Todestrieb und Evolution

Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon laie » Mo 29. Jul 2013, 20:39

ujmp hat geschrieben: theorieunabhängige Beobachtung möglich ist. Das geht in kontrollierten Experimenten.


Jein. Ja, wenn es möglich ist, für theoretische Begriffe Messmethoden zu finden, die nicht das jeweilige Fundamentalgesetz einer Theorie voraussetzen. Oft werden solche Messmethoden als Spezialgesetze in den Korpus einer Theorie eingefügt. Aber wer garantiert, dass dies in jedem Fall möglich ist? Mehr noch: ob eine Messmethode wirklich logisch unabhängig von einer Theorie ist, also gewissermassen ausser ihr steht, muss man im Einzelfall erst einmal beweisen. Einfach mal so behaupten, kann man es nicht.

Nein, nach der Hermeneutik gibt es keine theorieunabhängige Beobachtung.

P.S. Desillusionierend kommt hinzu, dass neben der Forderung, die Unabhängigkeit einer Messmethode von einer gegebenen Theorie T erst einmal zu beweisen, auch die Messmethode selbst die Gestalt einer komplexen Theorie T# haben kann, die ihrerseits wieder T#-theoretische Terme enthalten kann, zu deren Bestimmung man auf eine Messtheorie T## ausweichen müsste et ad infinitum. Die völlig theorieunabhängige Beobachtung ist damit in meinen Augen eine Illusion.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon Nanna » Mo 29. Jul 2013, 22:29

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Der Unterschied wird genau in dem Moment relevant, wo man Theorien darüber entwirft, wie und warum der ganze Quatsch funktioniert.

Es ging ja nicht darum wie Theorien entstehen, sondern darum, ob theorieunabhängige Beobachtung möglich ist. Das geht in kontrollierten Experimenten.

Die Hermeneutik würde hier eben schon ansetzen und sich erst mal ansehen, was du mit den Begriffen "kontrolliert", "Experiment", "theorieunabhängig" usw. meinst und inwiefern nicht schon diese Begriffe implizit theoretisieren (wo ich grundsätzlich erstmal zustimmen würde, dass sie das tun; wobei nicht jeder Hermeneutiker automatisch ein Laclau ist, der behauptet, dass Weltanschauungen grundsätzlich kontingent und geschichtlich sind, Rationalismus eingeschlossen).

laie hat geschrieben:Der Gedanke, um uns herum gibt es lauter diskrete Objekte, ist keineswegs trivial. Tatsächlich beginnen die Schwierigkeiten damit, dass man bei jeder Beschreibung der Wirklichkeit kontradiktorische Aussagen machen muss der obigen Art: etwas ist endlich und zugleich unendlich, es ist und es ist nicht, es ist notwendig und es ist nicht-notwendig. Der Erkenntnisvorgang, der Akt des Erkennens ist selbst ein solcher Widerspruch: etwas ist zugleich Bewusstseinsgegenstand und Bewusstseinsgegenstand, deutender Akt und gedeuteter Gegenstand gehören zusammen und lassen sich nicht voneinander trennen.

Da sprichst du etwas an, was im Poststrukturalismus auf die Spitze getrieben wird, indem Sprache ausschließlich als System von Differenzen dargestellt wird: "Hell" ist, was "nicht dunkel" ist, ein "Pferd" ist, was nicht ein "Hund", eine "Katze", ein "Baum", ein "Palast" eine "Flasche", also sprich, was nicht alles andere als eben ein "Pferd" ist - wobei am Ende eben nicht so klar ist, was genau das ist, weil es nicht positiv definierbar ist. Allerdings ist die Frage, ob, wie du anmerkst, wirklich die Frage, ob die "Natur" diskrete Objekte kennt oder ob es nicht eher wir sind, die diese artifiziell einteilen und unterscheiden, indem wir eben sprachliche Differenzen aufbauen und - Hermeneutik - deuten, also einer Zeichen- bzw. Lautfolge (Signifikant bzw. "Zeichen") Bedeutung zuschreiben (Signifikat bzw. "Bezeichnetes").

Mich erinnert von der grundlegenden Idee dieser Kontextualismus irgendwie ein bisschen an die Relativitätstheorie, die ja auch nur noch Gegenstände in Bezug aufeinander und nicht mehr in Bezug auf einen statischen Hintergrund betrachtet. Von daher wundert es mich auch ein bisschen, dass dieses Denken vielen Naturwissenschaftlern so fremd erscheint.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon ujmp » Di 30. Jul 2013, 06:51

Nach den Konzepten des "New Experimentalism" ist das nicht so, was ihr hier alles schönes erzählt. Bzw. würde mich brennend interessieren, was das für praktische Konsequenzen haben soll. Ok, Poppers Falsifikationismus wurde zumindest als wissenschaftliche Methode ad acta gelegt. Was aber immer noch ein Kern wissenschaftlicher Arbeit ist, sind die ernsten Tests, die Hypothesen standhalten müssen (severe tests). Es wird dazu immer noch versucht, Hypothesen unter Bedingungen zu testen, die deren Bestätigung möglichst unwahrscheinlich machen. Und damit man überhaupt eine testbare Prognose aus einer Hypothese ableiten kann, muss sie logisch falsifizierbar sein, es muss Aussagen geben, die ihr logisch widersprechen. Die Forderung der intersubjektiven Nachprüfbarkeit wurde nie aufgegeben, Wissenschaft ist mehr denn je ja alles andere als "freie Assoziation"!

Eine Beobachtung benötigt u.U. z.B. nur die Theorie der Gleichheit oder Ähnlichkeit. Ob das zwei ähnliche Farben sind oder zwei ähnliche Zahlenreihen oder auch komplexere Muster, die sich ähneln, ist dabei ein rein quantitatives Problem. Die dahinterstehenden Messmethoden stehen dabei ja nicht zur Debatte. Sie können sogar falsch sein. Denn wenn ein Messgerät, dass auf einer falschen Theorie beruht, reproduzierbare Ergebnisse liefert, dann ist die Ähnlichkeit der gelieferten Daten dennoch ein objektiver Fakt, der beobachtbar ist. Letztlich ist jede Beurteilung einer Theorie ein Ja oder Nein über die Ähnlichkeit von Mustern.

Laie hat hier irgendwo angemerkt, dass die Deutung und der Deutende eine Einheit ist. Ich würde das einfach als einen Organismus bezeichnen, und zwar wörtlich gemeint. Dieser Organismus ist differenzierbar von seiner Umwelt, auch von Nannas "Gemeinschaft". Und innerhalb dieses Organismus muss es ebenfalls Differenzierungen geben. Ein davon wird irgendwie eine Grenze zwischen Deutung und Deutenden darstellen. Natürlich kann man behaupten, dass alles mit allem zusammenhängt. Das ist aber eine völlig sinnlose Aussage.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon laie » Di 30. Jul 2013, 07:12

Nicht ganz. Daß etwas zugleich Bewusstseinsgegenstand und Bewusstseinsgegenstand sei, ist ein kontradiktorischer Widerspruch und auch so gemeint. Er hat nichts mit Co-Evolution zu tun, etwa wie man sagt, dass unsere Augen sich in Anpassung auf unsere Umwelt sich entwickelt haben. Was hier eigentlich gemeint ist, versuche ich kurz zu erläutern. Ich sehe vor meinem Fenster einen Baum. Anders als durch diesen Bewusstseinsakt (das Sehen) kann der Baum vor dem Fenster nicht zu einem Gegenstand meines Bewusstseins werden. Ich habe also in meinem Kopf den Baum als Gegenstand meines Bewusstseins, der Baum ist also abhängig von einem Bewusstsein, eben als Bewusstseinsgegenstand. Als real bestehend (ich nehme an, den Baum gibt es auch, wenn ich nicht hinschaue), ist dieser Baum dagegen unabhängig von meinem Bewusstsein, er ist als Bewusstseinsgegenstand also zugleich Bewusstseinsgegenstand . Worüber rede ich also eigentlich, wenn ich von einem Baum rede, der immer noch vor meinem Fenster steht, wenn "das Fenster", "ich als erkennendes Subjekt" usw. nicht mehr da bin?
Zuletzt geändert von laie am Di 30. Jul 2013, 07:38, insgesamt 5-mal geändert.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon Vollbreit » Di 30. Jul 2013, 07:18

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Der Unterschied wird genau in dem Moment relevant, wo man Theorien darüber entwirft, wie und warum der ganze Quatsch funktioniert.

Es ging ja nicht darum wie Theorien entstehen, sondern darum, ob theorieunabhängige Beobachtung möglich ist. Das geht in kontrollierten Experimenten.
Ausgerechnet darum geht es nun überhaupt nicht. Jedes kontrollierte Experiment versucht Theorien zu verifizieren/falsifizieren.
Theorieunabhängige Beobachtung versucht ein Zen-Schüler zu erreichen.

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften, Philosophie, all das wirkt suspekt. Begriffe wie Metaphysik, Religion, Esoterik, Spiritualität, Mystik sind zwar emotional besetzt, aber werden, vermutlich deshalb, als eine einzige, undifferenzierbare Katastrophe erlebt.
Du schmeißt alles in einen Topf. Ich würde Sozial- und Geisteswissenschaften nicht in eine Reihe mit Religion und Esoterik stellen. Der Knackpunkt ist einfach, ob eine wissenschaftliche Methodik dahinter steht.
Natürlich, wie ausgerechnet so ein klar und sachlich argumentierender Mensch wie Du überhaupt in den Verdacht kommt... Vielleicht deshalb?:
ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Das heutige Topmodell ist der quasiautonome Bioroboter mit leistungsstarkem Prozessor, mit Evolutionsschleifen und Selbstoptmierungsprogramm. Sehen, verarbeiten, lernen, besser werden, alles ganz logisch, effektiv und algorithmisch, alles andere ist Schnickschnack. Wie hübsch man sich das auch immer hinphantasiert, am Ende bleiben die immer gleichen Fragen offen, deshalb würde ich erneut gerne ganz praktisch wissen wollen, was Deinen Pragmatiker de facto von Darths dunkler Egomaschine unterscheidet.

Wenn du so eine beschränkte Phantasie hast, ist es für dich evtl. tatsächlich besser, dass dich ein Priester zum Leben anleitet. :mg:

Du hast Dich jetzt schon zum zweiten Mal vor einer Antwort gedrückt und ob meine Phantasie beschränkt ist, ist für Deine Antwort unerheblich.
Ich sehe halt nur größere Ähnlichkeiten einer auf kurzfristigen Nutzen angelegten Strategie mit einer anderen solchen.


Nanna hat geschrieben:Mich erinnert von der grundlegenden Idee dieser Kontextualismus irgendwie ein bisschen an die Relativitätstheorie, die ja auch nur noch Gegenstände in Bezug aufeinander und nicht mehr in Bezug auf einen statischen Hintergrund betrachtet. Von daher wundert es mich auch ein bisschen, dass dieses Denken vielen Naturwissenschaftlern so fremd erscheint.
Der reine Kontextualismus verliert sich und braucht einen Ankerpunkt. Dieser ist die Praxis.
Die Praxis hat den Vorteil, dass man erkennt, wie jemand eine Theorie konkret interpretiert. Die praktische Festlegung kann dann wieder kritisiert werden.

Der übliche Glaube, Sprache benenne etwas, was schon da ist und von dem jeder weiß, was gemeint ist, dem ujmp anhängt, ist naiv. Auf diese Idee kann man kommen, weil jeder von uns in bereits funktionierende, weit differenzierte Sprachspiele eingebunden ist.

Geht man jedoch an die Sprachübersetzung, wir die Schwierigkeit dieses Ansatzes offensichtlich. Quine stellt dies im Rahmen seines Gedankenexperiments vor:
Angenommen ein Forscher bewegt sich in einem Eingeborenenstamm, dessen Sprache der nicht spricht. Plötzlich hoppelt ein Kaninchen vorbei, worauf einer der Stammesmitglieder auf das Tier deutet und „gavagai“. Damit ist klar, „gavagai“ bedeutet „Kaninchen“.
Wobei, könnte es nicht auch „Kaninchenbein“ bedeutet haben oder „Kaninchenauge“? Oder vielleicht sollte es auch „niedlich“ heißten, oder „Abendessen“, „böses Ohmen“ oder den „Ahnengeist des Kaninchens“ bezeichnen. Das sind die Fälle, in denen man normalerweise nachfragt, was genau denn nun mit „gavagai“ bezeichnet wird.
Das kann man aber erst, wenn man die Sprache beherrscht.

Dasselbe Problem besteht am Anfang der Sprache. Ob jemand etwas mit einer Geste verknüpft oder ein Ereignis (vielleicht einen Donner) kommentiert, und „hago“ sagt, der andere kann nur eine Theorie darüber aufstellten, was der andere meint. Nachfragen kann er nicht, wenn „hago“ das erste gesprochene Wort ist.
So entstehen im Grunde parallele Theorien darüber, was mit Begriffen gemeint ist und bei einer genügend großen Anzahl an Mitspielern, setzt sich ein Gebrauch durch. Es sagt eben nicht das Kind „Hund“ zu einem Hund, sondern kriegt diesen Begriff beigebracht, antrainiert. Jedoch schwingen in Begriffen individuelle Assoziationen mit, abhängig davon, ob man bspw., Hunde liebt oder Angst vor ihnen hat, sie als Freund oder Mittagessen betrachtet.

Beliebig können die Begriffe jedoch nicht gewählt werden, eine Katze „Hund“ zu nennen, gilt ganz einfach als falsch. Man kann natürlich seine individuellen Deutungen haben, muss aber schauen, dass und ob die anderen noch mitkommen. Wenn nur ich diese Sprache spreche, stirbt sie, wenn ich sterbe. Allerdings gibt es immer wieder Wortneuschöpfungen und Bedeutungsverschiebungen.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon laie » Di 30. Jul 2013, 07:27

ujmp hat geschrieben:würde mich brennend interessieren, was das für praktische Konsequenzen haben soll. Ok, Poppers Falsifikationismus wurde zumindest als wissenschaftliche Methode ad acta gelegt. Was aber immer noch ein Kern wissenschaftlicher Arbeit ist, sind die ernsten Tests, die Hypothesen standhalten müssen (severe tests). Es wird dazu immer noch versucht, Hypothesen unter Bedingungen zu testen, die deren Bestätigung möglichst unwahrscheinlich machen. Und damit man überhaupt eine testbare Prognose aus einer Hypothese ableiten kann, muss sie logisch falsifizierbar sein, es muss Aussagen geben, die ihr logisch widersprechen. Die Forderung der intersubjektiven Nachprüfbarkeit wurde nie aufgegeben, Wissenschaft ist mehr denn je ja alles andere als "freie Assoziation"!


Die praktischen Konsequenzen fristen deshalb ein Nischendasein, da Fachwissenschaftler solchen metatheoretischen Diskussionen ohnehin nicht mehr folgen können. Vor hundert Jahren war buchstäblich jeder Physiker auch Wissenschaftstheoretiker; heute bilden sich die meisten das immer noch ein. Heute ist die moderne Wissenschaftstheorie so kompliziert, dass sie eigentlich nur noch von Spezialisten ausgeübt werden kann. Sprich: die meisten Fachwissenschaftler sehen überhaupt nicht, wo irgendwas nicht stimmt.

Vollbreit hat geschrieben:Theorieunabhängige Beobachtung versucht ein Zen-Schüler zu erreichen.


Vielleicht ist das die Konsequenz, wenn wir wirklich einmal alle verstanden haben, dass durch Wissenschaft widerspruchsfreie, theorieunabhängige Erkenntnis nicht erreichbar ist. Vielleicht haben wir dann das aus all den wissenschaftstheoretischen Studien gelernt.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon Vollbreit » Di 30. Jul 2013, 07:37

ujmp hat geschrieben:Und damit man überhaupt eine testbare Prognose aus einer Hypothese ableiten kann, muss sie logisch falsifizierbar sein, es muss Aussagen geben, die ihr logisch widersprechen.

Theorien werden natürlich verifiziert/falsifiziert, nur widerlegen eben einzelne falsche Sätze nicht die Theorie. Darum geht es.
Fällt ein Segment, wird eben einfach nachgebessert, ohne dass man gleich die Theorie verwirft.
Irgendwann wenn 80% der Kernidee verworfen sind, stellt sich schon die Frage, ob das ursprünglich Gemeinte noch immer gemeint ist, oder ob man nicht die ganze Theorie verwerfen sollte. Im Falle der PA haben sich Begriffe konkretisiert und die PA ist Therapie der Wahl für Psychoneurosen und was bei Freud früher unter „Hysterie“ lief, zerfällt heute in mehrere eigene Krankheitsbilder.
Aber wir benutzen Begriffe wie „Materie“ oder „Atom“ ja auch noch ja auch noch, obwohl wir heute was völlig andere damit meinen, als die alten Griechen. Niemand würde aufgrund der eklatanten Bedeutungsverschiebungen fordern, man solle die Physik abschaffen.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon ujmp » Di 30. Jul 2013, 07:40

laie hat geschrieben:Die praktischen Konsequenzen fristen deshalb ein Nischendasein, da Fachwissenschaftler solchen metatheoretischen Diskussionen ohnehin nicht mehr folgen können. Vor hundert Jahren war buchstäblich jeder Physiker auch Wissenschaftstheoretiker; heute bilden sich die meisten das immer noch ein. Heute ist die moderne Wissenschaftstheorie so kompliziert, dass sie eigentlich nur noch von Spezialisten ausgeübt werden kann. Sprich: die meisten Fachwissenschaftler sehen überhaupt nicht, wo irgendwas nicht stimmt.


Welche Konsequenzen wünschst du dir denn?
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon laie » Di 30. Jul 2013, 07:59

@Vollbreit Vor allem in deinem letzten Absatz gebe ich dir recht. Der Punkt ist für mich, dass wir unsere Vorstellung von Wissen modifizieren müssen. Lange Zeit galt eigentlich nur das Wissen als echtes Wissen, welches man für Voraussagen verwenden konnte ("Wissenschaft, das ist entweder Physik oder Briefmarkensammeln", dieses Ernest Rutherford zugeschriebene Zitat verdeutlicht diese Ansicht am besten). Liessen sich aus einer Theorie keine Prognosen ableiten, dann galt sie schon einmal nur second best. Aber Wissen ist nicht nur Voraussage. Es gibt ein therapeutisches Wissen, ein literarisches Wissen, ein ethnographisches Wissen, ein theologisches Wissen. Es gibt ein narratives Wissensknäuel, ein Wissensknäuel, das sich selbst erzählt und aus dem die eigentliche Welt gewebt ist, in der wir leben.

@ujmp Nicht ich wünsche mir Konsequenzen, die gibt es schon längst. Ich habe versucht, sie in den vorangegangenen (Kruzifix, jetzt kann ich nicht mal mehr schreiben) darzulegen.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon Vollbreit » Di 30. Jul 2013, 10:44

Ja, aber das ist eigentlich schon bekannt.
http://de.wikipedia.org/wiki/Wissen#Formen_des_Wissens

Ähnlich der Intelligenzbegriff, der das Problem hat, dass er flach bleibt, wenn er scharf definiert werden kann, aber nicht mehr greifbar wird, wenn er bestimmte Intelligenzleistungen mitberücksichtig, wie Du sie wohl auch im Sinne hast.
Howard Gardner hat das mal angerissen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Theorie_de ... elligenzen

Bei den Integralen läuft das unter Entwicklungslinien:#
http://integralesleben.org/il-home/il-i ... twicklung/

Im Grunde weiß jeder, dass es so etwas gibt, nur ist es schwer systematische Tests dafür zu entwerfen, ich diskutiere das auch gerade mit einem Forscher, der genau das versucht. Es ist relativ leicht bestimmte Aspekte, wie räumlich-visuelles Vorstellungsvermögen, sprachliche und Zahlenlogik zu testen, aber es gibt keine triftige Begründung warum nun ausgerechnet das Intelligenz sein soll und z.B. nicht die Fähigkeit neue Theorien zu entwerfen oder Versatzstücke alter richtig zusammenzusetzen, mit 5 Bällen zu jonglieren, oder sich Melodien merken zu können, ein Snookermatch zu antizipieren. Oder eben schnell zu kapieren, was ein anderer meint, im flow zu sein oder sonst etwas.

Auch fluide und kristalline Intelligenz werden unterschieden:
http://www.psyheu.de/1648/gehirnjogging ... telligenz/

Manche meinten, das dann doch reduzieren zu können, anderen waren wieder dagegen und so weiß man bis heute nichts Genaues.
http://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine ... ntelligenz
Das heißt, wir haben wieder einen Begriff der Präzision vorgaukelt, wenn man sagen kann jemand habe einen IQ von 132 und die Intelligenz sei zu 55% vererbbar, im Grunde ist das alles ein einziger Quatsch.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon ujmp » Di 30. Jul 2013, 19:57

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Und damit man überhaupt eine testbare Prognose aus einer Hypothese ableiten kann, muss sie logisch falsifizierbar sein, es muss Aussagen geben, die ihr logisch widersprechen.

Theorien werden natürlich verifiziert/falsifiziert, nur widerlegen eben einzelne falsche Sätze nicht die Theorie. Darum geht es.
Fällt ein Segment, wird eben einfach nachgebessert, ohne dass man gleich die Theorie verwirft.
Irgendwann wenn 80% der Kernidee verworfen sind, stellt sich schon die Frage, ob das ursprünglich Gemeinte noch immer gemeint ist, oder ob man nicht die ganze Theorie verwerfen sollte. Im Falle der PA haben sich Begriffe konkretisiert und die PA ist Therapie der Wahl für Psychoneurosen und was bei Freud früher unter „Hysterie“ lief, zerfällt heute in mehrere eigene Krankheitsbilder.
Aber wir benutzen Begriffe wie „Materie“ oder „Atom“ ja auch noch ja auch noch, obwohl wir heute was völlig andere damit meinen, als die alten Griechen. Niemand würde aufgrund der eklatanten Bedeutungsverschiebungen fordern, man solle die Physik abschaffen.

Ok, nur würde heut niemand auf die Idee kommen zu sagen "Die Griechischen Atomisten hatten also doch recht", weil man heut unter dem selben Wort nämlich etwas anderes versteht.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon Vollbreit » Di 30. Jul 2013, 21:55

Ja, das war's, was ich damit ausdrücken wollte.
Hysterie meint heute auch was anderes.

Damit ist man beim Problem der Inkommensurabilität angekommen.
Ist es legitim im Lichte der heutigen Theorie ein früheres (evtl. ganz anderes) Modell oder einen Begriff zu kritisieren, oder sind die vielleicht so weit voneinander entfernt, dass beide nichts mehr miteinander zu tun haben und man Äpfel mit Birnen vergleicht?
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon laie » Mi 31. Jul 2013, 08:49

Die These von der Inkommensurabilität zweier Theorien ist zwar eine These, aber bisher sieht es nicht so aus, dass sie grundsätzlich falsch ist. Die wisssenschaftstheoretische Technik, zwei Theorien miteinander kommensurabel zu machen, heisst Reduktion. Wenn es gelingt zu zeigen, daß die eine Theorie auf die andere reduziert werden kann, dann sind die beiden Theorien kommensurabel. Tatsächlich gibt es bisher nur eine Handvoll Fälle, in denen es gelungen ist, zwei Theorie logisch aufeinander zu reduzieren.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon Vollbreit » Mi 31. Jul 2013, 10:32

... und lass mich mal raten, es werden keine Theorien des Bewusstseins dabei gewesen sein.
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Re: Todestrieb und Evolution

Beitragvon laie » Mi 31. Jul 2013, 11:54

nein, es waren keine Theorien des Bewusstseins dabei, nur die üblichen Verdächtigten, als da wären:

- Kartesischen Stoßmechanik auf die Newtonsche Teilchenmechanik
- Keplerschen Planetarischen Theorie auf die Newtonsche Teilchenmechanik
- Geometrischen Optik auf die Wellenoptik
- Wellenoptik auf die Klassische Elektrodynamik
- Newtonschen Partikelmechanik auf die Relativistische Teilchenmechanik
- Mendelschen Genetik auf die Molekularbiologie

(aus: Carlos Ulises Moulines, 2002 "Einheit des Seins, Einheit der Wissenschaft". In: D. Rippl, E. Ruhnau (eds.) Wissen im 21.
Jahrhundert, Komplexität und Reduktion, (Wilhelm Fink Verlag) München, 2002, 27-38.)

Nochmal: nur in diesen Fällen ist eine Reduktion bisher gelungen, die auch wissenschaftstheoretischen Ansprüchen wenigstens ansatzweise genügt. Alle anderen Reduktionen sind Wunschträume. Die Wissenschaft als ganzes folgt damit keineswegs einem linearen Fortschrittspfad, so scheint es jedenfalls. Es ist nicht so, dass wir zu der Aussage, wir wissen immer mehr, berechtigt sind. Hinsichtlich der Bewertung unseres Wissen mit dem von früher tappen wir weitgehend im Dunkeln.

Mir ist klar, dass diese Einschätzung nur von wenigen geteilt wird. Wie gesagt: die meisten Fachwissenschaftler sind keine Wissenschaftstheoretiker und sehen die Probleme überhaupt nicht, die auftreten, wenn man behauptet, eine Theorie A sagt mehr als eine Theorie B. Es ist ja nicht so, dass die Forderung der strengen Ableitbarkeit der Begriffe der Theorie A aus den Begriffen der Theorie B - eine Voraussetzung unter anderen, um B auf A zu reduzieren - einfach mal so, mir-nichts-dir-nichts erfüllbar wäre. Daß Licht-Teilchen woanders Licht-Wellen sind und dabei über dasselbe Phänomen reden, ist alles andere als selbstverständlich. Streng genommen muss man auf die strenge logische Ableitbarkeit sogar verzichten, um wenigstens halbwegs die Illusion des "Mehr-Wissens" aufrecht erhalten zu können. Und hier sind wir noch nicht einmal zu der Frage vorgestossen, ob man die Funktionsbegriffe von B auf A reduzieren kann, geschweige denn die Gesetzesaussagen beider Theorien, sondern haben es "nur" mit "dummen Individuenbereichen" zu tun. Daher schrieb ich oben auch, dass es bisher nur in wenigen Fällen ansatzweise geglückt ist, zu reduzieren.

Die allermeisten Fachwissenschaftler vor allem in den Naturwissenschaften haben immer noch ein Verständnis von Wissenschaft wie es vielleicht Popper hatte oder noch andere vor ihm, Comte z.B. Das soll kein Vorwurf sein, sondern ist nüchterne Beschreibung des wissenschaftlichen Alltags und Arbeitsteilung. Man kann nicht alles wissen. Man sollte sich aber darüber klar sein, dass der Positivismus eine Ideologie ist.
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