das richtige zu tun? Ich könnte mir gut vorstellen, dass gerade der am wenigsten Egoistische die meisten Selbstzweifel hat.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Mo 4. Mär 2013, 14:27

stine hat geschrieben:Sich schämen bedeutet, unsicher sein und das hat mE keine narzistischen Züge. Wäre ein Narzist nicht jemand, der die Scham gar nicht kennt? Jemand, der sich immer völlig sicher darin ist, stets das richtige zu tun? Ich könnte mir gut vorstellen, dass gerade der am wenigsten Egoistische die meisten Selbstzweifel hat.


Das ist eine sehr gute Frage, weil das ein klassisches, aber verständliches Missverständnis ist.
Bis vor noch nicht allzulanger Zeit dachte man, Narzissten seien die Prototypen des selbstbewussten Menschen, strotzend vor Stolz, Selbtsherrlichkeit, selbstverliebt und ohne jeden Zweifel an sich.

Man weiß heute, dass das nicht stimmt.
Die äußere Hülle ist grandios und selbstherrlich, doch sie ist bereits eine Kompensation der gefühlten Kleinheit und inneren Leere. Diese Gefühle der Leere, der Ohnmacht, der Kleinheit – aber auch (für eine Leistung) bewundert, statt (als für ihr Sosein) geliebt zu werden, mussten Narzissten in ihrer Kindheit oft ertragen.

Das führt zu einer Abspaltung bestimmter Gefühle und zu dem kompensatorischen Erleben, man brauche die Welt, vor allem die anderen Menschen, eigentlich nicht. Doch gerade Narzissten sind auf Aufmerksamkeit und Bewunderung angewiesen wie niemand sonst und paradoxerweise können sie, wenn sie Bewunderung und Anerkennung erfahren, diese nicht annehmen.

Der Grund ist, dass sie Dankbarkeit empfinden müssten und damit doch das Gefühl, andere zu brauchen, in gewisser Weise von ihnen (und ihrem Lob) abhängig zu sein. Das können sie nicht ertragen, so entwerten sie die Lobenden und vergiften die Anerkennung, häufig dadurch, dass sie die anderen als dumme Jasager darstellen oder als Trottel, die sowieso nicht beurteilen können, was sie gerade leisten. So werden sie nur von Idioten gelobt und das ist unbefriedigend, dass Lob wird bedeutungslos.

Narzissten brauchen darum insbesondere ständige Aufmerksamkeit, weil ihre Innenwelt chronisch leer und verarmt ist, weshalb sie ausgesprochen unter quälender Langeweile leiden, die durch ständige Reize und Aktion kompensiert werden muss.

Das führt wiederum dazu, dass sie ausgesprochen sensibel gegenüber den vermeintlichen Meinungen und Bewertungen anderer über sie sind (und sogar dort Kritik wittern, wo gar keine ist), schnell gekränkt und wütend werden und auf leise Kritik wie auf einen Angriff auf ihre ganze Person reagieren. Sie sind äußerst pikiert, wenn man ihnen den, ihrer Meinung nach, schuldigen Respekt zollt.

Das liegt nun wieder daran, dass sie nicht nur andere, sondern auch sich selbst in Wirklichkeit nicht lieben. (Manchmal halten sie Liebe für eine Illusion oder sie idealisieren Liebe und dann muss der andere all ihre Bedürfnisse erraten, tut er das nicht, ist die perfekte Liebe sofort in größter Gefahr und Angst tritt ein.) Sie bewundern ein idealisiertes Bild von sich und entwerten die anderen, damit dieses ideale Bild durch Kritik nicht beschädigt werden kann – wen interessiert schon die Meinung von Idioten und je mehr die Welt aus Idioten besteht, umso harmloser ist sie. Man braucht sich um die anderen nicht zu kümmern, sie nicht ernst zu nehmen, sie existieren eigentlich gar nicht als vollwertige Menschen, sie sind das namen- und gesichtslose Heer der ahnungslosen, aber bewundernden Statisten.

So spaltet sich ihre Innenwelt in 99% Idioten und 1% Leute, die erst zu nehmen sind, ebenfalls idealisiert werden und deren Meinung und Ansicht für sie nun nahezu schicksalhaft ist. Das negative Urteil eines bewunderten Menschen oder eine andere (gefühlte oder tatsächliche) Zurückweisung kann sie in tiefe Depression stürzen, alles ist aus, sie sind die ärmsten Menschen auf der ganzen Welt, niemand kann sich auch nur ansatzweise vorstellen wie unerhört sie leiden.

Und sie leiden wirklich. Zwar ist der Grund die maßlose Wichtigkeit, die sie sich zubilligen – sie können sich gar nicht vorstellen, dass andere etwas besseres zu tun haben, als all ihre Regungen, Äußerungen gebannt zu beachten, insofern ist jeder Alltagshandlung ein Auftritt – aber sie können da nicht raus. Das ist ja Kern der Krankheit. Insofern kommt ein „Hey, ist doch nicht so schlimm, passiert doch jedem mal“, auch kein Trost für sie, sondern eine weitere Demütigung. Sie stehen ja weit über der Masse. Sie hassen es wie „jeder“ zu sein, verachten alles Konventionelle, die Masse, den Pöbel, das Gewöhnliche, den Alltag.

So stimmt es, dass Selbstzweifel und Kritik kaum zu ihnen durchdringen, aber vor dem traurigen Hintergrund, dass sie als so unerträglich und vernichtend erlebt werden. Eine Aussage wie: „Dieser Schluss scheint mir nicht richtig zu sein“ kann bei einem Narzissten ankommen als: „Du bist ein Totalversager und ein völliger Idiot. Alles was du je gesagt hast ist Scheiße und wird es ewig bleiben, mit diesem Fehler ist es bewiesen und er brandmarkt dich für alle Zeiten und du hast gerade einen Kampf verloren.“ Ihre Selbstzweifel sind entsetzlich und fundamental, weshalb Narzissten einer kränkenden Niederlage auch nicht selten den Selbstmord vorziehen.

Das ist ja die Narzissten- (und Paranoiker-) Welt: Alles ist Kampf. Jeder gegen jeden. Wer anderer Meinung ist gibt es nur nicht zu oder ist einfach heillos naiv. Kein Vertrauen, kein Verzeihen, keine zweite Chance. Es geht um alles.

Ansätze davon kennen wir alle, das Gesamterleben hoffentlich nicht. Narzisstische Menschen können aus einer Vielzahl von Gründen sehr anstrengend bis frustrierend sein, doch sie sind, wie fast alle, Täter und Opfer in einer Person.
Aus den obigen Ausführungen wird vielleicht ein bisschen ersichtlich, dass und warum eine Kultur des Narzissmus für die Betreffenden und das Umfeld alles andere als wünschenswert ist.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Lumen » Mo 4. Mär 2013, 17:56

Vollbreit hat geschrieben:Wo habe ich denn behauptet, ich würde das nicht kennen oder hätte es nie erlebt? Es geht um die unterstellte Allgewalt des Ansatzes, jeder sei bestrebt, seine kognitiven Dissonanzen abzubauen.
Wenn gesagt wird, dass es unter anderem auch den Versuch gibt kognitive Dissonanzen abzubauen, würde ich dem sofort zustimmen. Aber ist das ein Modus nach dem wir alle, zu jeder Zeit funktionieren? Nein.


Dann ist kognitive Dissonanz nicht das richtige Konzept für das, was du ausdrücken willst. Der Begriff ist feststehend und beschreibt ein bestimmtes Phänomen.

Vollbreit hat geschrieben:Äpfel und Birnen. Warum soll jedes ungute Gefühl, jede Rationalisierung oder aufkommende Langeweile nun „kognitive Dissonanz“ sein, zumal es ja schon längst andere Begriffe dafür gibt?


Das wurde nicht behauptet. Weder Langeweile, noch ungute Gefühle sind kognitive Dissonanz. Die Dissonanz baut sich bei sich bei "akut" widersprechenden Informationen auf und wird wieder abgebaut indem der Konflikt verdrängt oder durch eine Erklärung aufgelöst wird. Die Dissonanz ist wie ein Hunger oder Schmerzgefühl, dass dem Körper sozusagen signalisiert: das hier ist doof. Entscheide dich! Je mehr Gewicht eine Einstellung hat, umso stärker müssen Gegenargumente sein (da sie dann gegen die sich aufbauende Dissonanz anrennen und solange runtergespielt werden, bis sie eine bestimmte Schwelle erreichen). Wie könnten wir sonst überzeugt werden, wenn vormalige Ansichten nicht in irgendeiner Art und Weise innerlich diskreditiert werden. Die Fähigkeit hingegen mehrere Wahrheitskandidaten gleichzeitig zu beobachten und für möglich zu halten und sich nicht wirklich festzulegen muss offenbar erst erlernt werden und fällt nicht jedem leicht.

Vollbreit hat geschrieben:
Lumen hat geschrieben:Bei den großen Widersprüchen tritt bisweilen die sog. "Compartmentalization" auf. [...]


Das ist doch nur eine andere Umschreibung genau für das, was ich gesagt habe, dass nämlich die meisten Leute durchaus mit ihren kognitiven Dissonanzen leben. Wenn das nun als Abwehr gegen das Aufkommen von kognitiven Dissonanzen erläutert wird, wo siehst Du im Ergebnis noch den Unterschied?


Das eine ist die Dissonanz, das andere ist Compartmentalization, Rationalisierung, Verdrängung und so weiter. Die Dissonanz ist der "Anzeiger" dafür, dass erst einmal ein innerer Konflikt von Informationen besteht, der auf eine bestimmte Weise funktioniert und sich äußert.

Vollbreit hat geschrieben:Plastisch und lebensnah kann man das in Diskussionen im Internet beobachten. Auch wenn jemand nach allen Regeln der argumentativen Kunst widerlegt ist und seine Darstellung von performativen und argumentativen Widersprüchen nur so strotzt: in keiner Weise muss das jemanden verwirren. Da wird einfach munter über jeden Widerspruch, über jede gewonnene Teileinsicht hinweggeschrieben, als sei nichts gewesen. Wie geht das mit der Idee des Abbaus kognitiver Dissonanzen konform? Das ist ein sich einrichten inmitten von kognitiven Dissonanzen. Natürlich können das Abspaltungen sein, aber wenn sie der Normalfall (oder weit verbreitet sind) wie kann dann die Vermeidung kognitiver Dissonanzen der Normalfall sein?


Nein. Wenn die Argumente nicht stark sind oder gehalten werden, sorgt die kognitive Dissonanz umgekehrt dafür, dass eigene Ansichten geschützt bestehen bleiben, hierbei wirken dann noch andere Mechanismen, wie der Bestätigungsfehler.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Di 5. Mär 2013, 07:47

@ Lumen:

Ich gehe ja lediglich davon aus, dass kognitive Dissonanzen nicht unbedingt jeden erschüttern und das auch nur in dem Moment, wo diese auch als solche wahrgenommen werden. Da gibt es viel um diese Wahrnehmung nicht aufkommen zu lassen oder abzumildern, keine Frage, aber wenn alles Verhalten als Abwehr gegen die Entstehung kognitver Dissonanzen interpretiert wird, hat das soviel erklärerischen Wert, wie jede andere Idee, die alles umfasst.

Ich behaupte nicht, dass es keine kognitiven Dissonanzen gibt oder die Idee als solche falsch wäre.
Sie ist nur nicht so umfassend, wie man manchmal hört.

Vor dem Hintergrund unseres Themas geht es darum, dass Menschen nicht einfache Rechenmaschinen sind, die man auf einen „wenn,dann“-Modus runterbrechen kann.

Der Mensch erweist sich in der Regel als recht sperrig, wenn es um simplifizierende Erklärungsmodelle geht, nicht weil man diese nicht auf den Menschen anwenden kann (und es nicht auch Menschen gibt, deren Verhalten man auf diese Art ganz gut erklären kann), sondern weil man sie fast alle auf den Menschen anwenden kann.

Genetische Dispositionen und früheste präverbale Prägungen und soziale Rollenmuster, die ja vielschichtig sind, plus die Beeinflussung durch Umweltfaktoren dieser und jener Art und nicht zuletzt der eigene Stil den man findet der von sehr einfach bis ausgesprochen differenziert reichen und alles dazwischen umfassen kann.

Dazu kommt noch, dass das Subjekt in diesem Sinne niemals „fertig“ ist und es auch vollkommen verschiedene Anfoprderungen an das Subjekt an ein und demselben Tag gibt. Da werden 12 verschiedene Rollen verlangt, in manchen muss man ganz aufgehen und als Subjekt fast verschwinden, bei anderen ist wieder ganz das inviduelle Sosein was verlangt wird, vieles bewegt sich dazwischen.

Wegen dieser Vielschichtigkeit, beschreibbar durch Verhaltensforschung, Soziobiologie, Hirnforschung, Behaviorismus, Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie, diverse soziologische oder sozialpsychologische Konzepte weiß man irgendwann nicht mehr ein noch aus, nicht weil diese Konzepte alle Quatsch sind, sondern, weil sie alle zum Teil richtig sind.
Irgendwer hat mal formuliert, dass es vor allem in der Psychologie kaum eine Untersuchung gibt, zu der nicht mindestens eine kommt, die das genaue Gegenteil belegt.

Das ist natürlich unbefriedigend und so ist der Wunsch verständlich, Ordnung in den Laden zu bringen. Aber wenn es dann zu sehr reduziert wird, tränen einem schon mal die Augen.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Di 5. Mär 2013, 08:33

Vollbreit hat geschrieben:Und sie leiden wirklich. Zwar ist der Grund die maßlose Wichtigkeit, die sie sich zubilligen – sie können sich gar nicht vorstellen, dass andere etwas besseres zu tun haben, als all ihre Regungen, Äußerungen gebannt zu beachten, insofern ist jeder Alltagshandlung ein Auftritt – aber sie können da nicht raus. Das ist ja Kern der Krankheit. Insofern kommt ein „Hey, ist doch nicht so schlimm, passiert doch jedem mal“, auch kein Trost für sie, sondern eine weitere Demütigung. Sie stehen ja weit über der Masse. Sie hassen es wie „jeder“ zu sein, verachten alles Konventionelle, die Masse, den Pöbel, das Gewöhnliche, den Alltag.

Ich glaube, dass jeder Mensch erstmal an einer Kritik zu leiden hat, egal, ob er Narzist oder sonstwas ist. Jemand, der daran zerbricht, so wie du das beschreibst, ist sicherlich krank, aber jemand, den Kritik völlig kalt lässt, ebenso.
In diesem Fall würde ich sogar sagen, dass mir Menschen, die Kritik ernst nehmen, noch lieber sind, als die anderen, die sie einfach abwehren und gar nicht wissen wollen, was andere über sie denken.

Nach deiner Beschreibung, was einen Narzisten ausmacht, sehe ich nicht klar, warum der ein Egoist sein sollte, denn den sehe ich in der Tat eher auf der genau gegenüberliegenden Seite, also als jemanden, dem nichts nahe geht, der nur sein Zeug durchzieht, koste es was es wolle.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Di 5. Mär 2013, 11:12

stine hat geschrieben:Ich glaube, dass jeder Mensch erstmal an einer Kritik zu leiden hat, egal, ob er Narzist oder sonstwas ist. Jemand, der daran zerbricht, so wie du das beschreibst, ist sicherlich krank, aber jemand, den Kritik völlig kalt lässt, ebenso.


Das sehe ich anders.
Kommt sicher auch auf de Art der Kritik an, diese kann ja ihrerseits auch sachlich oder übers Ziel hinaus oder vernichtend gemeint sein.
Dies gilt es unterscheiden und entsprechend reagieren zu können.
Es kann aber Situationen geben, in denen Kritik hocherfreulich ist und ich glaube, dass ist tatsächlich die Palette. Von zum Kotzen bis hocherfreulich und so erlebe ich das auch.

Sicher ist Kritik in einigen Fällen auch verunsichernd, man meint ja in der Regel, dass die Dinge, die man so macht richtig und in Ordnung sind, ein kurzer Schreck ist also immer dabei.
Aber gute Kritik ist manchmal ein Akt höchster Freunschaft.

stine hat geschrieben:In diesem Fall würde ich sogar sagen, dass mir Menschen, die Kritik ernst nehmen, noch lieber sind, als die anderen, die sie einfach abwehren und gar nicht wissen wollen, was andere über sie denken.


Klar, das geht mir auch so.

stine hat geschrieben:Nach deiner Beschreibung, was einen Narzisten ausmacht, sehe ich nicht klar, warum der ein Egoist sein sollte, denn den sehe ich in der Tat eher auf der genau gegenüberliegenden Seite, also als jemanden, dem nichts nahe geht, der nur sein Zeug durchzieht, koste es was es wolle.


Hm. Dann habe ich das nicht gut erklärt.
Narzissten sind deshalb tatsächlich Egoisten, sogar mitunter sehr radikale (hängt von dem Grad ihrer Pathologie ab), weil es in ihrer Selbstwahrnehmung, erst mal nur sie selbst gibt. Narzissten haben immer nur sich, ihre Gedanken, Gefühle und Empfindungen im Fokus.
Anderen gestehen sie zu, dass diese ebenfalls ständig über den Narzissten nachdenken und ihr ganzes Erleben eigentlich nur auf ihn, den Narzissten, ausrichten.
„Das macht der nur, um mich zu ärgern“, „Ach, der will sich bei mir einschleimen“ und so weiter.
Der Gedanke, andere könnten tatsächlich auch mal an sich selbst, ihren Beruf, ihre Sorgen oder auch nur darüber was sie essen oder wie sie sich die Nägel lackieren wollen nachdenken, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Alles dreht sich nur um sie selbst und sie sind ständig dabei sich, ihren Körper und wie ihre Wirkung auf andere abzuchecken. Im Zuge der Selbstbeobachtung leiden sie oft unter starken psychosomatischen Symptomen. Kaum etwas kann sie ablenken, weil leichte Symptome die Selbstbeobachtung verstärken und ihnen dann der ganze Tag versaut ist.
Und alle andere müssen mitleiden, ständig wird von meinem Magen erzählt und dass er heute etwas weniger zwickt als gestern, das aber so eigenartig nach links ausstrahlt und die Sorge um tödliche Erkrankungen ist sofort da und jeder Versuch der Mitwelt zur Normalität überzugehen ist ein Affront. Schließlich leidet hier nicht irgendwer an irgendwas.

Normalerweise lenkt einen der Kontakt mit anderen da ab, aber nicht den Narzissten, der andere gar nicht wahrnimmt. Höchstens als rücksichtlose Störenfriede, wie können sie von ihrem langweiligen Leben berichten, wo ich doch diese ausstrahlende Ziehen im Bauch habe. Nur das zählt. Und die Aufmerksamkeit ist gesichert, man weiß schon wie man sich zusammenkrümmt, leidend guckt, Theatralik gehört zu dieser Pathologie.

Andere Menschen gelten dem Narzissten als Verlängerung seines Selbst, wie es technisch heißt. Das bedeutet, wenn der Narzisst gut drauf ist und glänzen will, ist derjenige der dann vielleicht selbst ein ausstrahlendes Ziehen im Bauch hat, jemand der eher nervt.

Denn Narzissten können es nicht ertragen, wenn ihnen jemand die Show stiehlt.
„Ach, das kenne ich, ja. Also mein Mann der hat...“ und schon sind sie wieder im Fokus. Hat jemand eine tödliche Erkrankung oder hören sie davon, finden es Narzissten vollkommen angemessen, zu erwähnen, dass sie ja auch Zahnschmerzen haben unter denen sei schon den ganzen Tag entsetzlich leiden und von denen sie dann erzählen.

Sind sie im Mittelpunkt, werden bewundert und hofiert, ist alles in Ordnung, wehe dem, ein anderer reißt die Aufmerksamkeit an sich.

Narzissten sind in einem ausgesprochenen Maße undankbar. Tut man etwas für sie, erscheint ihnen das im selbstverständlich, manchmal verärgert es sie auch, wenn sie dankbar sein müssten. Dann wird die Hilfe entwertet und mit Floskeln von ganz außerordentlicher Dankbarkeit, kalt und mechanisch abgespult, klein gemacht. Ansonsten nehmen sie normale Dienstleistungen als selbstverständlich hin, schließlich sind sie zu was Höherem berufen, da können die anderen dankbar sein, wenn sie vom Glanz was abbekommen und da ist es nur recht und billig, wenn das Umfeld gerichtet ist. Schließlich muss man sich ja nicht um alles selbst kümmern, auch wenn man es natürlich besser könnte als jeder andere.

Emotionale Kälte ist etwas, was Narzissten ausmacht, man wird buchstäblich nicht warm mit ihnen. Entweder man ist dazu degradiert bloßer Zuhörer zu sein und da könnte dann auch jeder andere sitzen, man kommt sich so austauschbar vor, wie man tatsächlich ist – die Geschichten die Narzissten erzählen, sind oft nicht ohne Witz. Sie sind krass, bunt, grandios, originell … Stell dir vor, was mir wieder passiert ist … aber da man nie eingebunden wird und höchstens Stichworte geben darf, wird das schnell auch langweilig – oder man wird (seltener) idealisiert, plötzlich scheint jedes Detail an einem selbst wichtig zu sein und der Narzisst versinkt zu einem unerkennbaren Statisten.
In beiden Fällen kommt es nicht zu einer Begegnung auf Augenhöhe, zu keinem lebendigen Austausch, zweier erwachsener, vollwertiger Menschen.

Funktioniert man nicht, wie sie es erwarten und erfüllt man nicht ihre Wünsche, ist man mit der Wut der Narzissten konfrontiert. Entweder laut und offen, oder kalt entwertend. Eine falsche Bemerkung und man kann trotz jahrelanger Freundschaft zur persona non grata werden, für immer.

Die Beschreibung anderer durch Narzissten bleibt ungeheuer oberflächlich, selbst wenn es sich um Lebenspartner, beste Freunde oder enge Verwandte handelt. „Können sie mir ihre Frau beschreiben, so dass ich einen lebendigen Eindruck von ihr bekomme?“ „Ja sie ist imer für mich da. Wir verstehen uns blind, sie weiß genau, was ich denke, wir waren von Beginn an ein perfektes Team.“ Was für Ängste, Wünsche, Träume, Sorgen diese Frau hat, welche Interessen, politischen Einstellungen, Vorstellungen von einer guten Welt und so weiter, fällt vollkommen flach. Sie verstehen sich blind, es ist die ganz große Liebe und doch: Über die Haarfarbe hinaus und dass sie wohl mal gerne shoppen geht, kommt da nichts. Weil nichts wahrgenommen wird. Weil andere Menschen in der Innenwelt des Narzisten nicht vorkommen und wenn, dann werden die eigenen Stimmungen projiziert, gerne auch Aggressionen. „Warum mäht der denn jetzt den Rasen? Der will mich doch nur ärgern, die dumme Sau, das weiß ich doch genau.“

Narzissten interessieren sich zwar nicht für andere, kennen im Zweifel deren Motive aber bis in Allerkleinste. Denn ihnen macht man nichts vor, sie wissen sehr genau wie die anderen denken, ein kurzer Blick und man hat den anderen bis in die Tiefen seiner Seele erkannt.

Sie setzten ihr Zeug nicht rücksichtslos gegen andere durch, weil sie andere als Konkurrenten erleben, sondern die anderen kommen in der Welt der Narzissten kaum vor. Wenn, dann nicht als wirklicher Konkurrent, sondern als minderbegabtes aber korruptes Dreckschwein, denn bei einer echten Auswahl kann kein Zweifel bestehen, wer den Zuschlag bekommt.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Di 5. Mär 2013, 14:06

Das war doch mal eine gute Beschreibung. Ich habe Teile davon bei mir wiedererkannt. Ich hoffe aber nicht, dass ich ein pathologischer Fall bin. :blush2:

Gut, und wenn wir jetzt also wissen, wie der Narzist so funktioniert, wieviel davon ist noch normal "normal" und "gesund"?
Und bekommt man nicht von den Doktoren immer gesagt: "Nun denken Sie doch mal an sich selbst!"?
In gewisser Weise geht doch sogar der Yoga-Trend in Richtung Narzismus.
Und: Gibt es auch ein Gegenteil vom Narzisten und was wäre der dann? Der Altruist?
Der sich selbst völlig aus den Augen verliert und nur an andere denkt? Gibt es den überhaupt oder ist das auch nur wieder so eine aufgesetzte Maske für Narzisten?

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Mi 6. Mär 2013, 09:53

stine hat geschrieben:Das war doch mal eine gute Beschreibung. Ich habe Teile davon bei mir wiedererkannt. Ich hoffe aber nicht, dass ich ein pathologischer Fall bin. :blush2:

Gut, und wenn wir jetzt also wissen, wie der Narzist so funktioniert, wieviel davon ist noch normal "normal" und "gesund"?
Und bekommt man nicht von den Doktoren immer gesagt: "Nun denken Sie doch mal an sich selbst!"?


Narzissmus und Egoismus haben ein extrem breites Spektrum, das im Normalen beginnt.
Hier beschreibt es dann einfach die Sorge um sich und den legitimen Wunsch sich ein angenehmes Leben zu machen.

Pathologischer Narzissmus ist bei jeder Art psychischer Störung dabei und bedeutet dort einfach eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit, die mit der eigenen psychischen Symptomatik beschäftigt ist.

Dann betritt die narzisstische Persönlichkeitsstörung die Bühne, die in der leichten Form den tollen, grandiosen, von sich überzeugten, sozusagen klassischen Narzissten meint (es gibt allerdings auch hier schon stille Formen). Hier sind wir schon in der im letzten Beitrag beschriebenen Form, allerdings in einer gutartig egoistischen Weise.

Deshalb markiert, nächster Schritt, das Auftreten von Aggressionen und antisozialen Tendenzen: Lügen, Stehlen, Gesetzesübertritte, Gewalt und dergleichen, kurz, alles mit dem ein Narzisst mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist oder kommen könnte, einen entscheidenden Punkt.

(Die Eskalation von oben nach unten hängt mit einem Abbau des Über-Ich zusammen: Genauer, eigentlich damit, dass das Über-Ich/Gewissen nicht ausreichend, nur bis zu einem bestimmten Punkt gebildet oder aufgebaut werden konnte.)

Was wir nun beobachten ist einfach das weitere Hinzukommen aggressiver Elemente. Das aggressive und antisoziale Verhalten wir häufiger und nimmt psychisch und in allen gelebten Beziehung immer breiteren Raum ein. Es durchdringt die Phantasien, auch die sexuellen und das sexuelle Verhalten. Sexualität ist immer ein schöner Bereich um aggressive Spannungen auszuleben, doch wichtig ist, dass die Aggression im Dienst der Liebe steht, nicht umgekehrt. Hier kommen sadistische Elemente und das Spiel mit den Körperausscheidungen hinzu. Ist sexuelle Erregung nur so herzustellen, ist das kein gutes Zeichen.

Danach wird das narzisstische Verhalten immer aggressiver. Das muss offen aggressiv sein, sondern kann auch Manipulation, Lästereien und anderes bedeuten, aber jede Beziehung wird nur noch schwer verzerrt als Kampf, jeder gegen jeden, gesehen und gelebt. Zum Narzismus treten immer mehr paranoide Elemente hinzu, die Impulskontrolle sinkt, was oft zu Süchten und chronisch auagiertem, hypersexuellen Verhalten führen kann, der Sadismus breitet sich weiter aus, in der Weise das Macht über jemanden zu haben und Triumpfgefühle bei der Vernichtung von jemandem zu entwickeln die einzigen kurzen „Freuden“ werden.

Das ist bereits das Ende des narzisstischen Spektrum, das Bereich schwerster Pathologien, wie man ihn von chronisch Kriminellen, Massen- und Serienmördern, einigen Terroristen sowie bestimmten grausamen charismatischen Staatsführern kennt.
Ist jemand noch in der Lage irgendeine nichtausbeutende Beziehung einzugehen, spricht man vom malignen Narzissmus.

Im großen und ganzen ist die Terminologie ganz am Ende uneinheitlich. Je nach Definition markieren die sogenannten Psychopathen (amerikanischer Ausdruck der bei uns eigenltich nur „psychsich krank“ bedeutet) oder antisozialen Persönlichkeiten das Ende der Eskalation.
Menschen mit einer (in den meisten Schulen) Nullprognose für jede Art von Therapie, die völlig ohne jedes Gewissen sind und agieren.

Das ist ein kurzer Überblick über das narzisstische Spektrum. Zu allen Typen könnte man Bücher schreiben.

stine hat geschrieben:In gewisser Weise geht doch sogar der Yoga-Trend in Richtung Narzismus.


Ja.
Ich kenne zwar den gegenwärtigen Yogatrend nicht, aber weite Teil der Esowelle aus den 1990ern, waren stark narzisstisch angehaucht. Ich, mein Körper, meine Gesundheit, mein Karma, mein Kontakt zu höheren Sphären, meine Fähigkeit die Aura lesen zu können und so weiter.

stine hat geschrieben:Und: Gibt es auch ein Gegenteil vom Narzisten und was wäre der dann? Der Altruist?
Der sich selbst völlig aus den Augen verliert und nur an andere denkt? Gibt es den überhaupt oder ist das auch nur wieder so eine aufgesetzte Maske für Narzisten?


Das sind gute und wichtige Fragen.
Ja, es gibt nichtnarzisstisches Verhalten. Wenngleich wohl jeder immer auch narzisstisch, mindestens, in der gesunden Form ist, heißt das nicht, dass jeder das die ganze Zeit ist. Jede Form der Sorge um andere, der absichtslosen (nicht berechnenden) Hilfe für andere, jeder Wunsch dass das Wohl des anderen im Auge hat, ist nicht narzisstisch motiviert.

Es gibt aber, und Deine Beschreibung trifft den Nagel auf den Kopf, in der Tat Masken des Narzissmus. Wolfgang Schmidbauer hat ein relativ bekanntes Buch darüber geschrieben, „Hilflose Helfer“.
Und in der Tat ist eine Überbehütung, bei Kindern, in der Pflege von Angehörigen und irgendwie vom Leben Gezeichneten oft ein Hinweis auf eine narzisstische Pathologie. Die Grandiosität liegt dann daran, dass man meint, niemand würde so gut verstehen was der andere braucht, wie man selbst. Alle andere haben keine Ahnung, nur man selbst weiß, was Kinder, Kranke, Pflegebedürftige, psychisch Auffällige., Straftäter und so weiter „wirklich“ brauchen.
Während die anderen nur unempathische seelenlose Roboter sind, ist man selbst die Einzige, die sich aufopfert, die immer für andere da ist und die oft das eigene Leben, eiegene Beziehungen, die eigene Gesundheit und so weiter völlig hintanstellt.

Du kannst diese Masken auch in Teilen der Gesundlebeszene finden, wenn man mit irgendwelchen „Energien“ meint alle und alles heilen zu können und hinterher seine heilenden Energien über die ganze Welt sendet und irgendwann meint, man habe auf diesem Wege schon drei Kriege verhindert.

Also nicht nur offen gelebter elitärer Größenwahn ist von Narzissmus durchdrungen, sondern auch stillere Formen, wobei natürlich nicht jeder Eso, jeder der berechtigt meint, er würde wissen, was ein anderer braucht, jede engagierte Krankenschwester und auch nicht jeder Alternativmediziner damit im Umkehrschluss narzisstisch ist.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Do 7. Mär 2013, 08:15

Was machen wir denn nun mit der Erkenntnis, dass es pathologische Narzisten gibt, @Vollbreit?
Und sind jetzt alle Narzisten auch Egoisten?
Ich denke das nicht.
Es geht um die Bewusstheit des Handelns. Ein Egoist stellt sich bewusst in die Mitte, wogegen es einem Narzist vielleicht oft gar nicht bewusst ist, dass es falsch ist, alles auf sich zu beziehen. Er fühlt das halt so und kann nichts dagegen tun. Außerdem weiß er ja nicht, dass alle anderen das vielleicht nicht tun (wenn das überhaupt richtig ist).
"Nimm das nicht persönlich" ist ja genau deswegen das geflügelte Wort, wenn sich mal wieder jemand verletzt fühlt, obwohl es um eine Sache gegangen wäre.
Der Titel deines Threads könnte auch lauten: Sind wir alle Narzisten?
Und ich hätte nach deiner Erklärung direkt mit: "in gewisser Weise schon, bis auf die bewussten Egoisten unter uns", geantwortet. Denn wenn es so ist, dass sich der Narzist schlecht fühlt, wenn er nicht gut ankommt, kann er niemals auch ein Egoist im Sinne der bewussten Übervorteilung anderer, zu seinen Gunsten sein. Er würde sich danach selber zerfleischen, weil er sich der Liebe anderer nicht mehr sicher sein könnte. Der Narzist will gefallen, er ist sozusagen ein unbewusster Egoist.

Schlimm: Wenn die Eigenliebe pathologisch wird, denn dann schadet sich der Narzist ständig selber und leidet wahrscheinlich auch noch darunter.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Do 7. Mär 2013, 11:16

stine hat geschrieben:Was machen wir denn nun mit der Erkenntnis, dass es pathologische Narzisten gibt, @Vollbreit?
Und sind jetzt alle Narzisten auch Egoisten?
Ich denke das nicht.


Pathologische Narzissten haben eine Tendenz deutlich egoistischer zu sein, als andere Menschen. Da die Palette des Narzissemus und auch der narzisstischen Persönlichkeitsstörung aber so breit ist, ist nicht jeder Narzisst 24/7 ein Egoist. Je weiter die narzisstische Pathologie fortschreitet umso egoistischer wird der Narzisst und am Ende des Spektrums, bei der antisozialen Persönlichkeit, dem Soziopathen, dem chronisch Kriminellen ist tatsächlich totaler Egoismus (= ein Nullinteresse das Wohl irgendeines anderen Menschen zu vergrößern) vorhanden, in einem Ausmaß, das man schwer nachvollziehen kann.

Diese Menschen - und nur diese! - sind totale Egoisten. Darum finde ich es ein wenig ärgerlich so zu tun, als seien wir doch, offen oder insgeheim, alle Egoisten oder Narzissten. Warum dieses verdummende Mantra mitsingen? Nur, weil es so viele singen? Nur, weil es die vermeintlichen Vorturner singen? Nur, weil es die Welt bequem macht? „Aufklärung ist der Ausweg des Menschen, aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ (Kant)

Fassen wir noch mal zusammen:
1) Nash formulierte mit der Spieltheorie einen mathematischen Algorithmus, der zunächst im kalten Krieg, wo man annehmen durfte (vielleicht musste), der andere habe die Absicht einen auszulöschen, seine Anwendung fand und dort erfolgreich war. Diese Algorithmen wurden dann auf die Börse übertragen, wo es auch darum geht dem anderen soweit entgegenzukommen (Geld zu leihen), dass der eigene Profit maximal wird. Dass dieses Modell nun auch im Alltag das allerbeste Verhaltenskonzept sein sollte, ist im höchsten Maße umstritten. Zudem funktioniert es nicht:
Frank Schirrmacher hat geschrieben:Anhand einer der Wanderanekdoten über John Nash, hier in der Version von Douglas Rushkoff, kann man in der Tat verstehen, worin der Unterschied besteht, ob man Spieltheorie mit Menschen oder Rechnern spielt:
„Die RAND-Wissenschaftler testeten eines ihrer wichtigsten Spiele, das 'Gefangenen-Dilemma', mit den Sekretärinnen, die bei RAND arbeiteten, in dem sie alle möglichen Szenarien kreierten, in denen die Frauen kooperieren oder einander betrügen konnten. In jedem einzelnen Experiment wählten die Sekretärinnen allerdings nicht der egoistischen Weg, den die RAND-Forscher erwartet hatten, sondern die Kooperation. Das konnte John Nash nicht davon abhalten … weiterhin Szenarien für die Regierung zu entwickeln, die auf Angst und Egoismus basierten … Nash schob die Schuld für die misslungenen Experimente auf die Sekretärinnen. Sie seien schwache Subjekte, unfähig, der einfachen Regel zu folgen, dass ihre Strategien egoistisch zu sein hätten.“
(F.Schirrmacher, Ego – Das Spiel des Lebens, Karl Blessing Verlag 2013, S.64)


2) Die soziobiologische Idee der egoistischen Gene ist bereits innerhalb der Evolutions- und Verhaltensbiologie nie unumstritten gewesen. Den Ausschlag warum sie sich – für einige Jahrzehnte – durchsetzte (inzwischen gibt es neue Kritik an dem Konzept), gaben spieltheoretische Szenarien, in den man sogenannte Beschädigungskämpfer mit Kommentkämpfern (die nur drohen und tendenziell nicht schädigen) verglich und die Folgen durchrechnete.
Die Zahlenwerte, also eine Punktevergabe, die man als Sieger, Verlierer, durch erlittene Verletzungen usw. erhielt, wurden willkürlich vergeben, die Möglichkeit, dass es Tiere gab, die zunächst nur drohten, dann aber ernst machten, wurde unter den Tisch fallen gelassen. Es ergab sich eine errechnete (nicht empirische) Überlegenheit der Beschädigungskämpfer und das gab dem Konzept tierisches Verhalten sei egoistisches Verhalten, das nur kooperiert, wenn es selbst davon profitiert, den Zuschlag.

So weit, so gut. Richtig schlecht wurde es dann, als das Konzept des allumfassenden Egoismus, im Rahmen der Soziobiologie, auf das menschliche Leben übertragen wurde. Es ist nicht einmal so, dass das Verhalten, zu kooperieren um am Ende mehr für sich zu bekommen, im menschlichen Kontext nicht vorkäme, aber es deckt nur einen bestimmten Teil des menschlichen Verhaltens ab. Erstens gibt es Menschen, die nie oder so gut wie nie kooperieren, wie antisoziale Persönlichkeiten, chronisch Kriminelle, Soziopathen, Terrorführer, manche Sektenführer, maligne Narzissten. Zweitens beschreibt dieses Verhalten (Egoismus, ansonsten Kooperation nur, wenn größerer Nutzen für einen selbst erwartet wird), außer in Fällen schwerer Pathologien, Motive, die im Grunde schon im Kindesalter überwunden werden.
Spätestens die zweite Stufe der konventionellen Moral nach Kohlberg, dort die Stufe 4, ist nicht mehr auf das Konzept des Egoismus (und egoistisch motivierten Kooperation) zu reduzieren. Genaue Zahlen sind nicht zu bekommen, aber etwa die Hälfte der Menschheit befindet sich auf mindestens dieser Stufe, jenseits des Konzepts der egoistischen Gene.


3) Neurobiologische Erklärungen, der Mensch sei im Grunde von seinen Hirnzellen und diese durch die Naturgesetze „ferngesteuert“, in der Weise, dass die Rede vom freien Willen des Menschen keinen Sinn ergibt, werden vom Kompatibilismus zurückgewiesen, der den Kritikern des freien Willens in vielen Fällen überhaupt nicht bekannt zu sein scheint. Diskussionen hierzu finden sich hier im Forum genug und in aller Ausführlichkeit.
Das Motiv die Rede von der Unfreiheit des Willens leichtfertig zu übernehmen, ist oft genug das einer psychologischen Entlastung von gefühlter Verantwortung.

4) Die Idee des psychologischen Egoismus (jeder Mensch denke eigentlich nur an seinen eigenen Nutzen), konnte, wie AgentProvocateur darstellte und verlinkte, durch Batson empirisch widerlegt werden.

5) Der Begriff des ungesunden Egoismus fällt eng mit dem des pathologischen Narzissmus zusammen. Aber es sind nicht einmal alle Narzissten rund um die Uhr Egoisten. Die Gesamtzahl der schweren Persönlichkeitsstörungen, die immer mit erhöhtem Narzissmus einhergehen, beträgt bei uns etwa 15-20%, was aber heißt, das 80-85% nicht betroffen sind.


Das soll im ersten Schritt zeigen, dass die leichtfertige Rede, wir seien ja ohnehin alle Egoisten, nach allem was man heute weiß schlicht falsch zu nennen ist.

Im zweiten Schritt soll es daran appellieren, deshalb auch nicht so zu tun, als sei dies ohnehin das Spiel, was von allen gespielt wird und darauf weitere Überlegungen aufzubauen.
Auch ist es unnötig bis schädlich die unterkomplexen Strategien der Spieltheorie und der Soziobiologie für Erklärungen allen menschlichen Verhaltens zu nehmen, da Menschen sich so ganz einfach nicht verhalten.
Durch stete Wiederholung, Dressur und Suggestion wird dieses Verhalten aber verstärkt oder – Schirrmachers Kritik – von der Ebene des Deskription (die aber bereits falsch ist) zur Norm erhoben. Dumm sei dann, wer kein Egoist ist.

Die Indizien, dass unsere Gesellschaft in der Tat narzisstischer wird, sind leider nicht von der Hand zu weisen, weshalb es gut ist die Ursachen, die verstärkenden und hemmenden Faktoren zu kennen. Hier muss noch nachgelegt werden, die wirklichen Ursachen von Verstärkern getrennt werden und gezeigt werden, wie es in Zukunft vielleicht besser laufen könnten, im Rahmen eines lebbaren und nicht idealen Konzepts.

Ich hoffe, dass dann wieder mehr Leute mitschreiben, gelesen wird ja scheinbar und ihre kreativen Vorschläge einbringen, denn ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie man für Europa das Steuer herumreißen kann.
Soweit mal mein Zwischenfazit.

stine hat geschrieben:Es geht um die Bewusstheit des Handelns. Ein Egoist stellt sich bewusst in die Mitte, wogegen es einem Narzist vielleicht oft gar nicht bewusst ist, dass es falsch ist, alles auf sich zu beziehen. Er fühlt das halt so und kann nichts dagegen tun. Außerdem weiß er ja nicht, dass alle anderen das vielleicht nicht tun (wenn das überhaupt richtig ist).


Das ist richtig.
Aber nicht jeder der in der Mitte steht, muss zwingend ein Egoist sein. Man kann auch einfach eine Begabung oder weniger Hemmungen als andere haben und es dennoch gut meinen.

stine hat geschrieben:"Nimm das nicht persönlich" ist ja genau deswegen das geflügelte Wort, wenn sich mal wieder jemand verletzt fühlt, obwohl es um eine Sache gegangen wäre.


Manchmal ist etwas auch dann verletzend gemeint, wenn es mit „Nimm das nicht persönlich“ garniert ist.

stine hat geschrieben:Der Titel deines Threads könnte auch lauten: Sind wir alle Narzisten?


Ja.

stine hat geschrieben:Und ich hätte nach deiner Erklärung direkt mit: "in gewisser Weise schon, bis auf die bewussten Egoisten unter uns", geantwortet. Denn wenn es so ist, dass sich der Narzist schlecht fühlt, wenn er nicht gut ankommt, kann er niemals auch ein Egoist im Sinne der bewussten Übervorteilung anderer, zu seinen Gunsten sein.


Doch, kann er.
Es geht Narzissten nämlich nicht darum bei allen gut anzukommen. Vergiss nicht, dass er 99% der Menschen (99% sind ein Phantasiewert, keine realistische Zahl) für Idioten hält und bei denen gar nicht ankommen will. Das sind nur Püppchen in seinem Spiel. Es schmerzt sie, wenn sie bei Menschen nicht ankommen, die ihnen sympathisch sind.
Narzissten werden deshalb gerne als charismatisch beschrieben, weil sie viele Strategien entwickelt haben, um zu gefallen. Sie haben oft einen oberflächlichen Charme, ein gewinnendes Wesen, wissen sehr genau, wo sie sich wie verhalten müssen um gut anzukommen und wen sie total ignorieren können. Sie wollen (in leichteren Formen) geliebt und bewundert werden, wissen aber nicht, wie sie das anstellen sollen, über den ersten Schritt hinaus.
Der Schritt ins Persönliche, dort wo Emotionen ausgetauscht werden und nicht nur die glänzende Fassade präsentiert wird, der misslingt ihnen.
Wir wollen vermutlich alle Anerkennung, Liebe und Bewunderung, zumindest ein Stück weit, die Frage ist, ob wir in der Lage sind, nach dem wir Aufmerksamkeit erregt haben, Beziehungen zu vertiefen, uns emotional einzubringen oder ob wir auf die Rolle des grandiosen Erzählers, des allerklärenden Bescheidwissers, der ewigen Helferin, des Schürzenjägers oder des sexy Vamps reduziert bleiben. Äußerlich erfolgreich bis triumphal, aber innerlich leer und von allem und allen wie durch eine unsichtbare Glaswand getrennt. Da draußen sitzen die, die Spaß an ihrem primitiven Mist, an Fußballübertragungen, doofen Alltagsunternehmungen, am Smalltalk über die gesammelten Belanglosigkeiten der Welt: Familie, Arbeitsplatz, die Nachbarn, ein bisschen Schimpfen, ein wenig Tratsch haben. Hier sitze ich, getrennt von den Idtioten, weit über ihnen, aber ein wenig verärgert dass „die Primitiven“ daraus Spaß ziehen können und selbst nicht in der Lage sich in solche (schamhaft besetzten) „Niederungen“ zu begeben.
Hier sitze ich, bemerke die Glaswand an die ich stoße, selbst wenn ich mitten im Getümmel bin - ich weiß nur nicht was ich tun soll. Selbst wenn ich im Bierzelt mitschunkle, so kann ich mich doch nicht fallen lassen, die Kontrolle fast nie wirklich aufgeben. Narzissten haben wahnsinnige Angst vor Kontrollverlust.

stine hat geschrieben:Er würde sich danach selber zerfleischen, weil er sich der Liebe anderer nicht mehr sicher sein könnte. Der Narzist will gefallen, er ist sozusagen ein unbewusster Egoist.


Ja.
Aber er ist in der Lage die Signale des Missfallens gekonnt auszublenden. Er bemerkt subtile Signale nicht, weil er sie nicht bemerkten darf. Andere dürfen in seiner Welt nicht zu Menschen mit eigenen Bedürfnisse, Ansichten, Wünschen und Interessen werden, da ist eine panische Angst genau davor.
Also negieren Narzissten, sehr erfolgreich, alle Signale die aus dieser Richtung kommen. In dem Moment wo der anderen ein vollwertiger Mensch ist, fällt ihre grandiose Hülle zusammen und sie haben keinen Plan B. Sie wären ein Mensch unter Menschen, hier ein bisschen kompetenter, dort etwa weniger, wie das im Leben eben so ist, aber das ist für Narzissten der Super-GAU. Einer von Vielen zu sein, ist die Katastrophe schlechthin.
Deshalb sind sie sich auf krummen Wegen der Liebe der anderen sehr sicher. Wer könnte denn auch einen so derartige tollen Menschen wie mich nicht lieben? Es könnte nur ein Idiot sein, auf dessen Urteil man dann auch keinen Wert legen würde. Narzissten geben sich nicht ganz her, sie behalten die Kontrolle gerne in allen Lebenslagen, sie liefern sich nicht mit Haut und Haaren aus (auch wenn sie es manchmal meinen).
Dieser emotional gebremste Schaum ist die Kälte unmittelbar hinter der grandiosen Fassade. Es ist die Angst vor Kontrollverlust, ausgeliefert zu sein und einen anderen zu brauchen.
Deshalb kommt es in der Psychoanalyse zu der seltsam anmutenden Formulierung der „Fähigkeit zur Abhängigkeit“. Sie meint eine reife Abhängigkeit, in der sich zwei Menschen auf Augenhöhe begegnen.

stine hat geschrieben:Schlimm: Wenn die Eigenliebe pathologisch wird, denn dann schadet sich der Narzist ständig selber und leidet wahrscheinlich auch noch darunter.


Exakt das ist das Dilemma in dem sich Narzissten befinden. Man hat irgendwie alles im Griff und fühlt sich beschissen. Man ist extrem misstrauisch, bezüglich dessen, dass es da noch eine warme Welt geben könnte, in der man die Kontrolle etwas lockern kann, in der man, oft zum ersten Mal, so etwas wie Geborgenheit und Liebe spürt und zulassen kann. (Es ist der Weg der von der Scham zur Schuld führt.)
Ich glaube, Du hast jetzt vom Gefühl her erfasst, wie Narzissten ticken und das war eines meiner Ziele, denn über die dürren und schlechten Beschreibungen in den diagnostischen Manualen kommt man in der Regel keinen Schritt weiter. Es ist kein wütender Aufruf zukünftig Narzissten zu diffamieren, viel mehr ein Aufruf zur Empathie, es sind selber Opfer. Und dennoch darf man sich die Frage stellen, inwieweit man schwer kranken Menschen die Strippen in die Hand gibt, wobei es natürlich so ist, das gerade Narzissten ins Rampenlicht drängen.
Deshalb sollte man der Welt eher weniger Narzissten wünschen. Es sind Menschen, die leiden und gleichzeitig Leid verbreiten. Es sind Menschen die in der Überzahl an einer wirklich schweren psychischen Erkrankung leiden, für die man nicht noch das Werbebanner hochhalten sollte. Die schlimmsten Fälle sollte man erkennen, mit den gemäßigten kann man leben lernen, das hat in der Vergangenheit auch ganz gut funktioniert.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Di 12. Mär 2013, 07:43

@Vollbreit: Ich sehe eigentlich nicht, dass Narzisten anderen Menschen mit ihrer Wesensart schaden. Sie schaden sich nur selbst, weil sie sich zu wichtig nehmen. Menschen, denen sie mit ihrer Art auf den Zeiger gehen, wenden sich eh ganz schnell ab, es sei denn, sie sind Psychologen und verdienen Geld mit dieser Spezies.

Was hältst du übrigens von hochbegabt und hochsensibel? Sind Betroffene in deinen Augen auch Narzisten?
Die Denkweisen sind jedenfalls zum Teil identisch.
Nachspüren, was ein anderer über einen selbst denken könnte, sich an allem die Schuld geben, Ehrgeiz daran legen, um idealisierte Zustaände zu erreichen.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Di 12. Mär 2013, 09:56

stine hat geschrieben:@Vollbreit: Ich sehe eigentlich nicht, dass Narzisten anderen Menschen mit ihrer Wesensart schaden. Sie schaden sich nur selbst, weil sie sich zu wichtig nehmen. Menschen, denen sie mit ihrer Art auf den Zeiger gehen, wenden sich eh ganz schnell ab, es sei denn, sie sind Psychologen und verdienen Geld mit dieser Spezies.


Eher nicht. Wie gesagt, Narzissten haben ein gewinnendes Wesen und in der Regel auch viele Möglichkeiten, beim anderen den Punkt zu finden, wo dieser zu manipulieren ist. Das gilt auch für Beziehungen. Da sie andere Menschen auch idealisieren, schmeicheln sie einem ungeheuer und das ist bei vielen der Punkt, an dem die anderen zu kriegen sind. Zuckerbrot und Peitsche ist hier nicht selten das, was man bekommt. Beziehungen mit Narzissten sind in aller Regel ein Fiasko, es sei denn, es treffen sich zwei Narzissten, was gar nicht so selten ist, dann sind die beiden nach außen oft das perfekte Paar, finden aber nicht zueinander, auch wenn sie goldene Hochzeit feiern.
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rub ... trag7.html

Der nächste Punkt ist, dass Narzissten hervorragende Eigenschaften haben, auf der Karriereleiter aufzusteigen. Auch bei durchschnittlicher Begabung sind sie überzeugt von ihrer eigenen Brillanz und strahlen diese zuweilen auch aus, das beeindruckt. Als Vorgesetzte sind sie unempathisch, aber auch hier oft erpresserisch. Ihr Ideal, dem sie oft alles andere unterordnen, ist maximale Leistung und genau das erwarten sie auch von allen anderen.
Da ihr Privatleben meistens kein Ort der Bestätigung ist (die sie so dringend brauchen), sind sie auf die „Bühne“ angewiesen und fordern ihren Perfektionismus auch von anderen ein. Das kann mal gut gehen, wenn ein Narzisst der Patriarch vom alten Schlag ist, der höchste Forderungen hat, aber auf seine Art gerecht ist. Das gibt dann ein gutes Gefühl, zur Elite zu gehören, auch für die Angestellten, aber oft das nicht mehr der Fall.

Auf der mittleren Ebene frustrieren Narzissten aber oft ihre Untergebenen. Sie wissen oft, wo sie buckeln müssen und geben ihre Aggressionen nach unten weiter, an ihre Untergebenen. Kleine Westentaschentyrannen werden das mitunter. Du brauchst Dir nur die Meldungen über die innere Kündingung anzuschauen, die in den letzten Tagen überall zu lesen waren, dann liegt der Zusammenhang auf der Hand, exemplarisch:
http://www.pressebox.de/inaktiv/gallup- ... xid/579035

Heute wird ja etwas erst als bedrohlich angesehen, wenn es ein negativer Wirtschaftsfaktor geworden ist, die innere Kündigung ist es ganz sicher. Der im Text erläuterte Modus ist der narzisstische, leistungsoptimierte. Kaltes Desinteresse am anderen, bei gleichzeitiger hoher Erwartungshaltung, da macht auf Dauer niemand mehr mit. An sich eine intelligente Einstellung.

Schlecht ist m.E. auch, wenn Narzissten an Stellen sitzen, an denen sie viele Menschenleben verderben können. Narzisstische Lehrer sind ein Alptraum, nicht nur, wenn sie sexuelle Übergriffe begehen. Über Jahrzehnte können sie das Schicksal 1000er Kinder negativ beeinflussen und tun es noch immer viel zu oft.

Auf höchster Ebene schaden Narzissten m.E. auch, vor allem wenn sie eine Neigung zu Korruption, Vetternwirtschaft und dergl. haben. Die soziale Durchlässigkeit in Deutschland ist heute mitunter geringer, als in Zeiten wo es offiziell noch Stände gab, das kann man nicht nur alles auf das Umfeld projizieren, aber es gibt in dem ganzen System viele Stellschrauben, das ist sicherlich eine.
Wir sollten nicht vergessen, dass auch Hilter und Stalin Narzissten waren, zwar in einer weit fortgeschrittenen Eskalationstufe, aber immerhin.
http://www.psyheu.de/4550/die-gefaehrlichste-krankheit/

Meiner Meinung nach gibt es also gute Gründe, das weitere Einsickern narzisstischer Muster in die Gesellschaft kritisch zu sehen. Von jedem Piloten wird erwartet, dass er seine körperliche Fitness regelmäßig nachweist.
Warum darf ein psychisch schwer kranker Mensch unwidersprochen als Vorgesetzter andere traktieren, 1000e Kinder verderben, ihnen den Spaß am Lernen nehmen, in gesellschaftliche sensible Forschungsbereiche vordringen? Tests und Möglichkeiten der Intervention wären kein Problem, nur eine Frage des Wollens.


stine hat geschrieben:Was hältst du übrigens von hochbegabt und hochsensibel? Sind Betroffene in deinen Augen auch Narzisten?
Die Denkweisen sind jedenfalls zum Teil identisch.
Nachspüren, was ein anderer über einen selbst denken könnte, sich an allem die Schuld geben, Ehrgeiz daran legen, um idealisierte Zustaände zu erreichen.


Solche Diagnosen können nie pauschal abgegeben werden, sondern sind immer Einzelfallfdiagnosen. Um Hochbegabung wurden in den letzten Jahren ein Riesenhype veranstaltet, der zumeist mehr von den Eltern ausging und dort sicher auch narzisstische Züge hatte. Das eigene Kind, heute oft das einzige, muss einfach ein besonderes sein (und mit seinem perfekten Leben ein wenig vom Glanz auch auf die Eltern scheinen lassen: „Klar ist mein Kind genial, ist ja schließlich mein Kind.“).
Die Maximalbehütung ist ja fast ein eigenes Thema, aber leider auch ein starker Faktor für eine narzisstische Entwicklung des Kindes. Es sind Kinder die entweder in Watte gepackt werden und deren soziale Funktion es ist, schön und besonders zu sein – und wehe sie machen sich dreckig oder spielen mit den falschen Kindern oder jemand von außerhalb hat Forderungen an sie - oder welche, die Spitzenleistungen abliefern müssen und nur dann und dafür beachtet werden. Ob man mit drei schon lesen kann, oder auf der Blockflöte Bach im Kopfstand spielt oder perfekte Manieren hat, all so etwas wird gefördert, „Kind“ dürfen solche Kinder oft nicht sein.

Ganz praktisch ist es wohl so, dass es vor einigen Jahren so war, dass jede Lernschwäche automatisch in ein Signal für Hochbegabung verwandelt wurde. Überehrgeizige Eltern hechten dann von Institut zu Institut wo es für echte Hochbegabtenschulen nicht reicht (ich hörte mal von einer Frau, die eine solche Schule besucht hat, dass früher über 90% der Verdachtsfälle genommen wurden, weil sie tatsächlich hochbegabt waren, während vor 10 Jahren über 90% der Fälle abgewiesen wurden), gibt es dann, 5000 Euro später, irgendwann jemanden, der dem Kind endlich attestiert hochbegabt oder hochsensibel oder Indigokind oder sonst etwas zu sein, Hauptsache besonders.

Ich finde es gut, wenn für Eltern ihre Kinder etwas Besonderes sind, das sollten sie sein, sie sollten sie lieben und den Wunsch haben, dass es ihnen gut geht. Weniger gut finde ich, wenn diese Liebe daran gebunden ist, dass das Kind schön, reich, berühmt, mächtig oder superintelligent sein muss oder am besten alles zusammen. Da werden dem Kind dann Zentnerlasten auch die Schultern gepackt, die es kaum tragen kann. Es ist gut gemeint, wenn das Kind vom Klavierunterricht in in die Ballettschule gebracht wird (man weiß ja wie wichtig Bewegung und Körperintelligenz ist), dann noch ihr Pferd versorgen muss (soziale Verantwortung kann man nicht früh genug lernen), irgendwann ein Karatekurs eingepflochten wird (man muss sich auch durchsetzen können, gerade heute), ein wenig chinesisch lernt (kann nicht jeder und die wirtschaftliche Entwicklung, da ist das gut wenn man die Sprache der Zukunft beherrscht) und so hat das Kind schon einen durchorganisierten Tag, auch daran kann man sich nicht schnell genug gewöhnen, hat noch keinem geschadet und die Konkurrenz schläft nicht. Man braucht da keine Eliteinternate mehr, die hat man zu Hause. Einfach nur Kind sein, das fällt für diese Kinder dann gern mal aus. Kind sein heißt hier, selbst, nicht vorgefertigt, im eigenen Tempo, mit selbstgewählten Freunden, die Welt erobern, eigene Interessen finden, eigene Fehler machen.

Diese Mischung aus Angst und Ehrgeiz ist nicht selten bereits eine Frucht dieses Leistungsideals, was die soziale Komponente sehr zum Schaden (und nun endlich auch zum wirtschaftlichen, aber ist denke, bis man das wirklich kapiert hat, fließt noch viel Wasser den Rhein runter) für die Gesellschaft vernachlässigt. Sie setzt an den falschen Stellen an und versucht bereits dieses fragwürdige Ideal der Perfektion, der Effizienz zu bedienen, statt gelassen zu hinterfragen.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Di 12. Mär 2013, 13:22

Den Kinderstress mit den elterlich gutgemeinten Überangeboten meinte ich nicht. Das finde ich, gelinde gesagt, auch zum :kotz:

Es gibt aber trotz allem Missverständnis auch Kinder, die von sich aus strebsam und ehrgeizig sind, da brauchen die Eltern nichts dazu tun. Sie lesen eben mit drei Jahren Bücher und schreiben der Mama den Einkaufszettel. Ich spreche von wirklich Hochbegabten und solchen, die sensibel genug sind, Missstimmungen zu spüren und sie dann auf sich beziehen. Sie neigen dazu alles richtig machen zu wollen, weil sie mit Missstimmungen nicht fertig werden. Hochbegabt und hochsensibel geht oft einher und wird selten erkannt und das gerade WEIL sich viele Eltern mit ihren weniger Begabten in den Vordergrund drängen. Wirklich Begabte stellen sich lieber hinten an, weil sie schon im Kindergarten gelernt haben, dass sie niemand versteht und sie nicht ins Team passen.
Davon wollte ich sprechen.
Deine Reaktion gibt mir aber recht darin, dass wirkliche Hochbegabung aus Gründen der gewünschten Hochbegabung heute unter geht.
Meine Frage bleibt: Zählt der Hochsensible, der Missstimmungen spüren kann und auf sich bezieht und der Hochbegabte, der sich nirgendwo anschließen kann, weil er häufig nicht verstanden wird, auch als Narzisst?
Oder wird jemand, der schon in jungen Jahren in sich gefangen ist ein solcher?
Übrigens: Das Leiden hochbegabter Kinder, in Kindergarten und Schule, endet zwar häufig im Erwachsenenalter, wo sie sich ihre Gesprächspartner dann auch unter Älteren und Erfahreneren suchen können, die Kindheitserfahrungen bleiben aber auch.


Was den Narzissten angeht, @1von6,5 Mrd, danke! Künftig mit Doppel "s", damit wir wenigsten formal einer Meinung sind.

LG stine
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