Nanna hat geschrieben:Du hast damit doch gerade in toto meine Position bestätigt. Ein "original Nanna" kann nämlich, wie du selbst sagst, nur etwas sein, was wirklich fundamental neu ist, was noch nie jemand vor mir gedacht hat.
Nein, genau das habe ich nicht gemeint.
Du brauchst, um ein Original zu sein, eben nicht fundamental Neues zu liefern, es reicht die Mischung. Bei der Sprache wird das deutlicher. Einerseits benutzen wir alle die mehr oder weniger gleichen Begriffe, überschaubar in der Zahl, nach den gleichen Regeln, noch überschaubarer und dennoch ist nahezu jeder längere Satz, der von einem Menschen geäußert wird, zum ersten Mal in der Geschichte des Universums so geäußert worden, das hat Chomsky untersucht.
Mein letzter Satz ist so noch nie geschrieben worden, aber ich habe keine Neologismen verwendet oder neue Regeln erfunden.
Nanna hat geschrieben:Beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Menschheit ist es zwar unwahrscheinlich, dass das überhaupt noch möglich ist, aber irgendwann in der Geschichte gab es fundamentale Neuheiten - Abstraktionen die auf keinerlei Diskurs aufbauten.
Ach, das ist viel leichter möglich, als man denkt. Man ist oft so in Gewohnheiten erstarrt, dass man gar nicht auf die Idee kommt, es könnte noch anders gehen.
Dabei ist nicht mal unsere Logik gesetzt. Sie könnte vollkommen anders sein.
Was Brandom neu macht, ist, dass er den inferentiellen Ansatz wiederbelebt, den schon Leibniz gebrauchte, der aber völlig vergessen wurde.
Dadurch kommt es zu Infragstellungen von Bereichen, die wir gar nicht infrage stellen würden, z.B. den (philosophischen) Referenzialsimus, dem Brandom eine krachende Absage erteilt.
Wir sind aber so gewohnt, dass der Referenzialismus wahr und richtig ist, dass wir ganz verstört sind, wenn er nicht bedient wird.
Kurz und vielleicht zu vereinfachend gesagt: Bei der Frage nach der Wahrheit ist es nicht richtig und wichtig, irgendwo „da draußen“ nach Tatsachen zu suchen, die den wahren Gehalt einer Aussage bestätigen (könnten). Die berühmte Korrespondenz, die den Satz: „Schnee ist weiß, ist wahr“ wahr sein lässt, liegt nicht in der Weißheit des Schnees, denn diesen „weiß“ zu nennen ist nur eine sprachliche Übereinkunft. Zu verstehen, dass und warum es richtig ist, ihn weiß zu nennen, heißt, inferentiell schließen zu können, von der Ähnlichkeit, eines leeren Blattes Papier, über ein Blütenblatt und einen Schwan, zum Schnee. Der springende Punkt ist die soziale Richtigkeit, die angemessene Begriffsbenutzung, nicht (allein, aber auch) die Fähigkeit „weiß“ sensuell erkennen zu können.
Und hier zeigt sich, dass einen Begriff zu kennen, heißt, einen Satz zu kennen und das eine Sprache (oder mindestens breitere sprachlich-logische Cluster zu kennen). Hier treffen sich Wittgenstein, Quine, Davidson und Brandom. Das Komplexe erschließt sich nicht aus dem Einfachen, sondern das Verstehen des Einfachen (eines Begriffs) setzt das (mindestens) implizite Verstehen eines breiten Musters bereits voraus.
Das geht nicht leicht konform mit dem Naturalismus.
Nanna hat geschrieben:Und die waren dann eben genuine Erfindungen dieser Menschen. Alles andere danach war ein Remix, der sicher nicht weniger Kreativität erforderte, für den diese Leute aber nicht mehr die reine Urheberschaft beanspruchen konnten (deshalb schreibt man bei Musikstücken ja auch sowohl dazu, wer der ursprüngliche Interpret war und wer den Remix gemacht hat).
Ja, aber auch der ursprüngliche Interpret hat nur (bei uns) banale Dur und moll Tonleitern mit recht gewöhnlichen Rhythmen kombiniert, herausgekommen sind Meisterwerke. Beethoven hat keine Töne neu erfunden.
Nanna hat geschrieben:Nun sagst du ja selber, dass das Christentum in weiten Teilen ein Bastard ist - und ja, das ist ein Streitthema, denn laie und stine behaupten hier, dass unsere Gesellschaft vom Christentum durchdrungen ist.
Das würde ich auch behaupten, klar.
Nanna hat geschrieben:Wenn aber das Christentum selber wieder nur ein Behälter für die Synthese vorchristlicher Inhalte ist, dann ist nur christlich, was exakt den christlichen Themenmix beinhaltet - und das tut unsere Gesellschaft nicht mehr, sorry, nichtmal ansatzweise.
Doch natürlich breitesten Teile der Gesellschaft sind christlich geprägt vom Grundgesetz, an das sich immerhin noch jeder halten muss, bis zu vielen unausgesprochenen Annahmen in der Gesellschaft.
Warum sind wir denn gegen Polygamie, haben so merkwürdige Leistungsideale, warum wollen wir „gute“ Menschen sein? Der zentrale Begriff der Menschenwürde stammt aus dem Christentum und vieles mehr. Bei Fragen der Euthanasie, der Bioethik usw. ragt das noch mit hinein.
Ich glaube, dass die meisten doch Probleme hätten, wenn man die Totenruhe ihrer Eltern stört, wobei „objektiv“ gesehen sind die tot, die stört es am allerwenigsten, wenn man sie ausbuddeln mit mit ihren Gebeinen Schlagzeug spielen würde. Ich würde es pietätlos finden, aber das ist wohl nur meine kulturelle Prägung. Auch kulturelle Tabus sind wesentlich christlich geprägt, natürlich kann man die nicht so leicht erkennen.
Ich bestreite andere Wurzeln in keiner Weise, aber dass das Christentum Europa dominant und nachhaltig geprägt hat, scheint mir keine größere Frage zu sein. Vermutlich kann man das mit dem Blick von Innen aber kaum wahr nehmen.
Nanna hat geschrieben:Deshalb ist das Label "christlich" für unsere Gesellschaft so zutreffend wie das Label Orangensaft für eine Tasse Weihnachtstee - auch wenn in beidem was drin ist, was in seinem früheren Leben mal eine Orange war.
Also, wie gesagt, ich kriege bei dem Begriff „christlich“ weder Schaum vorm Mund, noch leuchtende Augen. Ich finde sakrale Bauten und Kunst im Allgemeinen sehr schön und bin davon beeindruckt, welche Sorgfalt und wieviel Energie Menschen dafür aufgebracht haben, um ihren Gott oder ihre Götter zu ehren und damit auch ein ideales Ziel verehren.
Ich bin überzeugt, dass es gut ist, wenn Menschen Energien investieren, die über ihre persönlichen und alltäglichen Bedürfnisse und Befindlichkeiten hinausgehen. Zum einen für die Gesellschaft, zum anderen für das eigene Wohlbefinden. Die Kandidaten lauten da m.E. auch Kunst, Liebe, Politik, Philosophie, Wissenschaft, Religion und Mystik. Eben auch Religion. Das ist kein Zwang die Kunst täte es auch, warum der eine dahin geht und der andere dorthin, weiß ich nicht.
Wer käme auch die Idee die Wissenschaft oder Medizin abschaffen zu wollen, weil es KZ Ärzte oder Wissenschaftler unterm Hakenkreuz gab? Keine Sparte hat in dieser Zeit eine gute Figur gemacht, man kann das immer nur vom einzelnen oder kleinen Gruppen her betrachten.
Klar, kann und muss man an dem Gemetzel der Kreuzzüge alles Mögliche kritisieren, aber alles in allem ist das eine komplexe Geschichte.
Die Hexenverfolgungen sind willkürliche Gräueltaten, aber wenn bspw. Heinsohns Analyse stimmt, dann hat Europa seinen rasanten Aufstieg zum nicht unwesentlichen Teil einem Jahrhunderte währenden youth bulge zu verdanken, der eine Folge des klerikalen Abtreibungsverbot mit der Folge der Todesstrafe war. Gewiss keine gute Sache, doch den Aufstieg Europas zu beweinen kann es auch nicht sein wollen wir doch gerade die europäische Lebensart retten, wie mir scheint.
Wie so oft liegt im Schlechten das Gute und umgekehrt. Alles schwarz/weiß zu sehen, ist ein christliches Erbe, was man hingegen wirklich hinter sich lassen könnte.
Aber was, wenn wir mit unserem Wissenschafts-, Technologie- und Fortschrittsdenken, manche würden sagen –wahn, nun wirklich die Erde zugrunde richten, so dass nicht mal mehr Nachkommen blieben, die fragen könnten, warum wir das zugelassen haben?
Näher an der gesamten Zerstörung unserer Lebensgrundlage als Heute , waren auch die ärgsten Kreuzritter nicht. Man kann – und muss – sagen, es waren nicht so viele und sie hatten nicht die technischen Möglichkeiten, gewiss, aber gerade wie wir mit unserem technischen Möglichkeiten umgehen, lässt Sorgenfalten auf so mancher Stirn erscheinen.
Es hat ja seinen eigenen fragwürdigen Charme, wenn wir die Filtertechnologien feiern, mit denen wir den Dreck in der Welt ansatzweise beseitigen können, den die Technisierung überhaupt erst produziert hat.
Ob hier wirklich immer mehr vom Selben des Rätsels Lösung ist, da kann man prinzipielle Zweifel haben, aber hier tut eine Aufrüstung des Bewusstseins sicher an erster Stelle not.
Wenn eine m.E. notwendige Hinwendung zu Tugenden über einen christlichen Weg geht, hätte ich weniger dagegen, als einer weiteren Regression zuzuschauen. Die Gesellschaft des Fortschritts bietet aus psychologischer Sicht ein eher erschreckendes Bild, ängstlich, depressiv, entsolidarisiert und zunehmend egozentrisch. Ich würde einem verhungernden Menschen ja auch kein pappiges Weißmehlbrot mit Gentech-Hefe verweigern, weil Bio-Vollkornbrot besser ist und man, wenn, nur das essen sollte. Es muss allerdings auch nicht über Religionen gehen, aber eine religiöse Ader ist im Menschen wohl vorhanden, warum nicht diese nutzen?